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"Von der natürlichen Ordnung der Dinge weggeführt"

Im Bett mit der ganzen Familie

Vor 50 Jahren wurde Pier Paolo Pasolinis Filmklassiker "Teorema" uraufgeführt – ein früher Angriff auf Heteronormativität und Doppelmoral.


Sohn Pietro und der Fremde schlafen zusammen im selben Zimmer

Im Film "Teorema – Geometrie der Liebe" von Pier Paolo Pasolini – uraufgeführt am 5. September 1968 – kommt ein geheimnisvoller Fremder in eine bürgerliche Familie und hat zärtlich-sexuelle Begegnungen mit dem Vater, der Mutter, dem Sohn, der Tochter und der Hausangestellten. Der Unbekannte gleicht einem Heiligen, der nicht nur Liebe, sondern auch Erkenntnis bringt. Als er später die Familie verlässt, zerbricht die bürgerliche Fassade und lässt alle Beteiligten in eine große Leere stürzen. Als Reaktion auf dieses innere Chaos lässt sich die Mutter mit jungen Männern ein, die Hausangestellte wird zur meditierenden Heiligen und die Tochter verfällt dem Wahnsinn.

Dieser fremde Mann hat keinen Namen, er ist charismatisch, attraktiv und hat eine natürliche Erscheinung. Dass er gerne Texte von Arthur Rimbaud liest, ist nicht nur aussagekräftig in Bezug auf Rimbauds Bisexualität, sondern auch, weil sich in Rimbauds Schriften das Grotesk-Obszöne mit dem Sublim-Sakralen mischt.


Der Fremde als Lichtgestalt

Zu einer ähnlichen und ebenfalls nicht leicht zu dechiffrierenden Andeutung kommt es später, als der Fremde mit dem jungen Gesamin aus Tolstois "Tod des Iwan Iljitsch" verglichen wird. Der Fremde wirkt wie ein Heiliger oder Gott, manchmal auch wie ein Engel bzw. ein gefallener Engel. Einige sehen in ihm den Schutzgeist des Hauses. Über seine Herkunft weiß man nichts, womit er losgelöst von gesellschaftlichen Kategorien erscheint. Männer und Frauen liegen ihm gleichermaßen zu Füßen. Es gibt kein männliches Pendant zur "Femme fatale" – auf ihn würde es zutreffen. Er ist männlich – und dabei weder Macho noch Softi. Nach Pasolini hat er mütterliche und väterliche Verhaltensweisen, was Rezensenten als "geistige Androgynie" bewerten.

Verkörpert wird der Fremde durch den Schauspieler Terence Stamp, einem der führenden Darsteller des italienischen Neorealismus. Schon dessen Debütrolle war homoerotisch angelegt und als "Billy Budd" (1962) verdrehte er Männern den Kopf. Drei Jahre nachdem er in "Teorema" einen Rimbaud-Leser verkörperte, spielte er in "Una stagione all'inferno" (1971) selbst Arthur Rimbaud, dessen Liebe zu Paul Verlaine hier jedoch nicht deutlich wird. Den heutigen Liebhabern queerer Kinofilme wird Stamp aber vor allem durch seine überzeugende Darstellung der streitbaren Transperson Bernadette bzw. Ralph in "Priscilla – Königin der Wüste" (1994) in Erinnerung bleiben.

Die Begegnung mit dem Sohn Pietro

Pietro ist der brave und schüchterne Sohn dieser bürgerlichen Familie, in dessen Schlafzimmer auch der Fremde untergebracht wird. In der ersten gemeinsamen Nacht schämt sich Pietro zunächst, sich gegenüber dem Fremden nackt auszuziehen. Schnell erwacht sein Interesse am nackten Körper des Fremden und er zieht dem vermeintlich Schlafenden die Bettdecke weg, um ihn näher zu betrachten. Er ist erkennbar aufgewühlt und hin- und hergerissen zwischen seinem bürgerlichen Moralempfinden und dem begehrenswerten Körper.

