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Kinostart
Die Zeit, als wir Schwulen im Krieg waren
Ab Donnerstag im Kino: Der französische Spielfilm "120 BPM" ist ein authentisches, herausragendes und tief bewegendes Denkmal für die Aids-Aktivisten von ACT UP.

"120 BPM" wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit dem Großen Preis der Jury, dem FIPRESCI-Preis sowie der Queer Palm ausgezeichnet (Bild: Edition Salzgeber)
29. November 2017, 05:06h 3 Min. Von
Vielleicht hätte ich diesen Film nicht allein schauen sollen. Noch'n Aids-Drama, hatte ich gedacht. Ich war nicht vorbereitet auf diese Zeitreise zum Beginn der Neunzigerjahre. Auf dieses Wechselbad der Gefühle. Auf das Wachrufen längst verdrängter Erinnerungen an unser Leben und Sterben im Krieg.
"120 BPM" handelt von einer schwulen Liebe bei ACT UP Paris, der AIDS Coalition to Unleash Power. "Aids, das ist Krieg! ACT UP, und siegt!" Die 1987 gegründete Bewegung war besonders stark in den USA und Frankreich. Während Rita Süssmuths vernünftige Politik eine vergleichbare Radikalisierung in Deutschland verhinderte, versagte die linke Regierung unseres Nachbarlands auf dem Höhepunkt der Aids-Krise. "Mitterrand! Mörderbrut! An deinen Händen, da klebt Blut!"
Junge Menschen, die einfach leben wollten

Poster zum Film: "120 BPM" startet am 30. November in deutschen Kinos
ACT UP, das waren Helden und Vorbilder, Ausgestoßene und Todgeweihte. Menschen, die nichts zu verlieren hatten, und deshalb um so mehr erreichten. Medizin-Experten im Selbststudium. Aktivisten aus der Not. Polit-Clowns zum Knuddeln. Fake-Leichen, Podiums-Stürmer und Theaterblut-Schmeißer. Kompromisslose Fundis, die das Reden satt hatten. Mahner und Visionäre. Junge Menschen, die einfach leben wollten.
"Wir betrachten Aids wie einen Krieg. Ein für andere unsichtbarer Krieg. Unsere Freunde sterben. Wir wollen nicht sterben. In jedem Krieg gibt es Verräter. Bei Aids ist das auch so. Viele betrachten die Epidemie als Gelegenheit, um Schwule, Junkies, Prostituierte und Gefangene umzubringen in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Viele nutzen sie, um Hass und Diskriminierung aufleben zu lassen."
Die Wut. Die Angst. Die Trauer. Die Hilflosigkeit. Die Hoffnung. Der Mut. Die Kraft in der Gemeinschaft. Die Enttäuschung über die ignoranten Schwulen in der Community, die an Aids nicht erinnert werden wollen. Der Spielfilm "120 BPM" zeigt und weckt all diese Gefühle authentischer als es eine Dokumentation je könnte.
Eine Liebe ohne Aussicht auf ein Happy-End
Das liegt zum einen daran, dass Regisseur Robin Campillo Anfang der Neunzigerjahre selbst bei ACT UP Paris dabei war. Sein 144 Minuten langer Film übertreibt an keiner Stelle. Die teils nervigen und ermüdenden Diskussionen, die kontroversen Aktionen, die heute unvorstellbare Ausgrenzung, die persönlichen Dramen – ja, genauso war es!
Doch vor allem mit der Liebesgeschichte zwischen Nathan und Sean packt Campillo die Zuschauer. Mit einer Liebe auf Zeit, ohne Zukunft und ohne jede Aussicht auf ein Happy-End. Nathan ist HIV-negativ, Sean an Aids erkrankt. Sie lassen sich trotzdem darauf ein. (Spoiler folgt:) Die letzten 20 Minuten sind die härtesten des Films, doch am Ende fasst man doch wieder neuen Mut. Weil mit Seans Asche weiter gekämpft wird…
"120 BPM" ist ein herausragendes, wirklich tief bewegendes Denkmal für ACT UP! Die überfällige Erinnerung an die wichtigste Schlacht in unserem Krieg gegen ein heimtückisches Virus, gegen ignorante Politiker und profitgeile Pharmabosse, der viel zu viele Opfer forderte. Aber auch der weise Rat mit einem Vierteljahrhundert Abstand, selbst in scheinbar aussichtlosen Situationen niemals den Mut zu verlieren oder seine Utopien aufzugeben.
"Wir bekämpfen die Epidemie seit 1989 durch unsere unermüdliche Präsenz an allen Fronten. Wir vereinen unsere Kräfte, um der Epidemie zu trotzen und den durch sie verursachten Tragödien und sozialen Problemen. Zusammen können wir eine Gemeinschaft aufbauen, die der Krankheit positiv und kampfbereit gegenübertritt. ACT UP Paris betrachtet Aids als eine Herausforderung! Nehmt sie zusammen mit uns an!"
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120 BPM. Drama. Frankreich 2017. Regie: Robin Campillo. Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz, Félix Maritaud, Ariel Borenstein, Aloïse Sauvage, Simon Bourgade, Médhi Touré, Simon Guélat, Coralie Russier, Catherine Vinatier, Théophile Ray, Jérôme Clément-Wilz, Jean-François Auguste, Saadia Bentaieb. Laufzeit: 144 Minuten. Sprache: französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Verleih: Edition Salzgeber. Kinostart: 30. November 2017

Links zum Thema:
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22:45h, arte:
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