Vor einem halben Jahrhundert beteiligte sich der (bisexuelle) Autor und Filmproduzent Oswalt Kolle (1928-2010) maßgeblich an der sexuellen Aufklärung und sexuellen Revolution in Deutschland. Mit seinen Filmen erreichte er ein Millionenpublikum.
Im Februar 1968 kam der erste von insgesamt acht Filmen in die Kinos. Für die wissenschaftliche Legitimation von "Oswalt Kolle: Das Wunder der Liebe" (1968) diente Dr. Hans Giese (1920-1970), der im Film darauf verweist, dass Sexualität nicht nur der Arterhaltung dient, sondern dass der Film auch zeigen möchte, welche Möglichkeiten ein Mensch […] zur Verfügung hat, um mit einem bestimmten Menschen sein ganzes Leben zusammen zu bleiben.
Ein Schwulenaktivist als Berater
Nur wenn man Gieses Biographie kennt, fallen einem vermutlich die geschlechtsneutralen Formulierungen auf. Welcher Zuschauer wusste denn schließlich, dass Hans Giese über "Die Formen männlicher Homosexualität" promoviert hatte und die Universität Frankfurt seinen Antrag auf Habilitation wegen seiner Homosexualität abgelehnt hatte? Giese war nicht nur Wissenschaftler, sondern durch seine Beratungstätigkeiten auch ein Homosexuellenaktivist.
Aufgrund der notwendigen wissenschaftlichen Legitimation ließ sich Kolle im zweiten und dritten Film u.a. vom (homosexuellen) Diplom-Psychologen Helmut Kentler beraten. Zu Giese und Kentler schreibt Kolle später: "Sie berieten und unterstützen mich, halfen mir bei der Recherche, ebneten Wege und belohnten mich überdies mit ihrer Freundschaft."
Das Zeigen einer Erektion in Nahaufnahme im dritten Film "Oswalt Kolle: Dein Mann, das unbekannte Wesen" (1970) ist erstaunlich freizügig. Aus dem Off teilt Kolle dem Zuschauer mit, dass auch "Berührungen an der Gesäßpartie und am After […] von vielen Männern als sexuell reizvoll empfunden" werden. Heute wird es meistens Hannelore Hinkel von der FSK-Kommission zugeschrieben, dass der erigierte Penis im Kino zu sehen sein durfte – und die sich damit gegen alle Männer erfolgreich durchgesetzt hat. Auch von Kolle wird Hinkel mit dem Ausruf "Der Schwanz bleibt drin!" zitiert.
Die eigentliche Entscheidung fiel jedoch erst später durch die Beschwerdekommission. Oswalt Kolles Berater Helmut Kentler erklärte dieser Kommission, dass die Männer diese Szene nicht drin haben wollten, "weil sie dabei etwas gespürt hätten! Weil sie gemerkt hätten, dass sie eigentlich latent homosexuell seien!".
Mit diesem Trick wurde die Auseinandersetzung mit der FSK gewonnen, denn nach Kolle wollte natürlich "niemand von den Herren der Kommission als homosexuell gelten. Das Schwulentabu war noch größer als das Penistabu. So kam der erigierte Penis in die Kinosäle". Der schwule Wissenschaftler Helmut Kentler hat Homophobie instrumentalisiert, um eine notwendige und offene Sexualaufklärung zu erreichen.
Zensurbalken für schwule Pornobilder
Der Film "Oswalt Kolle: Was ist eigentlich Pornographie" kam 1971 in die Kinos
Ein erkennbar verärgerter Kolle ist in "Oswalt Kolle: Was ist eigentlich Pornographie" (1971) zu sehen, der sich über das Verbot von Pornographie, welches in Deutschland bis 1975 galt, aufregt. Dies verdeutlicht er auch durch eine widersprüchlich wirkende Gesetzeslage, denn warum gelten die homoerotischen Zeichnungen von Aubrey Beardsley als Kunst und dürfen gezeigt werden, nicht aber die "Fotos aus Pornoheften für Homosexuelle", die er für diesen Film mit einem Zensurbalken versehen muss. Hinter seinem Hinweis, "dass Menschen nach dem Betrachten von Pornographie weder ihre Triebrichtung noch ihr Verhalten ändern", ist die zeitgenössische Angst vor einer "Verführung" zu erkennen.
Kolle wusste, dass lesbische Sexszenen in einem Film auch deshalb unkompliziert sind, weil sie – zum Teil bis heute – vor allem heterosexuelle Männerphantasien verkörpern. "Oswalt Kolle: Liebe als Gesellschaftsspiel" (1972) greift die Frage auf, ob denn beim Sex unter Frauen oder unter Männern ein Unterschied besteht. In seiner Spielfilmszene will ein Mann zwar Sex mit mehreren Frauen, sträubt sich aber gegen einen weiteren Mann: "Ich will keinen Mann im Bett […] Ich bin doch nicht schwul […] Jede Frau empfindet für eine andere Frau Erotik, aber wenn ein Mann einen andern Mann anfasst, das ist doch ausgesprochen homo, nicht?"
Die Frauen – und damit indirekt Kolle – widersprechen ihm deutlich. Kolle greift hier mutig eine Frage auf, auch wenn er letztendlich nicht den Mut findet, Sex zwischen Männern zu zeigen. Es ist der Tribut an eine Doppelmoral, die er wenigstens deutlich zu kritisieren bereit war.
