Filmemacher Rosa von Praunheim feierte im vergangenen Jahr seinen 75. Geburtstag (Bild: Michael Mayer / flickr)
Rosa, du hast dich bereits mit deinem Film "ACT – Wer bin ich?" mit einem Teil von Neukölln auseinandergesetzt, jetzt gibt es "Überleben in Neukölln" (Amazon-Affiliate-Link ) auf DVD. Woher stammt dein Interesse für diesen Berliner Bezirk?
Nun, alle Welt spricht von Neukölln, keiner mehr von Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, geschweige denn von Kreuzberg. Neukölln zieht interessante Menschen aus der ganzen Welt an. Das hatte am Anfang vor zehn Jahren sicher mit den billigen Mieten zu tun. Mein Mitarbeiter und Ko-Regisseur des Films, Markus Tiarks, wohnt in Neukölln und berichtete mir von der spannenden Entwicklung des Stadtteils. Er zeigte mir die kleine Galerie von Juwelia, in die ich mich gleich verliebte. Ich liebte ihre naive Kunst, ihren trashigen Glamour in ihren sirenenhaften Gesang.
Viele deiner Filme wirken oftmals sehr spontan. Wie stark lässt du Spontanität und Zufall in den Film mit einfließen oder ist das Drehbuch von vornherein klar?
Meine Filme sind oft sehr improvisatorisch. Ich freue mich, wenn meine Protagonisten mit ihrer Fantasie meine Filme bereichern. Genau geplante Filme finde ich für mich langweilig. Dreharbeiten müssen mich immer wieder überraschen.
Kaffee und Kuchen bei Mischa Badasyan (Bild: Elfi Mikesch / missingFILMs)
Wie hast du diese spannenden Protagonisten, die du in dem Film präsentierst, gefunden?
Wer sucht, der findet. Ich habe mich schon immer für originelle, außergewöhnliche Menschen interessiert. Zum Beispiel für den Sänger und Tänzer Joaquin la Habana, den ich in den Achtzigern in meinem Film "Stadt der verlorenen Seelen " besetzte. Ich war erstaunt, dass er immer noch aktiv ist, mit seinem Freund, einem Kriegsreporter, in Neukölln lebt, gemeinsam mit seinem Sohn seiner verstorbenen Frau. Der Sohn, ein Teenager, findet es bereichernd, mit zwei Männern aufzuwachsen.
Ich lernte die Galerie von Markus kennen, der dort seine Aktfotos ausstellt. Als er sich nämlich in einen meiner Praktikanten verliebt hatte, plante er ihm jeden Tag ein fantasievolles Aktfoto von sich zu schicken. Das "Art Magazine" entdeckte ihn und empfand es als schönste Liebesgeschichte des Jahres. Durch Markus lernte ich Mischa kennen, dessen Kunst darin bestand, ein Jahr lang jeden Tag mit einem anderen Mann Sex zu haben und es zu dokumentieren.
Sehr aufregend war meine Begegnung mit der syrischen Sängerin Enana, die erzählte, wie schwer es war, als lesbische Frau in Damaskus zu leben, und wie sie staunend hier in Berlin die Frauenszene genießt.
Die DVD zum Film ist bei missingFILMs erschienen
Nach Vierteln wie Kreuzberg und Mitte ist die Gentrifizierung nun auch in Neukölln kaum mehr zu übersehen. Welche weiteren Berliner Bezirke werden deiner Meinung nach in Zukunft damit zu kämpfen haben?
Es ist schrecklich zu sehen, wie überall in Berlin die Mieten steigen und Menschen vertrieben werden. Ich kenne das aus New York, das ich in den Siebzigerjahren in Zeiten von Andy Warhol und seinen Superstars lieben lernte. Inzwischen ist Manhattan so langweilig wie Berlin-Mitte mit seinen Coffeeshops und Modegeschäften.
Ich denke, dass Berlin auch diesen Weg gehen wird. Deshalb ist mein "Überleben in Neukölln" schon ein Zeitdokument einer bald vergangenen Epoche.
Infos zur DVD
Überleben in Neukölln. Dokumentarfilm. Deutschland 2017. Regie: Rosa von Praunheim, Markus Tiarks. Mitwirkende: Juwelia, José Promis, Kandis Williams, Rixdorfer Perlen, Wilfriede Richter, Markus Tiarks, Mischa Badasyan, Lothar Wiese, Joaquin La Habana, Siboney La Habana, Bernhard Beutler, Dani Alor, Ala, Zaitonnah, Aydin Akin, Marcel Weber, LCavaliero Mann, Patsy l'Amour laLove, Enana Alassar. Laufzeit: 82 Minuten. Sprache: deutsch-englische Originalfassung. Untertitel: Englisch (optional). FSK 12. missingFILMs