In einer weiteren Schlafzimmerszene sitzt er zusammen mit dem Fremden auf dessen Bett und sie sehen sich gemeinsam Zeichnungen in einem Bildband an. Wer diese abstrakten Zeichnungen kennt, kann sie Francis Bacon zuordnen, der sie im Kontext der Kreuzigung von Jesus Christus schuf und mit denen Pasolini vermutlich sein Verständnis von Religion transportieren wollte.

Weil Francis Bacon schwul war, kann man in dieser Szene eine künstlerische Sublimierung schwuler Sexualität hineininterpretieren. Die Zeichnungen können zudem einen dezenten Vorverweis auf die spätere Entwicklung von Pietro zum abstrakten Künstler darstellen. Pietro legt während des Betrachtens der Zeichnungen schüchtern und freundschaftlich seine Hand auf die Schulter des Fremden.


Nicht nur Sohn Pietro begehrt den Fremden

Homosexualität wird hier und in anderen Szenen im Kontext mann-männlicher Freundschaften ausgedrückt. Später sieht man, wie Pietro und der Fremde ihre Betten zusammengeschoben haben, um in einem Bett zu schlafen – es sind romantisch-sinnliche Bilder einer psychischen und physischen Nähe. Das schwule Kopfkino kann hier auch ohne Sexszenen auf Hochtouren laufen.

Als der Fremde die Familie verlässt, ist auch Pietro verzweifelt: "Es gelingt mir nicht mehr, mich selber zu erkennen. Das, was mich so sein ließ wie die anderen, ist zerstört. […] Du hast mich verändert. Von der natürlichen Ordnung der Dinge weggeführt. […] Was wird jetzt aus mir werden? […] Ich muss vielleicht bis auf dem Grund kommen, von diesem anderen Leben, dass du mir offenbart hast und dass meine verborgene, ängstliche Natur ist. Wird das, auch wenn ich nicht will, mich nicht gegen alles stellen, gegen alle?" Seine Worte verweisen deutlich auf die Notwendigkeit von dem, was wir heute Coming-out nennen und was früher mit der schwierigen Entscheidung zwischen Konformismus und Außenseitertum verbunden war.

Allein auf sich gestellt, entwickelt sich Pietro zum Künstler. Seine Selbstgespräche verdeutlichen die Parallelen zwischen befreiter Kunst und befreiter Sexualität: "Man muss eine eigene Welt schaffen, mit der keine Vergleiche möglich sind, für die es bisher noch keine gültigen Maßstäbe gibt. […] Es muss aufgebaut sein auf Regeln, die unbekannt sind und über die man deshalb auch nicht urteilen kann." Auf ein blaues Gemälde pinkelt er, ein anderes Gemälde kreiert er mit geschlossenen Augen. Seine Kunst besteht unter anderen aus sogenannten Action Paintings – bekannt und inspiriert vom US-Künstler Jackson Pollock.

Hier lohnt sich ein Vergleich mit einem jüngeren Film, der ebenfalls befreiendes Malen als Parallele zum befreienden Coming-out inszeniert: In "Ich habe meine Mutter getötet" (2009) sieht man Regisseur und Hauptdarsteller Xavier Dolan beim Action Painting, wobei mit viel Phantasie nur bei Dolan und nicht in "Teorema" die herausspritzende Farbe als eine symbolische Parallele interpretierbar ist. Bei Pasolini wirkt der nun über sich selbst reflektierende Pietro mit seiner Malerei jedoch nicht glücklich, sondern trägt – wie andere Mitglieder der Familie auch – Züge des Wahnsinns in sich. Im Gegensatz zu den verspielten Anfangsszenen mit seinen Freunden und seiner Freundin scheint er nun erwachsen geworden zu sein. Die Villa hat der Eltern hat er verlassen, die wie ein goldener Käfig für ihn war.