In "Was ist eigentlich Pornographie" beschwerte sich Kolle über Zensur
Schwule Zweierbeziehungen kamen nicht vor
Die heutige Bewertung von Kolles Filmen fällt gemischt aus. Das aufrichtige Bemühen für Lebenshilfe und eine gewisse Ernsthaftigkeit seiner Aufklärung ist erkennbar und wird gewürdigt. Die Kritik an Kolle als "lahmer, schulmeisternder Tugendbold" ist wohl etwas zu scharf formuliert. Aus schwuler Perspektive kann man zudem kritisieren, dass er zwar auf Pornographie und Gruppensex, nicht jedoch auf die Liebe und den Sex zwischen zwei Männern eingeht. Seine Filme waren jedoch wichtige Vorreiter für weitere Filme – auch denen, die an einer seriösen Aufklärung nicht interessiert waren.
Heute wird belächelt, dass vor 50 Jahren eine wissenschaftliche Legitimation für sexuelle Aufklärung notwendig war; eine solche Arroganz ist jedoch vollkommen fehl am Platze. Oswalt Kolles letztes Filmprojekt war die fünfteilige TV-Doku "Sexreport 2008 – So lieben die Deutschen" (2008). Die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung hat hier im Auftrag von Pro7 mit einer Studie diesen Film legitimiert. Bestimmte Fragen zum Sexualverhalten waren dabei nicht zulässig, weil sie nicht zur Zielorientierung von Pro7 passten. Die angeblich wissenschaftliche Forschung im Verständnis von Pro7 besteht im dritten Teil darin, dass ein weiblicher Lockvogel versucht, einen Schwulen zu verführen. Diese Sexszenen sind plumper und niveauloser als Kolles Filme aus den Siebzigerjahren, sollten aber in ähnlicher Form durch eine Studie als wissenschaftlich legitimiert erscheinen.
Seinen ersten Sex hatte Kolle mit einem Mitschüler
In seiner Biographie "Ich bin so frei" berichtet Oswalt Kolle von seinen homosexuellen Erfahrungen
Wie spannend und facettenreich Kolles Leben war, wird auch durch seine Biographie "Ich bin so frei" deutlich. Schon im Gymnasium träumte er nicht vom Sex mit Mädchen. "Solche Träume gingen in die Richtung des eigenen Geschlechts." Sein erstes sexuelles Erlebnis hatte er mit seinem Mitschüler Alex, mit dem er "ungestüm gemeinsam die Lust" entdeckte. Andere homosexuelle Erlebnisse folgten: "Ich bin also schwul, dachte ich, genau wie Onkel Helmut." Im Freund seines Vaters fand er einen wichtigen Gesprächspartner, der ihn "von Ängsten und Schuldgefühlen befreite". Seinem an sich liberalen Vater konnte er sich nicht offenbaren, der ihm aber indirekt in anderer Hinsicht wichtig war: Der junge Oswalt Kolle hatte seinem Vater geholfen, den berühmten Kinsey-Report zu übersetzen: "Diese Arbeit war für mich ungeheuer prägend, auch wenn ich noch nicht ahnte, dass ich einmal in die Fußstapfen Kinseys treten sollte."
In den Fünfzigerjahren lernte Kolle schwule Prominenz kennen. Einer von ihnen war O.E. (Otto Eduard) Hasse. Als der Film "Canaris" (1954) mit ihm in der Hauptrolle den Goldenen Bären bekam, war jedem klar, dass Hasse wegen seiner Homosexualität nicht zur Preisverleihung eingeladen war. (Diese hatte ihm schon 1939 eine Gefängnisstrafe eingebracht). Ein späterer Skandal von Hasse mit einem Hamburger Strichjungen kam nie in die Medien – was auch an den persönlichen Kontakten zu Oswalt Kolle und anderen Journalisten lag. In den Fünfzigerjahren konnte man mit Homosexualität jede Karriere zerstören.
Ein anderer Prominenter war Horst Buchholz, der für seine Darstellung in "Die Halbstarken" (1956) gefeiert wurde: "Am Anfang waren wir mehr als nur Freunde gewesen. Zwischen uns hatte es auch geknistert. Es war keine leidenschaftliche Affäre – aber eben auch nicht nur ein kurzes homoerotisches Spiel." Horst Buchholz und Oswalt Kolle heirateten später und wurden Familienväter. Beiden Männern fiel es lange schwer, öffentlich über ihre Bisexualität zu reden; bei Kolle war dies 1996, bei Buchholz im Jahr 2000. In Kolles Äußerung "Ich war ihm eine Nasenlänge voraus" hört man ein wenig Stolz heraus.
Gegenwind von katholischer Kirche und Alice Schwarzer
Bei seinen jahrzehntelangen Bemühungen für eine Sexualreform bekam Kolle nicht nur Gegenwind von der katholischen Kirche, sondern auch von Personen wie Alice Schwarzer. Es ist bizarr, wenn sie ihn ausdrücklich darum bittet, ihre Äußerungen nicht persönlich zu nehmen. Von ihr stammen Sätze wie: "Wir müssen uns wehren gegen Kinsey, Kolle, Kentler und Co." oder auch "Oswalt, du hast zweitausend Jahre geredet, jetzt bin ich dran."
Für seine Verdienste um die Sexualreform bekam Kolle im Jahr 2000 die Magnus-Hirschfeld-Medaille verliehen. Für Kolle hat sich damit ein Kreis geschlossen: Schon sein bekannter Großvater Wilhelm Kolle hatte vor 1917 die Petition von Magnus Hirschfeld zur Abschaffung des Paragrafen 175 und damit zur Legalisierung von Homosexualität unterstützt. Eine Sexualreform, für die bis heute auch der Name Oswalt Kolle steht.
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kolle gehört sicherlich zu den menschen, die das land, in dem ich lebe, in sehr positiver weise mitgeprägt haben. wann immer ich ihn mal in einem interview sehen konnte, haben mich nicht nur seine erzählungen, sondern auch seine ausstrahlung beeindruckt. dürfte ich mit einer lebenden oder toten person der zeitgeschichte einen tag verbringen, wäre er wohl unter den top ten.