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Biografie
Schauspielerin, Betrügerin, Lesbe
Das neue Buch "Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten" erzählt von einer kriminellen Karriere im 19. Jahrhundert.
- 12. November 2017, 05:57h 5 Min.

Die lesbische Adele Spitzeder war die Strippenzieherin bei dem wohl größten Bankenbetrug aller Zeiten
Im Jahr 1872 wird mitten im katholischen München eine homosexuelle Liebe öffentlich. Adele Spitzeder liebt Rosa Ehinger nicht nur, sie teilen auch Tisch und Bett. Als wäre das nicht pikant genug, ist Adele Spitzeder auch noch für einen Bankrott verantwortlich, der seinesgleichen sucht und sie und Rosa vor Gericht bringt. Nun ist mit "Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten" ein lesenswertes Buch erschienen, das das Leben der Adele Spitzeder erstmalig beleuchtet.
"Brust an Brust?" fragte der Gerichtspräsident, als er wissen wollte, ob und wie Adele mit ihren Freundinnen denn geschlafen hätte. Gegenstand der Gerichtsverhandlung im Frühjahr 1873 war zwar eigentlich gar nicht die homosexuelle Beziehung zweier Frauen. Aber dass Adele Spitzeder, angeklagt wegen Betrugs und Bankrotts, relativ öffentlich und allgemein bekannt ein reges lesbisches Liebesleben geführt hatte, erhitzte dann doch die Gemüter und beschäftigte die Phantasie.
Nun beleuchtet erstmals das neue Buch "Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten" (Amazon-Affiliate-Link ) ihr Leben genauer. Aufgewachsen in Wien, spielt sie am liebsten mit den Nachbarsjungen, während sie "jeden weiblichen Umgang hasste", wie sie später ganz offen bekennt. Sie kommt nach München, bekommt Schauspielunterricht und tritt damit in die Fußstapfen ihrer Eltern. Adeles Liebesleben aber ist ein Trauerspiel. Auf den Offiziersbällen, den Datingplattformen des 19. Jahrhunderts, entdeckt sie die Lust am Tanzen, aber nicht die Lust an den Männern. Im Jahre 1857, Adele ist gerade 25, beginnt ihre Tournee-Zeit. Sie gibt Gastspiele an den Residenztheatern Deutschlands, auch in der Schweiz. In Brünn, im damals österreichischen Mähren, verliebt sie sich in Josefine Gallmeyer, eine heißblütige junge Schauspielerin. Die Liebe währt nur kurz. Josefine ist wankelmütig und untreu. Adele verlässt Brünn wieder.
Ihre Theaterkarriere verläuft wenig glamourös. Ein festes Engagement bekommt sie nirgends. Sie selbst meint, das liege an ihrem großen Talent, weshalb die anderen immer gegen sie intrigierten. Andere schieben es auf mangelnde Begabung. Sie versucht eine Stellung in Baden-Baden zu bekommen, scheitert aber und verliert dort ihr letztes Geld. Jedoch gewinnt sie eine Freundin, Emilie, mit der sie nach München zurückkehrt. Beide teilen sich ein Zimmer im Hotel Deutsches Haus, denn zur Mutter zurück kann sie nicht, ohne die Bettgemeinschaft aufzugeben. Und hier im Hotel beginnt die kriminelle Karriere der Adele Spitzeder, die sie ein paar Jahre später vor Gericht bringen wird. Denn so untalentiert kann sie nicht gewesen sein. Es gelingt Adele nämlich, Arbeiter und Handwerker zu überzeugen, ihr die Ersparnisse anzuvertrauen. Sie lockt sie mit dem auch für damalige Zeiten irrsinnigen Zinsversprechen von zehn Prozent pro Monat. Das lockt natürlich. Und weil immer neue Anleger kommen, die Adel ihr Geld förmlich aufdrängen, funktioniert das System auch. Adele hat soeben das Schneeballsystem erfunden.
Geldgeberin und wichtiger Wirtschaftsfaktor

"Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten" ist am 13. November 2017 im Münchner FinanzBuch Verlag erschienen
Die Münchner Neuesten Nachrichten kamen ihr aber auf die Schliche und schrieben, dass sich im Hotel Deutsches Haus "zwei Schwindlerinnen befinden, welche den Leuten das Geld aus der Tasche holen". Aber die Gier der Anleger ist stärker als die Vernunft. Adele und Emilie teilen sich das Hotelzimmer und die Arbeit. Ihre kleine Privatbank läuft gut, ihre Beziehung weniger. Es kommt zum Zerwürfnis. Ein lautstarker Streit, Emilie verlässt Hals über Kopf das gemeinsame Domizil. Die Ursache ist bis heute unklar. Adele hat Liebeskummer, sperrt sich ein, und kann nur durch eine Menge wartender Anleger, die ihr das Geld förmlich aufzwängen, zum Weitermachen überzeugt werden. Schon bald kann sie es sich leisten, ein eigenes Haus zu kaufen und eröffnet in der Schönfeldstraße 9, unweit des Englischen Gartens ihre Privatbank A. Spitzeder. Sie möchte aber nicht alleine bleiben und sucht in Zeitungen nach einer Gesellschafterin, der damals wohl übliche Code für Lebensgefährtin. Eine Französin antwortet, die den Code aber wohl nicht verstanden hat. Jedenfalls ist dieses Zwischenspiel schnell beendet. Aber nebenan zieht Familie Ehinger ein und deren Tochter Rosa, gerade 21 Jahre alt, ist neugierig. Schon bald wohnt sie bei Adele, die ihr nicht nur die Schauspielerei beibringt.
Die Beziehung war offenkundig. Die Öffentlichkeit hielt sich aber zurück, zu wichtig war Adele Spitzeder mittlerweile als Geldgeberin und Wirtschaftsfaktor. Sie stiftete Kirchtürme, spendete für Kriegswaisen und eröffnete eine Armenspeisung. Der Engel der Armen wurde sie in Predigten genannt. Die Zeitungen schreiben über ihre Neigung zum Zigarrenrauchen, über ihre harten, fast männlichen Gesichtszüge und dass sie alle weiblichen Reize bewusst verstecke. Eingeweihte wussten es zu deuten.
Wie jedes Schneeballsystem ging auch die Privatbank der Adele Spitzeder ihrem natürlichen Ende entgegen. Am 12. November 1872 wird Adele Spitzeder verhaftet, gemeinsam mit Rosa, mit der sie sich zunächst sogar die Gefängniszelle teilen darf. Dann aber werden sie getrennt, Rosa sieht die Chance, als Kronzeugin mit einem milden Urteil davonzukommen, was auch gelingt. Am Ende muss nur Adele ins Zuchthaus und sitzt insgesamt drei Jahre und zehn Monate in Haft.
Rosa hat in der Zwischenzeit geheiratet, wie auch Emilie, ihre erste Lebensgefährtin. Adele stirbt einsam und verarmt im Jahr 1895. Sie ist anonym auf dem Alten Südlichen Friedhof Münchens bestattet. Der von ihr angerichtete Schaden war immens, in heutiger Kaufkraft über 100 Mio Euro. Mehr als 30.000 Menschen hatten ihr Geld verloren. Bei den meisten war es nicht viel, aber eben alles, was sie hatten. (cw/pm)
Julian Nebel: Adele Spitzeder – Der größte Bankenbetrug aller Zeiten. Biografie. 176 Seiten. 13,9 x 21,6 cm. FinanzBuch Verlag. München 2017. 17,99 €. ISBN: 978-3-95972-048-9

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Dieser lapidare Satz verharmlost, dass das damals (1872, als die Dame verurteilt wurde) für viele Geschädigte das absolute finanzielle Aus bedeutete - denn die soziale Hängematte war noch nicht erfunden.
Wie die SZ schreibt, folgte auf Spitzeders Insolvenz eine Welle von Selbstmorden - mutmaßlich insbesondere von "kleinen Leuten", die der Dame mangels finanzieller Kenntnisse ihre gesamten Ersparnisse anvertraut hatten.
Den Aspekt, dass Spitzeder vor allem eine skrupellose und zynische Betrügerin war, sollte man vor lauter lesbischem Biografie-Klein-Klein nicht aus den Augen verlieren.