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LGBTI-Verfolgung
Tschetschenien: Europarat fordert Aufklärung
Die Welt dürfe nicht wegsehen, wenn Russland weiter eine Aufklärung der Verschleppungen, Folterungen und Todesfälle und eine Bestrafung der Verantwortlichen hintertreibe, fordert eine ausführlich begründete Resolution des Equality-Ausschusses.

Der russische Präsident Wladimir Putin schaut bislang über zahlreiche Verbrechen des Regimes seines Statthalters in Grosny, Ramsan Kadyrow, hinweg
- Von Norbert Blech
9. Juni 2018, 17:50h 6 Min.
Wenige Tage, bevor die Welt auf die Fußballweltmeisterschaft in Russland schaut, hat das Gleichstellungs-Komitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in dieser Woche eine Resolution verabschiedet, in der die Verbrechen gegenüber Homosexuellen in Tschetschenien verurteilt werden und Russland aufgefordert wird, die Taten endlich aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen.
Der sehr lesenswerte und zusammenfassende Bericht dazu wurde erstellt von dem flämischen Parlamentsabgeordneten Piet De Bruyn (Nieuw-Vlaamse Alliantie), der sich auch als LGBTI-Aktivist einen Namen machte. Er hatte sich nicht nur mir Vertretern von russischen Menschenrechtsorganisationen wie dem LGBT Network getroffen, sondern auch mit direkten Betroffenen der Verfolgung.
Twitter / PACE_NewsRussia is urged to investigate the persecution of #LGBTI people in #Chechnya https://t.co/RlarTZwJlW Read @PietDeBruyn's full report for the @PACE_Equality Committee, due for plenary debate 27th June https://t.co/TiHD7Uv5y8 pic.twitter.com/K9D1cKDzHl
PACE (@PACE_News) June 5, 2018
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In der teilautonomen Republik, in der "insgesamt ein Klima der Straffreiheit und des Fehlens von Rechtsstaatlichkeit" herrsche, verfolge Präsident Ramsan Kadyrow ein "Klima der Angst", in dem er sich mit Repression als "Hüter der Tradition, Religion und Autorität" darstelle. Menschenrechtler würden bedroht; Frauen würden extrem traditionelle Rollen zugewiesen und ein Klima geschaffen, dass bei "Ehrenmorden" wegschaue.
Auch die Lage queerer Menschen sei schon allgemein problematisch: LGBTI zu sein bedeute in Tschetschenien, "gegen die sogenannte traditionelle Gesellschaft zu verstoßen", und ein Coming-out bedeute den sicheren Ausschluss aus der Familie, so De Bruyn. "Homosexualität gilt als Krankheit und Provokation. LGBTI-Personen sind gezwungen, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen und ein geheimes Leben zu führen. Sie befürchten, zurückgewiesen, geschlagen, gefoltert, entführt oder sogar getötet zu werden, wenn sie sich outen." Polizei und Sicherheitskräfte erpressten LGBTI mit einem angedrohten Outing vor der Familie, um Geld einzutreiben.
Die Monate des Horrors 2017
In Zeiten, in denen u.a. Russlands Propagandakanal RT Deutsch die Schwulenverfolgung in Tschetschenien durch einen freien und schwulen Mitarbeiter zynisch abstreiten lässt, fasst De Bruyn die Vorwürfe zu den Vorgängen im letzten Frühjahr recht deutlich zusammen: "Während der bilateralen Treffen mit Opfern und Zeugen dieser gezielten Verfolgung habe ich Informationen aus erster Hand über den Einsatz von Folter, Misshandlungen und willkürlichen Inhaftierungen von LGBTI-Personen in der Tschetschenischen Republik erhalten. Einige Personen werden vermisst, darunter der Popsänger Selimchan Bakajew, von dem man annimmt, dass er nach seiner Entführung gestorben ist. Die Zeitung 'Nowaja Gaseta' berichtete von mindestens drei Todesfällen während der Säuberungsaktion, aber weitere werden befürchtet, da etliche Menschen als verschwunden gemeldet wurden."
Mit Hilfe des LGBT Network hätten inzwischen 114 Menschen die Region verlassen, davon 41 direkte Betroffene der Verfolgung, fasst De Bruyn zusammen; 92 Menschen seien inzwischen im Ausland (queer.de berichtete). "Die Opfer haben oft Angst davor, für Gerechtigkeit zu kämpfen, und fürchten Vergeltungsmaßnahmen, was erklären könnte, warum nur wenige offiziell Beschwerden eingereicht haben."

