Nun also das: Nachdem die Schwulenliteratur lange Zeit rund ums Thema Coming-out kreiste, dann vielfach als Pornoersatz diente, kam in den Neunzigerjahren die Welle der Aids-Romane. Diese scheint nun abgelöst zu werden von einem neuen Trend, nämlich Geschichten rund um die Partydroge Crystal Meth.
Dieser Trend kündigte sich schon vor ein paar Jahren an mit dem grandiosen Buch "Portrait of the Addict as a Young Man" von Bill Clegg, auf Deutsch beim Fischer Verlag erschienen als "Porträt eines Süchtigen als junger Mann" (Amazon-Affiliate-Link ). (Wobei die Anspielung auf James Joyce leider etwas verwässert wird.) Nun kommt – nach der britischen Crystal-Doku "Chemsex" und nach Spielfilmen wie "Keep the Lights On" – ein neuer Schub. Anfang des Jahres veröffentlichte der ehemalige Cazzo-Star Rick Hollander ("Unter Männern) seine Autobiografie "TINA: Mijn affaire met Crystal Meth" (Amazon-Affiliate-Link ) unter seinem richtigen Namen Rick Verhagen. Und soeben ist in Großbritannien das neue Buch des Ex-Soldaten und Kolumnisten James Wharton herausgekommen: "Something for the Weekend. Life in the Chemsex Unterworld" (Amazon-Affiliate-Link ).
Die Schwulenszene als "schrecklicher Ort"
Dieses 260-Seiten-Buch ist insofern besonders spannend, weil der Autor durch seine exzellenten Kontakte in die UK-Medienszene dazu etliche große Interviews gab, in denen er – wie auch im Buch selbst – fordert, dass die LGBTI-Community mehr Mitgefühl zeigen sollte gegenüber Crystal-Nutzern, statt sie auszugrenzen. In seinen Worten ist die Schwulenszene heute "ein ziemlich schrecklicher Ort" ("a fucking horrible place"), wo Männern vor lauter Verzweiflung kaum etwas anderes übrig bliebe als zu Drogen zu greifen, um den Schmerz zu lindern. Und deshalb sollten sich alle anderen solidarisch zeigen und diesen Männern helfen. Soweit jedenfalls erst mal Wharton. Bei was genau geholfen werden soll, sagt er nicht.
Aber er schildert die Lage so: Als er vor zirka zehn Jahren erstmals in die Schwulenszene kam und in Bars ging, gab es dort noch Augenkontakt und menschliche Interaktion. Heute ist es so, dass alle nur mit ihren Mobiltelefonen sprechen und mit anderen ausschließlich über Apps wie Grindr und Scruff kommunizieren. "Jeder will ausschließlich den Punkt erreichen, wo er jemand anderen ficken kann. Jeder will nur Fotos von deinem Schwanz sehen. Niemand interessiert sich dafür, was du sonst im Leben tust, wo du arbeitest usw. Sie wollen auch nicht wissen, woher du kommst. Sie wollen mit dir keinen netten Abend verbringen. Sie wollen nur wissen ob du Top oder Bottom bist. Und ob du auf der Durchreise bist oder eine Wohnung hast." Dies teilte Wharton der britischen Zeitschrift "Attitude" in der Septemberausgabe mit. Und fügte hinzu: "Ich finde das traurig."
Heimatgefühle in der Chemsex-Szene?
James Whartons Auobiografie "Something for the Weekend. Life in the Chemsex Underworld" ist Ende Juli in Großbritannien erschienen
Im Buch versucht er die Entwicklung detaillierter zu erklären: Weil das Ausgehleben so teuer geworden sei in London nach der letzten Wirtschaftskrise, hätten viele Männer entdeckt, dass es preisgünstiger sei, zuhause zu bleiben und selbst Partys zu organisieren, wo es statt teuren Alkohols im Pub billige Drogen gäbe, die fürs ganze Wochenende reichten. So habe sich eine neue Chemsex-Szene entwickelt, die vielen Menschen ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit geboten habe. Bis sie dann feststellen mussten, dass das mit der "Geborgenheit" eine ziemlich zweischneidige Sache ist wenn man zum dysfunktionalen Zombie geworden ist, der nicht mehr arbeiten kann, keine sozialen Kontakte mehr pflegen kann und nur noch von einem Crystal-Schuss zum nächsten lebt.
Vor einigen Jahren hat mir ein Journalistenkollege von der Deutschen Aids-Hilfe mit felsenfester Überzeugung erklärt, dass die ganze Crystal-Thematik ein auswärtiges Problem sei und dass Schwule in Deutschland, inklusive Berlin, davon nicht nennenswert betroffen seien. Das hat mich damals erstaunt, weil ich direkt aus Amsterdam kam und dort feststellen durfte/musste, dass die Chemsex-Kultur verbunden mit der Bareback-Szene (und verbunden mit allen daran geknüpften sexuell übertragbaren Krankheiten) allgegenwärtig ist. Sollte es möglich sein, dass gleich um die Ecke in Deutschland dies alles kein Thema ist? Ich hatte meine Zweifel.
Wie diverse große Reportagen in "Siegessäule" und anderen queeren Magazinen jüngst belegt haben, ist das Thema inzwischen definitiv hier angekommen. (Vielleicht hat nur bei der Aids-Hilfe noch niemand etwas davon gemerkt?)