Der Regisseur Pasolini bedient mit abstrakter Kunst zwei schwule Klischees gleichzeitig. Das Klischee des schwulen Künstlers fußt auf der Vorstellung, sich selbst zu verwirklichen bzw. über die Kunst Homosexualität zu sublimieren und zu ästhetisieren. Die Gleichsetzung von abstrakter Kunst und Homosexualität ist von Pasolini spannend und unproblematisch inszeniert. Dass diese Gleichsetzung auch problematisch sein kann, zeigt der erste deutsche schwule Nachkriegsfilm "Anders als Du und Ich" (1957), bei dem der als Nazi-Regisseur bekannte Veit Harlan die abstrakte Kunst verwendet, um mit ihr als negatives homosexuelles Klischee Schwule zu diskreditieren.

Pietros Rolle wird von Andrés José Cruz Soublette verkörpert, der als Schauspieler in nur wenigen Filmen wie "Seid nett aufeinander" (1968) auftrat, wo im Rahmen von freier Liebe durch ein Los täglich neue Paarkonstellationen festgelegt werden.

Die Begegnung mit dem Vater Paolo

Der Vater Paolo verkörpert als Fabrikbesitzer die Bourgeoisie und den Kapitalismus. Als er sich der erotischen Ausstrahlung des Fremden auf sich und seinen Sohn bewusst wird, kann er nachts nicht mehr ruhig schlafen. Er steht auf und wird von einem Lichtstrahl geblendet, den er versucht mit erhobener Hand abzuwehren. Das ist dermaßen Overacting, dass dadurch auch die symbolische Bedeutung klar wird. Vermutlich geht es um Licht als – auch religiöses – Symbol für Erkenntnis. Paolos Versuch danach mit seiner Frau zu schlafen, wirkt wie ein verzweifeltes heterosexuelles Begehren.

Nach der sexuellen Begegnung mit dem Fremden erkrankt Paolo und muss das Bett hüten. Bei dieser Szene drängen sich Parallelen zum (einige Jahre später verfilmten) Thomas-Mann-Roman "Tod in Venedig" auf: Beides sind schließlich schwule italienische Liebesgeschichten ohne Happy-End, die von großen Regisseuren aufwendig verfilmt wurden, und in beiden wird Krankheit so als Metapher verwendet, als wäre Homosexualität pathologisch.


Der Fremde und die Füße des Vaters

In "Teorema" setzt sich der Fremde zu Paolo ans Krankenbett, zieht die Bettdecke zurück und legt Paolos Füße auf seine Schultern. Wer möchte, kann hier eine Geste zur Stabilisierung von Paolos Kreislauf sehen. Es gibt Rezensenten, die bei dieser Geste Analverkehr vor Augen haben ("And how could any gay guy forget that scene from Teorema where Terence Stamp fucks him"). Das ist nicht nur nachvollziehbar, sondern vom Szenenaufbau mit dem Fremden als aktiven Part auch evoziert. Spannender als die einfache Reduzierung dieser Szene auf das Sexuelle ist jedoch gerade die Hervorhebung der Doppeldeutigkeit, mit der sich Pasolini so an der Zensur vorbeimogelte.

Kurz danach sieht man beide Männer beim Autofahren. Sie halten an und tauschen ihre Plätze, der Fremde übernimmt das Steuer und wird so vom Beifahrer zum Fahrer. Dies kann ein Ausdruck dafür sein, dass der Fremde eine aktivere Rolle in Paolos Leben übernimmt. Eine solche Auto-Symbolik lässt sich jedoch – ich erinnere an den Film "Sexgeflüster" (2007) – auch dafür einsetzen, um bei Schwulen eine Veränderung der sexuellen Rolle vom Passiven zum Aktiven anzudeuten.

Wegen seines Moralempfindens und seiner inneren Verwirrung sucht Paolo zweimal das Gespräch mit dem Fremden und sagt zu ihm: "Du hast mich verführt, Gott, und ich habe mich verführen lassen." Bei weiteren Ausführungen muss der Zuschauer den Eindruck von einem ungewollten Outing bekommen: "Ich bin Gegenstand des Hohns geworden. Jeden Tag. Jeder treibt seinen Spott mit mir. Ja, ich habe gefühlt, wie sie mich verleumden. […] Du hast einfach die Vorstellung zerstört, die ich immer von mir gehabt habe. Jetzt sehe ich überhaupt nichts mehr, was mich in meiner Identität mit mir wiederherstellen könnte. […] Ich habe das Gefühl, ich bin für diese Gesellschaft gestorben. Ein vollständiger Verlust meiner selbst."

