
Passend zum 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld ist die aktuelle Biografie "Magnus Hirschfeld und seine Zeit" (Amazon-Affiliate-Link ) von Manfred Herzer erschienen. Hierin lässt uns der Geschichtsforscher eintauchen in das Wirken des Sexualwissenschaftlers, der von ihm als "Mutter der Schwulenbewegung" bezeichnet wird.
Hirschfeld wird in seiner Gesamtheit dargestellt, dabei werden auch Schattenseiten nicht kaschiert. Der am 14. Mai 1868 in Kolberg geborene Arzt begründete die Sexualwissenschaften und setzte ich wiederholt für die Abschaffung des Paragrafen 175 ein, der seit 1872 schwule Sexualität verbot. Er betrieb mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) geschicktes Lobbying, arbeitete eng mit Feministinnen zusammen, um auch den Paragrafen 218, das Abtreibungsverbot, abzuschaffen.
Das von ihm errichtete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin war weltweit ein Novum. Es diente ihm als ärztliche Praxis, Beratungsräumlichkeit, Gruppentreff, Vortragsmöglichkeit und Forschungszentrum. Es zog Prominenz aus aller Welt an. Gerade sein Engagement für trans und intergeschlechtliche Menschen war zukunftsweisend. Er war ein Vorläufer queerer Bündnispolitik, darauf verweisen auch Jörg Litwinschuh und Prof. Dr. Michael Schwartz von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in ihrem kenntnisreichen gemeinsamen Geleitwort.
Projektionsfläche für den Hass der Nazis
Mafred Herzers Buch ist im Wissenschaftsverlag De Gruyter erschienen
Manfred Herzer zeigt in seinem Buch anschaulich, wie bedeutend Hirschfeld in seiner Zeit war. Bereits zur Jahrhundertwende war er eine bekannte Persönlichkeit. In den Zeitungen, Zeitschriften und Flugschriften war er häufig präsent – nicht nur positiv. Er wurde ebenso gehasst. Die im Antisemitismus so bekannte Figur des sexuell zügellosen Juden fand in ihm ihre Projektionsfläche.
Magnus Hirschfeld wurde bereits zu Beginn der Zwanzigerjahre von Faschisten verprügelt. Schon kurz nach der Machtübergabe 1933 verwüstete die SA sein Institut und verbrannte seine Schriften öffentlich. Zum Glück ahnte Hirschfeld die Katastrophe schon 1930 und begab sich auf eine lange Weltreise.
Herzer verleugnet auch nicht die Schwächen des Mitbegründers der ersten Homosexuellenbewegung. Etwa dass Hirschfeld für ein fragwürdiges Potenzmittel warb und dadurch finanzielle Vorteile hatte (die er für das Institut nutzte). Des Weiteren befürwortete er die Eugenik. Das ist erschreckend. Wenn man allerdings bedenkt, dass diese damals – vor der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik – von rechts bis links akzeptiert wurde, so relativiert sich zumindest Hirschfelds Position.
Für viele Leser der Biografie dürfte neu sein, dass er ein "Volksaufklärer" war, der mehr als 3.000 Vorträge in vielen Teilen der Erde gerade zum Ende seines Lebens hielt. Außerdem weist Herzer darauf hin, dass Hirschfeld an vielen Filmprojekten beteiligt war.
"Mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit"
Magnus Hirschfeld war ein Tausendsassa, dies lässt uns Manfred Herzer nachspüren. Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor stärker das tosende und sich rasant entwickelnde und von sozialen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen geprägte Berlin nachzeichnet und damit Hirschfelds Zeit stärker gerecht wird. Doch dies ist nur eine Petitesse.
Herzer zeigt uns am Beispiel Hirschfelds, wie wichtig es ist, sich weiterhin für sexuelle und geschlechtliche Emanzipation einzusetzen, gerade wenn rückschrittliche Kräfte auf vermeintlich gegebene Größen Entitäten wie Nation oder Familie verweisen, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die nationalsozialistische Katastrophe konnte Hirschfeld nicht aufhalten, aber er kämpfte gegen sie an – und strahlt auch deshalb mit seinem Wirken in die heutige Zeit.
In Anlehnung an Hirschfelds Leitmotto "Mit Wissenschaft zu Gerechtigkeit" – über das man aus wissenschaftstheoretischer Sicht durchaus streiten darf – formuliert Herzer im Vorwort, dass es ihm bei der neuerlichen Biografie darum, "durch Wahrheit für Hirschfeld Gerechtigkeit zu erstreiten". Diesem Anspruch wird Herzer in weiten Teilen gerecht.
Die aufwändige Biografie im großformatigen Hardcover wurde erst durch die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ermöglicht. Doch leider hat sie ihren Preis: 59,80 Euro. Weiterhin lieferbar ist Manfred Herzes Buch "Magnus Hirschfeld. Leben und Wirken eines schwulen, sozialistischen und jüdischen Sexologen" (Amazon-Affiliate-Link ), erschienen 2001 im damaligen Verlag rosa Winkel. Es war die Vorarbeit zur aktuellen Biografie und bietet weiterhin einen soliden Überblick. Sie ist mit 16 Euro bezahlbar. Der aktuellen Biografie ist eine baldige Taschenbuchausgabe zu wünschen.
Infos zum Buch
Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld und seine Zeit. Biografie. Gebundene Ausgabe. 441 Seiten. De Gruyter Oldenbourg. Berlin 2017. 59,95 €. ISBN 978-3-11-054769-6.
Mir reichlich unverständlich, weshalb man auch die reine Digital-Ausgabe zu diesem doch extrem hohen Preis anbietet. Insofern kann ich mir kaum vorstellen, dass in absehbarer Zeit eine bezahlbare Taschenbuch-Variante erscheinen könnte.
Man scheint mit diesem Buch nur Leute im Visier zu haben, die eben mal sechzig Euro ausgeben können, ohne mit der Wimper zu zucken.
Sehr schade.