
Ilan, wie hast du davon erfahren, dass Magnus Hirschfeld ein entfernter Verwandter von dir ist?
Ich wusste das nicht, bis ich 1992 meine Dissertation schrieb. Und das, obwohl ich zu denselben Themen wie er geforscht habe! Einige Mitglieder meiner Familie leben in Israel und Australien, und einige kannte ich nicht mal. Eine Tante erzählte dann meiner Stiefmutter: Frag ihn doch mal, ob er von diesem Magnus Hirschfeld gehört hat, denn wir sind mit ihm verwandt. Und als sie mir das erzählte, bin ich fast vom Hocker gefallen, ich konnte es nicht glauben!
Du forscht heute auch zu LGBTI-Themen, wie Hirschfeld damals. Was habt ihr gemeinsam?
Ich fühle mich so sehr mit seiner Arbeit verbunden. Hirschfelds Forschung begann damit, nach dem Grund für die Suizide von Homosexuellen zu suchen. Und meine Arbeit begann auch mit dem Thema Suizid als ultimative Konsequenz von Homophobie. Hirschfeld zeigte, dass Sexualität etwas ganz Normales ist, in einer Zeit, als alles pathologisiert wurde. Und er zeigte, dass der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität zu psychischen Problemen führt – und das ist auch genau mein Thema! Ich fühle also, dass es mehr als eine familiäre Verbindung zu ihm gibt. In gewisser Weise führe ich seine Arbeit fort, ich führe sie zu Ende.
Warum ist Hirschfelds Werk heute noch wichtig?
Seine Arbeit von damals ist immer noch aktuell. Das ist eigentlich traurig, weil es zeigt, dass wir in hundert Jahren nicht sehr weit gekommen sind. In der westlichen Psychiatrie wurde Sexualität erst in den Siebzigern entpathologisiert. Bis heute müssen wir in manchen Teilen der Welt gegen die Vorstellung kämpfen, Homosexualität sei eine Krankheit. Hirschfeld fokussierte auf die sozialen Ursachen von Suizid und bemühte sich darum, die Gesetze zu ändern, damals den Paragrafen 175 abzuschaffen. Das machen wir heute noch: An der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) konzentrieren wir uns darauf, die Gesetze zu ändern, die die geistige Gesundheit von LGBTI beeinträchtigen.
Sind Hirschfelds konkrete Forschungsergebnisse heute noch gültig?
Nein, das denke ich nicht. Zwar ist seine These, dass Homosexualität eine natürliche Variante der Sexualität ist, heute noch akzeptiert. Wenn man aber seine medizinischen Werke anschaut, zum Beispiel seine Hirnforschung, muss man sagen: Da sind wir heute natürlich viel weiter. Doch auch seine Erforschung der weiblichen Sexualität war progressiv, denn in seiner Zeit sagte man, dass eine anständige Frau keine Sexualität hat.
Ilan H. Meyer war am 8. Mai auf Einladung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und die Initiative Queer Nations mit einer Lecture zu Gast in Berlin (Bild: IQN)
Wo ist man heute weiter?
Heute sind wir in der Post-Medikalisierung der Sexualität und Geschlechtsidentität angelangt, zum Beispiel in Bezug auf Transgender, bei denen wir den geschlechtlichen Ausdruck als wahre Identität akzeptieren. Und genau diese These, dass Sexualität und Geschlecht natürliche Varianten aufweisen, die hat Hirschfeld erfunden. Und das ist sein großer Verdienst.
Du forschst zum "Stress der Minderheiten". Was bedeutet das?
Stress ist ein relativ junger Begriff in der geistigen Gesundheit. Zu Hirschfelds Zeit gab es das noch nicht. Da nahm man an, dass es innere Konflikte seien, die geistige Krankheiten verursachen. Stress hingegen ist ein Einfluss von außen, der einen Menschen stark verändern kann. In den Fünfzigern, nachdem traumatisierte Soldaten aus dem Weltkrieg zurückkamen, begriffen die Menschen, dass es äußere Einflüsse gibt, die die geistige Gesundheit beeinträchtigen.
Wie kommt es dazu, dass LGBTI gestresst sind?
Welche Personen in einer Gesellschaft Stress ausgesetzt sind, ist nicht zufällig. Es ist verbunden mit sozialen Bedingungen, wie Vorurteilen und Stigma. Wenn jemand seinen Job verliert, hat das einen großen Einfluss auf die Person. Und besonders häufig verlieren Menschen ihren Job, die Vorurteilen und Stigmata ausgesetzt sind. Wir schauen auf Populationen, nicht Individuen. Stress ist eine Belastung, die es wahrscheinlicher macht, krank zu werden. Deswegen haben LGBTI mehr Depressionen und begehen öfter Suizide.
Magnus-Hirschfeld-Büste im Schwulen Museum Berlin. Der Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung wäre am 14. Mai 150 Jahre alt geworden (Bild: BASWIM / wikipedia)
Was ist neu daran?
Bis in die Neunzigerjahre dachte man noch, dass die Ursache der Depression die Homosexualität sei, weil diese irgendwie schlecht sei. Ich möchte deutlich machen, dass die Ursache für die Depression in der Gesellschaft liegt, dass sie also nicht von innen, sondern von außerhalb kommt.
Was bedeutet das im Alltag?
Schon die Erwartung, man könne möglicherweise stigmatisiert werden, erzeugt einen bestimmten Stress in der Psyche. Stress verursacht hormonelle Veränderungen, die den Körper langfristig schädigen. Bezogen auf einen schwulen Mann bedeutet das: Wenn er mit seinem festen Freund zusammen auf die Straße geht, hat er eine verstärkte Aufmerksamkeit, ein Bewusstsein der Gefahr, die eine heterosexuelle Person nicht hat. Diese Wachsamkeit erleben LGBTI jeden Tag.
Du betonst auch immer wieder die überschneidenden Aspekte wie Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, des sozio-ökonomischen Status oder der Religionszugehörigkeit. Wieso ist das wichtig?
Früher gab es die Vorstellung in der Psychiatrie, dass alle schwulen und lesbischen Menschen dieselbe Diskriminierung erleben. Die Intersektionalität lehrt uns aber, dass sich Identitäten überschneiden. Schwul und weiß zu sein in den USA ist anders als schwul und schwarz zu sein. Es gibt also nicht ein Modell, das sagt: So erlebst du es. Vielmehr sind die Diskriminierungs-Erfahrungen der einzelnen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich.
Das darf gerne zu uns nach Europa hinüber wehen :-)
Ich kann ihm voll zustimmen.