Nachdem der Fremde die Familie verlässt, verschenkt der Vater seine Fabrik an die Arbeiter. Am Bahnhof nimmt er Blickkontakt mit einem jungen Mann auf und überlegt sich, ihm zu folgen. Auch hier ist das schwule Kopfkino angesprochen, weil Bahnhöfe zu dieser Zeit auch Orte mann-männlicher Prostitution und anonymer homosexueller Kontakte waren. Doch statt zu versuchen, mit einem anderen Mann das sinnliche Erlebnis mit dem Fremden zu wiederholen, macht er etwas Unerwartetes: Paolo zieht sich nackt aus und wandert vom Bahnhof bis in die Wüste.


Der Vater nackt in der Wüste

Nacktheit und Wüste sind Symbole des Existenziellen. Die Wüste ist auch ein klassischer Topos für innere Leere und das Nichts. Nach der Bibel und Pasolini ist es auch ein Ort der Prüfung. Ein Rezensent sieht in der Wüste zudem eine Allegorie auf Homosexualität, denn schließlich scheint in der Wüste kein Leben zu existieren, was sich als Parallele zu dem Umstand deuten lässt, dass Homosexualität zu dieser Zeit totgeschwiegen wurde und nicht zu existieren schien. Der Film endet damit, dass in der Wüste der nackte Paolo seine tiefe Verzweiflung und seine Befreiung laut herausschreit – ohne Kleidung, ohne Fabrik, ohne Hoffnung und ohne Zukunft.

Der Vater wird von dem Schauspieler Massimo Girotti verkörpert, der auch einige andere Erfahrungen mit schwulen Rollen und schwulen Regisseuren gemacht hat. Bei dem schwulen Regisseur Luchino Visconti hatte er in dessen ersten Film "Besessenheit" (1942) die Hauptrolle des Gino bekommen, dessen Freundschaft mit einem Spanier einige homoerotische Zwischentöne enthält. In seinem letzten Film "Das Fenster gegenüber" (2003) verkörperte Girotti einen schwulen Bäcker. Der Regisseur dieses Films ist Ferzan Ozpetek – bekannt von Filmen wie "Hamam" (1997) und "Männer al dente" (2010).

Pasolini und sein Buch "Teorema"


Pasolinis Buch "Teorema oder Die nackten Füße" bildete die Grundlage für den Film

Pasolini lebte seine Homosexualität offen aus – bevorzugt mit jugendlichen Strichern aus der römischen Vorstadt. Sein Buch "Teorema oder Die nackten Füße" nahm er als Grundlage für seinen Film. Dieses Buch ist kein Roman, sondern ein gewöhnungsbedürftiger essayistischer Mix aus Geschichten, Gedichten und Bibelsprüchen. Die Grundaussagen in Buch und Film gleichen und ergänzen sich. Beide sind gleichermaßen pessimistisch und bar jeder positiven Gesellschaftsutopie. Pasolinis dystopische Sicht steigerte sich später sogar noch bis zu seinem Film "Die 120 Tage von Sodom" (1975).

Im Zusammenhang mit Homosexualität weisen die beiden "Teorema"-Medien einige Unterschiede auf. So geht es im Buch um einen Kunstband von Wyndham Lewis, im Film um einen von Francis Bacon. Das Verhältnis von Pietro zum Fremden ist im Buch deutlich homo­erotischer. Nach dem Buch sind Pietro und der Fremde "ganz erfüllt von einer reinen, tiefen Leidenschaft – wie man sie im Leben nur einmal hat". Als sie gemeinsam in einem Bett übernachten, halten sich "ihre halb aufgedeckten Leiber […] umschlungen […] ihre Glieder sind warm von intensiver, blinder Vitalität".