Szenesterben und Diskriminierung sind nur vorgeschoben
Mit seiner Beobachtung zur schwulen Ausgehszene und Kommunikation via Apps hat Wharton sicher recht. Auch ich trauere manchmal den alten Ausgehzeiten mit Bars und Augenkontakt-Cruising hinterher. Deshalb verfalle ich allerdings nicht zwangsläufig in Depressionen. Und es gibt auch heute andere Möglichkeiten des Miteinanders, falls man mehr will als Top/Bottom-Gespräche.
Genauso zwiespältig liest sich für mich der Hinweis, wie schwer es junge Schwule heute haben – so schwer, dass ihnen nur die Flucht in die Drogenwelt bleibt? Zwar geben mehr LGBTI-Menschen als je zuvor an, sich "diskriminiert" zu fühlen. Allerdings ging es Schwulen (vermutlich auch Lesben, trans Menschen oder Bisexuellen) rein rechtlich noch nie so gut wie heute. Manche Dinge, die heute als Diskriminierung gelten, wären mir selbst als junger Mann in den Siebziger- und Achtzigerjahren vermutlich gar nicht aufgefallen. Weil sie damals so allgegenwärtig und "normal" waren.
Damit möchte ich nicht sagen, dass sie nicht trotzdem verletzend sein können oder man sich darum bemühen sollte, etwas dagegen zu tun. Aber wenn sich Schwule in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Alkoholräusche und ähnliches flüchteten, weil die sozialen Realitäten so schrecklich waren, dann sind diese Realitäten 2017 definitiv in einem Land wie Deutschland (oder England oder den Niederlanden) nicht mehr auf einem vergleichbaren Horrorniveau. Warum dann trotzdem diese "Flucht", nach wie vor?
Drogengebrauch aus Langeweile
Wenn man Whartons Buch liest, stellt man fest, dass ein zentraler Punkt Langeweile ist. Er weiß teils nicht, was er mit seinem Leben machen soll. Er weiß aber, dass er geilen Sex haben will. Und auf dem Weg dorthin kommen die Partydrogen und die Sexpartys ins Spiel. Ob sein Wunsch nach echter zwischenmenschlicher Kommunikation (und Augenkontakt) ernsthaft eine Überlegung bei dieser Jagd nach dem ultimativen Sexkick war? Er schreibt selbst, dass die Drogen Crystal und GHB ihm geholfen hätten, seine Hemmungen zu überwinden und sich total der Ekstase hinzugeben.
Wie steht's da mit "Mitgefühl" und mit der Community-Verpflichtung zur Sorge für und Solidarität mit der Chemsex-Gemeinde? Wissen junge Männer wie James Wharton (26 Jahre) nicht, worauf sie sich einlassen, wenn ihnen jemand Crystal oder GHB anbietet? Lesen sie keine Zeitung, schauen sie keine Dokus, hören sie keine Geschichten von Freunden? Haben sie keine Eigenverantwortung? Und was könnte, realistisch, eine "Community" tun um zu helfen?
Dass Wharton nach der Trennung und Scheidung von seinem Mann traurig war und sich schwer damit tat, in die Schwulenszene zurückzufinden, nach längerer Abwesenheit, kann ich nachvollziehen. Aber rechtfertigt das bei ihm und vielen vergleichbaren Fällen das Abdriften in eine Parallelwelt, aus der ihm Solidarität und Mitgefühl raushelfen sollen, nachdem es zum Total-Crash gekommen ist und nichts mehr geht?
Warnung statt Solidaritätsschrei
Rick Verhagen sieht seine Rolle in diesem Drogendrama deutlich selbstkritischer. Er beschreibt, wie er eher zufällig bei einem Pornodreh für Catalina in Los Angeles mit Crystal in Kontakt kam und wie das dann nach und nach sein Leben ruinierte. Sein Buch hat er nicht als "Solidaritätsschrei" geschrieben, sondern als "Warnung für andere", wie schnell und unverhofft sich eine Drogenkarriere entwickeln kann. An die sprachliche Brillanz von Wharton kommt Verhagen nicht heran, dafür ist er frei von diesem selbstmitleidigen Community-Tonfall. (Gibt es überhaupt eine Community, in Zeiten wo alle nur über Dating-Apps miteinander kommunizieren, wie Wharton sagt?)
Auf alle Fälle legen beide Autoren ihre Finger in eine Wunde, die von deutschen Magazinen bislang eher unscharf ins Visier genommen und nicht wirklich mit letzter Konsequenz ausgeleuchtet wurde. Und auf den deutschen Roman bzw. auf die deutsche Autobiografie zum Thema müssen wir vermutlich auch noch warten. Bis dahin ist das Wharton-Buch eine spannende, teil Nerv tötende, teils provozierende, stets zum Nachdenken anregende Lektüre. Zu der ich mir ein deutsches Äquivalent wünschen würde.
Infos zum Buch
James Wharton: Something for the Weekend. Life in the Chemsex Underworld. Autobiografie. 320 Seiten. Biteback Publishing. London 2017. Taschenbuch ab 7,91 € bei amazon.de (ISBN: 9781785902291), Ebook ab 9,16 € (ISBN: 97817859023839)
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schon mitte der 90er jahre wurde die nase über die "barebacker" gerümpft, aber nachts und mit genug alk und drogen, da konnte man dann doch viele spießer, getrieben von lust, ins "kamikaze"-pornokino schleichen sehen.