Schwule weiße Cis-Männer sollen doch endlich die Klappe halten und den Platz frei machen für andere – das ruft die queer-feministische Intersektionalitäts-Bewegung dieser privilegierten Männergruppe fortwährend entgegen. Durchaus verständlich: Damit nach Jahren, in denen weiße schwule Cis-Männer die LGBTI-Szene dominierten (so wie weiße Männer überhaupt die Welt dominieren), jetzt andere Buchstabenvertreter*innen ins Rampenlicht treten können, um ihre Geschichten zu erzählen bzw. ihre Version von bereits bekannten Geschichten.
Dieses Platzmachen für andere innerhalb der LGBTI-Welt ist keine Höflichkeitsaufforderung. Es geht neben Rederechten und Sichtbarkeit auch um Ressourcenverteilung. Besonders um staatliche Ressourcen in Form von Fördermitteln für Kunstprojekte, Forschung/Lehrstellen, Bildungseinrichtungen, Museen/Ausstellungen usw.
Doch was macht man*, wenn man* als schwuler weißer Cis-Mann in einem dieser Bereiche tätig ist, wenn einem aber nunmehr gesagt wird, dass die Stunde der "anderen" geschlagen habe und man deshalb keine Gelder mehr zugewiesen bekommen könne?
Doppelte Ausgrenzung schafft Sichtbarkeit
Der französische Philosoph Didier Eribon (Jahrgang 1953) hat auf diese Problemlage eine bemerkenswerte Antwort gefunden. Er veröffentlichte 2009 das Buch "Retour à Reims", das 2016 in der deutschen Queer-Szene einschlug wie eine Bombe unter dem Titel "Rückkehr nach Reims" (Suhrkamp Verlag).
In dieser "Rückkehr nach Reims" nimmt Eribon einen klassischen Aspekt der queer-feministischen Intersektionalitäts-Debatte auf und wendet ihn auf sich an: die Frage nach der sozialen Herkunft aus der "poverty class". Eribon ist damit doppelt (!) ausgegrenzt. Er musste die strukturelle Diskriminierung, die mit der "poverty class" einhergeht, überwinden und sich von der besonderen Homophobie in der Arbeiterklasse befreien, bevor er sein privilegiertes Leben als Professor an der Sourbonne beginnen konnte.
"Rückkehr nach Reims" ist ein spannendes Buch, sprachlich geschliffen formuliert. Damit hat sich Eribon in die queere Ressourcenverteilung zurückkatapultiert, denn zur Frage der sozialen Herkunft (auch der von weißen schwulen Cis-Männern) gibt es viel zu sagen.
"Rückkehr nach Reims" gibt's inzwischen auch als Theaterversion, womit sich über Tantiemen noch mal ganz andere Geldquellen eröffnen als über Buchverkäufe und Vortragshonorare.
Die "Schwuchtel" aus der Arbeiterklasse
Didier Eribon ist eng befreundet mit dem französischen Nachwuchsautor Édouard Louis (Jahrgang 1992), als Eddy Bellegueule ebenfalls in "poverty class"-Verhältnissen in Frankreich geboren und damit ebenfalls strukturell ausgeschlossen von einem privilegierten Leben. Auch Édouard Louis veröffentlichte einen Roman mit dem Titel "En finir avec Eddy Bellegueule", auf Deutsch 2015 erschienen als "Das Ende von Eddy" beim Fischer Verlag. Darin beschreibt Louis seine Kindheit als "Schwuchtel' in eben diesen Arbeiterklasse-Verhältnissen.
Damit hat auch Louis sich seinen Zugang zu Ressourcen geebnet, indem er seine strukturelle Leidenserfahrung in Worte kleidete und analysierte. Kurz nach seinem Debütroman legte Louis nach mit einem zweiten Buch, in dem er schildert, wie er vergewaltigt wurde von einem Mann aus der arabischen Welt. Sein Roman "Im Herzen der Gewalt" kreist um das damit verbundene Trauma, um Fragen der Islamophobie und um die Frage, wie seine Arbeiterklassefamilie mit dieser Vergewaltigung umgeht.
Auf der Intersektionalitäts-Skala ist Louis damit weiter nach oben gerutscht als Eribon es je vermochte. "Im Herzen der Gewalt" wurde unlängst an der Schaubühne Berlin als Theaterstück herausgebracht – ein Erfolg bei Kritikern und Publikum. Der "Tagesspiegel" schrieb: "Der Roman besitzt, wie meist bei den Franzosen, eine rhetorische Anlage, er lebt von den Stimmen, die das Echo einer schlimmen Nacht widergeben – von der Stimme des Autors, der von einer Vergewaltigung berichtet, von einer 'Nahtoderfahrung', wie ein Arzt sie ihm bescheinigt. Es handelt sich um eine Geschichte von Sex und Demütigung, Anziehung und Vorurteil, Rassismus und Klassenverhalten."