Auch Paolos Leidenschaft für den Fremden fällt im Buch deutlicher aus. Im Film tätschelt er nur ein bisschen die Wange des Fremden. Im Roman "liebkost" er ihn. "Er streichelt ihn mit der Hand – die nie andere liebkost hat, außer seiner Frau und etlichen schönen und eleganten Geliebten". Im Roman spreizt der Fremde am Flussufer des Pos seine Beine und gibt sich Paolo hin, während man im Film aus dem Off nur einige missverständliche Äußerungen über "Verführung" hört.

Nur durch den Roman wird klar, das diese "Verführungssprüche" eigentlich Bibelzitate sind. Der Sinn dieser doppeldeutigen und aus dem Kontext gerissenen Bibelzitate bleibt genauso wenig verständlich, wie die Bezeichnung von Paolos Bahnhofs-Cruising als "Vorhölle". Manchmal sorgt der Roman aber nicht nur für Verwirrung, sondern auch für etwas mehr Klarheit: Während im Film Paolos Gefühle, als er seinen Sohn mit dem Fremden im Bett vorfindet, nicht deutlich wird, war er nach dem Buch nicht etwa wütend oder traurig, sondern "gerührt".

Es ist nachvollziehbar, dass Pasolini in seinem Film vorsichtiger als in seinem Buch agieren musste, weil Filme wegen ihrer unmittelbareren Wirkung auf den Zuschauer viel eher der Zensur unterliegen. Der Eindruck von Pasolinis sexueller Offenheit im Buch schwankt jedoch. Mal schreibt er mutig, frech und leider kontextlos vom "Sperma" eines Jungen und der "wohlgeformten, zärtlichen und machtvollen Rute eines Zentauren", betont aber bei der Beschreibung der Cruising-Szene am Bahnhof auch seine "Schüchternheit und Angst" beim Schreiben.


Filmposter aus dem Jahr 1968

Die Rezensionen

Von den vielen recht unterschiedlichen Rezensionen möchte ich auf zwei näher eingehen. Katrin Holthaus betont in ihrer Dissertation "Im Spiegel des Dionysos. Pier Paolo Pasolinis 'Teorema'" (2001) die Parallelen zwischen dem Fremden und dem griechischen – sexuell nicht immer eindeutigen – Gott der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, wobei sie aber auch andere Interpretationen wie Gott, Engel oder Jehova stehen lässt. Indirekt kritisiert sie den Umstand, dass zeitgenössisch oft versucht wurde, Pasolinis Werk mit einem Hinweis auf seine Homosexualität zu diskreditieren. "In den meisten Sekundärwerken fällt die Tendenz auf, [auch das Werk "Teorema"] an das Leben des Autors rückzubinden und dort nach Indizien einer psychischen Störung oder Ursachen seiner Homosexualität zu fahnden". Für die Autorin ist es "auffallend wie irritierend", wenn die Rezensenten dabei auf biografischer Ebene einen Realitätsbezug sehen, aber die schwulen Filmszenen in "Teorema" nur als allegorisch betrachten. Es ist richtig, dass sie dabei nicht die Legitimität in Frage stellt, Bezüge zwischen der Homosexualität des Verfassers und seines Werkes aufzuzeigen.

Spannend finde ich einige Ausführungen von Barbara Vinken in ihrem Aufsatz in "Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman" (1995). Sie lobt zu Recht die Lichtgestaltung, wo der Lichtstrahl bei dem Fremden so ins Gesicht und ins Geschlecht fällt, als würde man sich in einem Gemälde von Caravaggio befinden. Auch mir fiel auf, dass der Fremde – als blendende Lichtgestalt inszeniert – meistens in weißer Oberbekleidung zu sehen ist. Auch mein Blick fiel auf seine Unterhose, zu der Vinken schreibt: "Die Unterwäsche ist von makellosem, wunderbar strahlendem, übernatürlichem Weiß, sein 'unbefleckter Slip' strahlt die Qualität einer Reliquie aus".