queer.de berichtete), hat im letzten Herbst eine Online-Reportage mit Aussagen von Betroffenen der Folter online gestellt, die inzwischen auch auf Englisch verfügbar ist Die Zeitung "Novaya Gazeta", die die Verfolgungswelle am 1. April 2017 öffentlich machte (
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch hätten die Opfer- und Zeugenaussagen "akribisch" dokumentiert (etwa hier). "Die Details der Zeugenaussagen der Opfer stimmen überein. Bei der Folter wurden die Opfer verhört und gezwungen, die Namen anderer LGBTI-Personen anzugeben. Die meisten Häftlinge wurden vor ihren Familien geoutet. Laut Tanja Lokschina [von HRW] war die Verfolgungswelle einzigartig in ihrer Größe und ihrem Horror", so De Bruyn.
Der belgische Politiker zeigte sich "schockiert", dass laut mehrerer Aussagen mit Magomed Daudow der tschetschenische Parlamentssprecher eine "Schlüsselrolle" bei der Verfolgung spielte und selbst "beobachtete, wie einige der Opfer gefoltert wurden". Ähnliche Verhör- und Foltermethoden seien u.a. auch gegen mutmaßliche Drogengebraucher genutzt worden.
Unklar sei die Lage von lesbischen Frauen und Transpersonen. Mindestens zwölf Frauen, darunter zwei transsexuelle, seien im letzten Jahr von den Behörden festgenommen worden. Aktivisten vermuten ein Dunkelfeld: Die Frauen hätten noch weniger Kontakt nach außen als die Männer und seien Gewalt durch die Familie ausgesetzt. Dem LGBT Network lägen Aussagen von Frauen vor, die in psychiatrische Kliniken zur "Heilung" ihrer Homosexualität oder in Moscheen zum "Exorzismus" gebracht worden seien. Auch "Corrective Rape" und Zwangsheiraten würden gegen sie eingesetzt.
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Auch Aufklärung verschleppt
De Bruyn hält in weiteren Passagen akribisch fest, wie die tschetschenische Staatsführung die Taten mit zynischen und menschenfeindlichen Äußerungen abstritt (etwa Kadyrows Aussage im US-TV, man müsse das tschetschenische Blut von Schwulen reinigen). Und er hält fest, wie die für entsprechende Straftaten zuständigen russischen Strafverfolgungsbehörden Ermittlungen verhinderten, verschleppten und einstellten. Selbst als sich mit Maxim Lapunow ein Opfer der Verfolgung öffentlich zu Wort meldete, Strafanzeigen stellte und Aussagen machte, herrsche nach ersten Vorermittlungen schlicht "Stillstand". Bitten um Zeugenschutz blieben erfolglos; inzwischen hat der nicht aus Tschetschenien stammende Russe sein Heimatland verlassen.

berichtet. Der junge Schwule aus Omsk arbeitete in Grosny Maxim Lapunow hatte im letzten Jahr als erster Betroffener nicht-anonym von seiner Folter in Tschetschenien
In seinen Anmerkungen geht De Bruyn mit Russland, das die vielen internationalen Aufrufe zum Thema bislang ignorierte, hart ins Gericht: "Abstreiten ist keine akzeptable Antwort. Eine akzeptable Antwort ist, dass die russischen Behörden eine unparteiische und effektive Untersuchung der Ereignisse des letzten Jahres durchführen und sicherstellen, dass die Täter nicht ungestraft bleiben."
Ein langer Katalog an Forderungen
Als Mitglied des Europarats solle Russland Menschenrechte hochhalten, so De Bruyn. "Sollte die Russische Föderation die Durchführung von Untersuchungen ablehnen, sollte sie zumindest eine internationale unabhängige Untersuchung durch eine internationale Menschenrechtsorganisation ermöglichen". In der Resolution wird zusätzlich ein Schutz von Opfern der Verfolgungswelle, deren Familienmitgliedern und Zeugen gefordert.
De Bruyn betont, an der Lage werde sich nichts ändern, "wenn es kein starkes politisches Signal gibt, dass die Verfolgung von LGBTI nicht toleriert werden kann. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität widerspricht dem Wesen der Gleichheit." Es lasse sich eine klare Verbindung ziehen zwischen der Verfolgung in Tschetschenien und der russischen Gesetzgebung gegen Homo-"Propaganda" – diese trage dazu bei, "LGBTI zu stigmatisieren und einen fruchtbaren Boden für Hass zu schaffen. Ich empfehle daher, dass die Versammlung die Russische Föderation erneut auffordert, die Anti-Propaganda-Gesetze von 2013 aufzuheben, um die Meinungsfreiheit zu respektieren und Diskriminierung zu beenden." Die Versammlung sollte auch die Umsetzung entsprechender Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einfordern.

preisen Auch ein Zeichen: Zusammen mit Parlamentssprecher Magomed Daudow war der tschetschenische Präsident vor wenigen Wochen zur Amtseinführung von Putin angereist, um im Staatsfernsehen gemeinsame Erfolge zu
Mitgliedsstaaten sollten Menschen aus Tschetschenien, die vor der Verfolgung fliehen, aufnehmen und "einen sicheren Zufluchtsort bieten", fordert De Bruyn noch. Sie bräuchten psychologische Unterstützung und auch Schutz vor Repressalien seitens der Diaspora. Und die Europarats-Mitgliedsstaaten müssten unter anderem Sorge tragen, dass auch homo- und transfeindliche Hetze widersprochen und unterbunden wird. Kampagnen wie die in Tschetschenien und Hass gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten könnten schnell auf andere Regionen und Länder übergreifen.
"Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, was in einem der Mitgliedstaaten geschehen ist und weiterhin geschehen könnte", schließt De Bruyn. "Wir können nicht akzeptieren, dass Menschen für das, was sie sind, verfolgt werden." Am 27. Juni wird das Parlament des Europarats in Straßburg den Bericht debattieren. Am gleichen Tag spielt im russischen Kasan die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Südkorea.
Für diesen Sonntag (10. Juni) sind in mehreren deutschen und europäischen Städten anlässlich der WM Kundgebungen vor russischen Botschaften und Konsulaten geplant, darunter in Berlin, München, Frankfurt am Main, Leipzig und Bonn; sie werden organisiert von queeren Fußballfans und LGBTI-Organisationen (queer.de berichtete). Mehr Infos auf der Kampagnen-Webseite und in unserem Terminkalender.

Er ist halt durch und durch ein KGB-Mann!