Wie spricht man mit Kindern über Schwule und Lesben, über Trans- oder Intersexuelle? Diese Berliner Broschüre will Erziehern Tipps und Hintergründe bieten und wird als "Sex-Broschüre" für Kinder verunglimpft und angegriffen (Bild: EnergieAgentur.NRW / flickr (Kinder, verändert))
Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin, in dem 605 Kitaeinrichtungen organisiert sind, lässt die zum Ziel politischer Stimmungsmache gewordene Broschüre "Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben" in einer Auflage von 1.000 Exemplaren nachdrucken. Das gab der Verband am Donnerstag bekannt – kurz bevor sich das Abgeordnetenhaus mit Anträgen befasste, die Verteilung der Broschüre zu stoppen.
Die Handreichung (PDF) zum Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt für pädagogische Fachkräfte und Erzieher in der Kindertagesbetreuung war von der Bildungsinitiative Queerformat erstellt und zunächst mit einer schnell vergriffenen Auflage von 2.000 Expemplaren publiziert worden. In Absprache mit dem Senat legt der Wohlfahrtsverband nun auf eigene Rechnung neue Exemplare der 140-Seiten-Broschüre auf, die zunächst an die eigenen Mitglieder gehen sollen.
"Die Broschüre ist zur Unterstützung für Erzieherinnen und Erzieher gedacht und nicht dazu, Kinder zu sexualisieren", betont der Verband. "Die Fachkräfte in den Kitas sind im Umgang mit unterschiedlichen Lebensweisen und Vielfalt geübt. Trotzdem ist es richtig und wichtig, ihnen Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sie Kinder in ihren Entwicklungen noch besser unterstützen können." Fragen zur Sexualität und Familie seien wichtige Themen für Kinder und gehörten deshalb zum Alltag in Kindertagesstätten.
Tagelange Hetze und Irreführung
Titel der "B.Z." vom letzten Freitag
Die Broschüre war vor wenigen Wochen erschienen (queer.de berichtete) und hatte schnell den Zorn konservativer und rechter Kreise auf sich gezogen, die in den letzten Jahren bereits gegen Schulaufklärung über LGBTI in verschiedenen Bundesländern mit diffamierenden Begriffen wie "Frühsexualisierung" oder der Verschwörungstheorie einer "Gender-Ideologie" zu Felde gezogen waren.
So startete die homo- und transfeindliche "Demo für alle" eine Petition "Kein Vielfalts-Sex in KiTas: Indoktrinierende Broschüre sofort zurückziehen!", die bislang auf über 45.000 Unterschriften kommt. Die "Petition gegen den staatlichen Missbrauch und die Manipulation der Kinder durch die LGBT-Lobby" beklagt unter anderem, "harmlos-kindliche Kindergartenfreundschaften" würden "sexuell aufgeladen".
Mehrere AfD-Politiker empörten sich in sozialen Netzwerken und Pressemitteilungen über "Kindesmissbrauch", eine "Geldverschwendung" oder über eine "Sex-Broschüre" mit "Ideen, die nur kranken Hirnen mit pädophilen Hintergedanken entsprungen zu sein scheinen" (queer.de berichtete). Das rechtsextreme Portal "PI News" warnte vor einem "BABY-lon Berlin".
Wie zuletzt in dieser Stärke nur beim Bildungsplan in Baden-Württemberg griff die empörte Panikmache aber auch auf einige Massenmedien über: Im Frühstücksfernsehen von Sat 1 empörte sich die neurechte und christlich-fundamentalistische Autorin Birgit Kelle über zehn Minuten lang über die Broschüre. Zuvor warnte das Springer-Boulevardblatt "B.Z." auf seiner Titelseite vor der "Sex-Broschüre für Kinder". Stefan Niggemeier hat die Fehlinformationen von "B.Z." und "Bild" am Donnerstag umfassend auf Übermedien aufgearbeitet – erklärende oder unterstützende Stellungnahmen gibt es u.a. auch von Queerformat (PDF) oder der GEW Berlin.
CDU-Antrag in Bildungs-Ausschuss überwiesen
Das Aufgreifen durch Massenmedien wurde wohl auch ermuntert von der CDU, die die Broschüre als eine der ersten Stimmen kritisiert hatte: Bereits am 14. Februar brachte sie einen Antrag (PDF) ins Abgeordnetenhaus ein, die Verbreitung und Nutzung "unverzüglich zu stoppen und die Broschüre zurückzuziehen".
"Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt gehören nicht in die Berliner Kindertagesstätten", heißt es in dem Antrag. "Die dort betreuten Kleinstkinder sollen Kind sein dürfen, ohne in jüngsten Jahren mit
Fragestellungen zur sexuellen Identität konfrontiert zu werden."
Im Abgeordnetenhaus wurde der Antrag am Donnerstag auf die Tagesordnung gesetzt – ohne Debatte. "Nachdem die Skandalisierung der Handreichung für pädagogische Fachkräfte zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in Berlin nicht verfangen hat, hätte die CDU am liebsten nicht mehr darüber geredet", betonten Melanie Kühnemann (SPD), Carsten Schatz und Katrin Seidel (Linke) sowie Anja Kofbinger, Sebastian Walter und Marianne Burkert-Eulitz (Grüne) in einer gemeinsamen Pressemitteilung.
Statt einer direkten Ablehnung habe man aber beschlossen, den Antrag in die Ausschüsse zu überweisen: "Dort kann die CDU nochmal darlegen, was genau gegen diese Druckschrift spricht. Wir werden dann gerne Aufklärungsarbeit leisten", so die Regierungsparteien.
Auch AfD und FDP stellen Anträge
In den Ausschüssen landen so auch zwei später eingegangene Änderungsanträge: Die FDP fordert den Senat auf, die Broschüre darauf zu überprüfen, ob sie u.a. eine "einseitige Beeinflussung von Kleinkindern" vermeidet und auf "den Erziehungs-Vorrang der Eltern bei dem Thema sexuelle Vielfalt" genügend Rücksicht nehme (PDF).
Der Antrag der AfD (PDF) ist wirrer und hetzender geraten und betont unter anderem, dass "Aufklärungsarbeit über Homo-, Trans-, und Intersexualität" nicht im "Bildungsinteresse von Kita-Kindern" liege und diese "unnötig verstören" könne. Liberalismus bedeute zudem "nicht, dass gleichgeschlechtliche Orientierte nicht von der Gesellschaft kritisiert werden dürften", stattdessen könne verlangt werden, "die eigene Lebensweise ethisch zu rechtfertigen".
"Wenn sich zwei schwule Männer, um Vater zu werden, in Osteuropa eine Eizelle und in Indien eine Leihmutter kaufen", sei dies "ethisch und rechtlich problematisch", so die AfD weiter. Die "Grundannahme, dass Kinder für eine gesunde Entwicklung eine Mutter und einen Vater brauchen, die als Paar zusammenleben", sei zudem "ein legitimer Standpunkt". Zuletzt zitiert die AfD das für Homo-Hasser erstellte Winterhoff-Rechtsgutachten gegen LGBTI-Schulaufklärung und betont: "Vorzuschreiben, dass der Bürger Homo-, Bi-, Trans- und sonst welche Sexualität gutzuheißen und wertzuschätzen hat, überschreitet die Rechtskompetenz des freiheitlich-demokratischen Staates."
"Initiative Familienschutz" eskaliert Rhetorik
Sven von Storch lässt Kinder Begriffe wie "Dildo" und "Analsex" an die Tafel schreiben
Ob die Debatte mit ihren homo- und transfeindlichen Tönen nun ausgestanden ist, scheint fraglich. Am Freitagmorgen verschickte die "Initiative Familienschutz", ein Kampagnennetzwerk der AfD-Politikerin Beatrix von Storch und ihres Ehemanns Sven, aus dem heraus einst die "Demo für alle" entstand, einen Newsletter, mit der ein neuer Flyer zum elterlichen Widerstand gegen "Gender-Sexualkunde" beworben wird.
Mit der Berliner Empörung im Rücken behauptet Sven von Storch in dem Newsletter, "homosexuelle Aufklärungsnetzwerke" könnten sich an Schulen ausdehnen und "die schleichende ideologische Vergiftung der Kinder noch dazu als Bildung verkaufen". Die "Gender-Indoktrinierung von Schülern" sei "Teil eines gesellschaftlichen Umbauplans", mit großen Subventionen würden "unsere Kinder von einer interessierten Lobby zu Pionieren einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umerziehung zur Bindungs- und Eheunfähigkeit gemacht".
Die Empörung fällt auf die Krawallmacher zurück.
Sie zeigt auch, dass unsereiner von CDU und FDP nicht vertreten, sondern getreten wird.
Überrascht mich nicht.