Hier wäre mein Vorschlag, beim Slip eines Mannes, der mit fünf Männern und Frauen sexuell verkehrt, in der weißen Farbe seiner Unterhose nicht unbedingt die symbolische Farbe sexueller Unschuld zu vermuten. Die Unterschiede zwischen ihrer und meiner Wahrnehmung werden jedoch vor allem bei ihren konkreteren Äußerungen zur Sexualität deutlich: "Sein Eros kommt ohne einen obszönen Twist nicht aus, […] der zwar immer abgewendet, aber doch immer evoziert wird." Dieser Satz ist gleich doppelt falsch, denn zum einen ist der vorsichtig-zärtliche Sex in diesem Film nie "obszön" im Sinne von "schmutzig" oder "schamlos". Zum anderen wird der Sex im Film auch nicht "abgewendet", sondern allenfalls "abgeblendet".

Am schlimmsten finde ich jedoch ihre Äußerung: "Der religiöse Ausdruck der göttlichen Offenbarung und der fast mystisch-liebenden Begegnung mit Gott wird 'vergewaltigt' durch Umbiegung vom Hohen ins Niedrige, durch Entsublimierung." Es ist ein Blick auf Sexualität aus der spießbürgerlichen Moral der Fünfzigerjahre heraus: Die geistig-seelische Liebe zu Gott wird als gut und die körperlich-sexuelle Liebe zwischen Menschen als schlecht angesehen. Ich habe ein anderes Verständnis von Gott: Wenn ein Gott etwas gegen schwulen Sex hat, ist er nicht mein Gott. Vinken wünscht sich offenbar mehr Sublimierung und weniger Sex – ich wünsche mir mehr Sex, der gerne auch symbolisch eingekleidet sein darf. Vinken bedauert, dass in diesem Film "Normalität und Moral […] zerstört" werden. Ich finde es gut, dass in diesem Film Heteronormativität und Doppelmoral "zerstört" werden.

Bewertung

"Teorema" ist irgendwo zwischen einem mystischen Märchen und einer paranoiden Parabel angesiedelt – aufwändig inszeniert und inspirierend erzählt. Es ist jedoch kein Film, der sich für einen klassischen Unterhaltungsabend mit Popcorn eignet und der keine realistische Geschichte erzählt. Beides will der Film aber auch gar nicht.
Die erzählte Geschichte kommt weitgehend ohne Sprache aus und es fällt auf, dass sich der Fremde nie im Dialog mit anderen befindet.

Dieser weitgehende Verzicht auf Sprache ist zunächst nicht besonders tragisch, weil ein Film durch Bilder und nicht durch Worte wirken sollte – auch wenn Sprache vielleicht für etwas mehr Klarheit gesorgt hätte. Ein Rezensent sieht im weitgehenden Fehlen von Sprache – in Anlehnung an Oscar Wilde – eine Andeutung auf die (homo­sexuelle) Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt. Man könnte als Parallele auch auf Sprachen verweisen, in denen es kein Wort für Homosexualität gibt. Das hört sich zwar alles gut an, stimmt aber nicht. Der Grund für diesen Umgang mit Sprache ist banaler: Pasolini glaubte, durch Texte nicht mehr die Wirklichkeit transportieren zu können. Es bleibt die Irritation, dass dies ein Regisseur sagt, der zwei Jahrzehnte lang als Schriftsteller Artikel, Gedichte und Romane publizierte.

So schwierig wie der Film ist auch sein Titel zu erklären. Eine Möglichkeit besteht darin, "Teorema" als die Normen eines Systems zu verstehen und dies auf die Gesellschaft zu übertragen. Der Film übernimmt dabei eine formal strenge Gliederung und Erzählstruktur und zeigt modellhaft die Stationen von fünf Protagonisten: Verführungen, Bekenntnisse und Transformationen im Rahmen von Mustern, mit denen Menschen reagieren.

Aufgrund einzelner Nacktszenen wurde der Film in Italien wegen "Obszönität" beschlagnahmt. Vor Gericht gab es einen Freispruch, und "Teorema" wurde nun zu einem poetischen Werk erklärt, für das die Freiheit der Kunst gilt. Bei der Biennale in Venedig 1968 gewann der Film den Preis der Internationalen katholischen Filmbüros (OCIC), der ihm später jedoch wieder aberkannt wurde. Beide Geschichten verdeutlichen, wie schwierig es auch schon zeitgenössisch war, diesen Film im Kontext von Sexualität und Religion zu bewerten.