Louis bekam kurz nach der Theaterpremiere eine Gastprofessur an der FU Berlin am Peter-Szondi-Institut. Um über Gewalt und Nahtoderfahrung zu sprechen. Seit 2016 lehrte er auch am Dartmouth College in den USA. Beides hervorragend dotierte Stellen.
Eine Geschichte, die schon oft erzählt wurde
Und nun kam auch noch der Film "Marvin" ins Kino, in dem Regisseurin Anne Fontaine die Jugendgeschichte von Louis minimal variiert erzählt. Sie selbst sagt "inspiriert von", aber die Übereinstimmungen sind verblüffend.
Es ist ein schöner Film, ein leiser Film, ein intimer Film, mit tollen Darstellern, allen voran Jules Porier als kindlicher Marvin. Zugleich ist es eine recht banale Geschichte, weil das, was Marvin durchlebt – die Flucht aus einer erdrückenden Familiensituation in die Großstadt, wo der attraktive Teenager über Sexbekanntschaften Zugang zu einer alternativen und privilegierten Welt findet, in der er sich endlich entfalten kann – eine Geschichte ist, die schon oft erzählt wurde in vielen Coming-out-Romanen und Filmen. Nur dass der Fokus sonst eher auf dem Zielpunkt liegt, also dem erreichten neuen Leben, nicht auf der detaillierten Beschreibung der Herkunft.
Das Motiv der noblen Lehrerin, die ihren Zögling schließlich auf die rechte Bahn setzt und den Ausbruch ermöglicht, gegen alle familiären (und väterlichen) Widerstände, kennt man so ähnlich auch aus Filmen wie "Billy Eliott", wo es eine schwule kindliche Nebenfigur gibt, die sich in eine glamouröse Show-Welt träumt, um dem sozialen Umfeld zu entkommen.
Es ist ein Wegträumen, das dem jungen Marvin verwehrt ist, weil er nicht gelernt hat, wie das funktioniert. Er entwickelt nicht von selbst eine Fluchtstrategie, er ist passives Opfer der Verhältnisse. Bis ihm jemand den Ausweg zeigt. Und sich dann Isabelle Huppert höchstpersönlich seiner annimmt. Glück muss man haben. Oder sehr hübsch aussehen. Mit den richtigen Leuten schlafen. Und Bingo. (Auch das ist kein wirklich neues Narrativ.)
"Vollwertige" Geschichten nur mit Nahtoderfahrung?
Warum ist es trotzdem plötzlich topaktuell? Weil es zeitlos gültig ist und sich viele Menschen damit identifizieren können? Weil es den queer-feministischen Teil der Community, der stark über Leiderfahrung(en) argumentiert und sich definiert, daran erinnert, dass auch schwule weiße Cis-Männer intersektionale Analysen verdienen?
Man könnte sich für Édouard Louis und Didier Eribon freuen. Sie haben "Rederechte" und Zugang zu Ressourcen auch für weiße schwule Cis-Männer neuerlich möglich gemacht (falls sie jemals ganz verschlossen waren).
Aber sieht so wirklich die Zukunft aus: dass schwule weiße Cis-Männer nur noch dann öffentlich sprechen "dürfen", wenn sie "poverty class"-Aktivisten sind und/oder vergewaltigt wurden, von einem Mann aus dem arabischen/islamischen Kulturkreis? Sind ihre Geschichten nur dann "vollwertig", wenn sie mit Nahtoderfahrungen verbunden sind?
"Powerty class" ist hierzulande und in Frankreich das gute alte Proletariat bzw. Subproletariat.
"Weiß" sind hierzulande im Gegensatz zu den USA eigentlich fast alle, die auf verschiedenen Seiten der 'interkulturellen' Fronten stehen. Die Gastarbeiter-Rentner-Väter meiner Freunde mit Migrationshintergrund auch. Und auch der georgischstämmige 'islamisch' frömmelnde Reaktionär Erdogan ist ein "weißer Cis-Mann", der sich augenscheinlich mit Trump. Putin und Orban prima versteht.
Ich wurde als Arbeiterkind im Land des rosa Winkels geboren, als der Paragraf, der uns ins KZ brachte, noch galt (da können wiederum Franzosen nicht mitreden).
Fazit: Privilegien sehen anders aus!