Nacktszene aus dem Film

Der Film ist künstlerisch beachtenswert, auch wenn viele Szenen nur schwer oder gar nicht zu entschlüsseln sind. Einige Rezensenten glauben, dass man den Film versteht, wenn man ihn mehrfach sieht und sich intensiv mit den Leben von Pasolini beschäftigt. Solche Äußerungen stören mich. Zum einen mag ich keine Filme, die erst bei näherer Kenntnis der Lebensumstände des Regisseurs einen Sinn ergeben. Zum anderen glaube ich, dass dieser oft unproduktiv mystische Film auch für hartgesottene Liebhaber von Arthouse-Filmen über weite Strecken unzugänglich bleibt.

Vermutlich muss man an Gott oder wenigstens daran glauben, dass der Film in Bezug auf schwule Filmgeschichte oder auf Pasolini Leben einige Aussagen bereithält, um diesen Film zu genießen. Auch wer sich intensiv mit dem Leben des schwulen Kommunisten Pasolini beschäftigt, kommt nicht immer weiter und wird mit Widersprüchen konfrontiert. Einige Autoren verweisen auf seine unterschiedlichen sexuellen Identitätskonzepte. Andere betonen dagegen, dass Homosexualität bei Pasolini nie ein theoretisches Konzept war, sondern vor allem eine starke archaische Kraft, die sich unabhängig von der politischen und gesellschaftlichen Situation auch dort immer eine Bahn bricht, wo sie verboten und verfolgt wird.

Auch nach einem halben Jahrhundert scheint der Film seine Geheimnisse nicht preiszugeben. Wenn im fremden Mann – der Liebe, Sex, Krankheit und Selbsterkenntnis bringt – der liebe Gott, die Schlange im Paradies, aber auch der böse Teufel gesehen werden kann, ist die Bedeutungsebene zur Beliebigkeit verkommen. Auch Werner Schroeters "Der Rosenkönig" (1986) ist vollkommen symbolüberfrachtet, hat aber im Gegensatz zu "Teorema" nachvollziehbare und verständliche Aussagen zu schwulen Lebenswelten. "Teorema" gleicht einem Gemischtwarenladen, bei dem nicht nur Christen und Kommunisten, sondern auch Heteros und Homos die für sie passenden Projektionsflächen finden. Ken Hanke schrieb im "Mountain Xpress": "Die Geheimnisse des Films sind so undurchdringlich wie die des rätselhaften Besuchers. Sie werden es entweder brillant oder verrückt finden. Und keine Antwort wäre falsch."

Handelt der Film von Homosexualität? Ist eine Sexualität erstrebenswert, bei der das Geschlecht keine Rolle mehr spielt? Fördert die Akzeptanz der eigenen Homosexualität immer auch das kreative Potenzial und die Fähigkeit der Selbstreflexion? Werden die Männer in diesem Film – nach dem erreichten Erkenntnisgewinn – aus dem "Paradies" des bürgerlichen Lebens vertrieben? Schwule können unterschiedlichen Antworten finden. Und keine Antwort wäre falsch.

In Köln wird Erwin In het Panhuis am Dienstag, den 4. September um 20 Uhr im Barcelon Colonia (Pipinstraße 3) einen Multimedia-Vortrag zum Film "Teorema" halten. Der Eintritt ist frei!

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Galerie:
Teorema
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#1 GuillaumeAnonym
  • 18.08.2018, 14:07h
  • Das war mal ein ausführlicher und sehr in die Tiefe gehender Artikel, gefällt mir! Besser als eine bloße knappe Inhaltsangabe, es hat schon eher was von einem wissenschaftlichem Essay.

    Vielen Dank und gerne wieder.
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#2 paulsenftenbergAnonym
  • 18.08.2018, 16:14h
  • sehr interessanter text, ich habe ihn mit genuss gelesen und werd mir nun den film besorgen!
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#3 LotiAnonym

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