Über vier Monate nach dem umstrittenen Gastartikel von Sahra Wagenknecht in der "Welt" und heftiger Kritik aus der Community ist nun auch DIE LINKE.queer auf Distanz zur Fraktionschefin der Sozialisten im Bundestag gegangen – ohne sie allerdings namentlich zu erwähnen.
In dem Artikel vom 25. Juni hatte Wagenknecht die Ehe für alle als Ablenkungsmanöver kapitalistischer Politik dargestellt und in einem Satz mit dem sozialen Aufstieg von wenigen verknüpft. "Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten", hieß es u.a. im Text der Fraktionschefin. Der LSVD hatte die "falsche wie gefährliche Diagnose" ebenso kritisiert wie queer.de-Geschäftsführer Micha Schulze, der Wagenknecht vorwarf, Homophobie zu schüren und den jahrzehntelangen Kampf von LGBTI-Aktivist*innen zu verhöhnen.
"Klassenzugehörigkeit steht nicht im Widerspruch zu sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität", heißt es nun auch in der "Erklärung zur Situation in der Partei", die die Bundesdelegiertenkonferenz von DIE LINKE.queer am 3. November verabschiedet hat.
Diskriminierung potenziere sogar "die ohnehin vorhandene Unterdrückung im Kapitalismus", schreibt die LGBTI-Organisation der Sozialisten Wagenknecht ins Stammbuch. "Deshalb ist auch entschiedener Widerspruch gegen all diejenigen notwendig, die auch aus unserer Partei heraus die soziale Frage gegen Menschenrechte auszuspielen versuchen – denn für diese Menschenrechte stritten linke Bewegungen weltweit gegen einen erbitterten Widerstand an."
Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung von DIE LINKE.queer im Wortlaut. (cw)
Erklärung zur Situation in der Partei
Die Kämpfe für eine Aufhebung des Abtreibungsverbots, gegen die Kriminalisierung von Homosexualität und Ehebruch, für die Gleichstellung von Frauen und für eine umfassende Sexualaufklärung waren und sind seit weit mehr als 100 Jahren elementare Bestandteile linker Politik.
Dass die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen einerseits Voraussetzung und andererseits Resultat einer Bewegung für die gesellschaftliche Befreiung des Menschen ist, gehört seit langem zu den wichtigen Erkenntnissen der Arbeiter*innenbewegung.
DIE LINKE kann stolz darauf sein, in dieser Tradition zu stehen. So, wie sie stolz darauf sein kann, in der Tradition all derjenigen zu stehen, die gegen Kriegskredite und Aufrüstung, gegen den Faschismus, für Arbeitszeitverkürzungen und für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekämpft haben und kämpfen, um nur einige Bespiele zu nennen.
Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird, heißt es in unserem Parteiprogramm.
Diese programmatische Kernaussage und unsere historischen und aktuellen Erfahrungen in politischen Kämpfen dürfen nicht zur Disposition gestellt werden. Daher betrachten wir mit großer Sorge, wenn durch Stimmen in unserer Partei der Kampf um gleiche Rechte für alle Menschen zwar als wichtig, aber mit einem "aber" versehen wird, weil es "wichtigeres" gäbe, nämlich eine stärkere Fokussierung auf die soziale Frage und die Konstituierung der Klassen.
Diese Schwerpunktsetzung erkennen wir an, wenn damit andere politische Ansätze, die in unserer Partei verankert sind, nicht abgewertet werden. Denn es gibt nicht auf der einen Seite die Schwulen, Lesben, Trans* und Inter*, und auf der anderen Seite die Teil- und Vollzeitarbeiter*innen, Leiharbeiter*innen, Alleinerziehenden und Rentner*innen.
Klassenzugehörigkeit steht nicht im Widerspruch zu sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität. Fakt ist doch: Trans* bekommen steigende Mietpreise und Wohnungsnot erst recht zu spüren, homosexuelle Beschäftigte bei kirchlichen Institutionen müssen ständig mit ihrer Kündigung rechnen, queere Menschen verdienen durchschnittlich deutlich weniger als heterosexuelle, nur 30% der queeren Beschäftigten stehen am Arbeitsplatz zu ihrer sexuellen Orientierung. Nicht zu vergessen sind die zahllosen Suizide und Suizidversuchen von Lesben, Schwulen, Trans* und besonders Inter*, die die bestehenden Diskriminierungserfahrungen nicht anders verarbeiten konnten.
Unterdrückung und Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung potenziert die ohnehin vorhandene Unterdrückung im Kapitalismus. Aufgabe unserer Partei ist es, die Interessen derjenigen zusammenzuführen, die unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. Das "verächtlichte Lebenwesen" war schon immer mehr als nur Zugehöriger der subalternen Klasse.
Deshalb ist auch entschiedener Widerspruch gegen all diejenigen notwendig, die auch aus unserer Partei heraus die soziale Frage gegen Menschenrechte auszuspielen versuchen – denn für diese Menschenrechte stritten linke Bewegungen weltweit gegen einen erbitterten Widerstand an – und bis jetzt sind diese auch in Deutschland insbesondere bei Trans* und Inter* nicht gewährt. Widerspruch ist auch notwendig, wenn der "Identitätspolitik"-Begriff aus Teilen unserer Partei irreführend und z.T. diskreditierend genutzt wird.
DIE LINKE.queer hat den Kampf für Menschenrechte immer im Zusammenhang der Kämpfe um eine solidarische Gesellschaft und für einen demokratischen Sozialismus gesehen.
DIE LINKE darf und wird Freiheit nicht gegen Gleichheit setzen. Dafür treten wir ein.
www.queer.de/detail.php?article_id=31471
"Die queeren Bewegungen haben sich währenddessen auf einen emphatischen Begriff der Menschenrechte und der Bürgerrechte gestützt. Zugleich haben sie den sozialen Teil dieser Menschenrechte zumeist ausgeklammert (Ausnahme: Aids-Hilfen), obwohl die skizzierte Entwicklung die Lebensbedingungen auch vieler queerer Menschen deutlich verändert hat. Lebenspartnerschaftsgesetz und die Hartz-IV-Gesetze wurden fast zeitgleich beschlossen, während wir das eine (!!!) gefeiert haben, haben wir das andere (!!!) nicht problematisiert."
[Hervorhebung von mir]
=> Gleiche Methode des Ausspielens, mit der Schlussfolgerung wenige Absätze später:
"Queere Bewegungen sollten also über den eigenen Tellerrand schauen."
Und auf den vorletzten Absatz zu den Dingen, die nach der Ehe für alle queerpolitisch noch wünschenswert wären, wie z.B. eine Änderung des TSG, die allerdings zum Themenbereich "personifizierte Skandale" gerechnet und nach meiner Auffassung bereits durch diese Bezeichnung deutlich herabgewürdigt wurden, folgte schließlich im Fazit:
"Doch plädiere ich dafür, sich nun stärker auf zivilgesellschaftliche Prozesse zu konzentrieren."
Das alles von jemandem, der zu dem Zeitpunkt laut Bildunterschrift Referent für Queerpolitik der Bundestagsfraktion Die Linke ist oder war.
Was ihr jetzt wiedergebt, klingt ja glücklicherweise danach, dass es Leute gibt, die ihrer Fraktionsvorsitzenden weniger blind hinterherlaufen.
Aus einigen lokalen linken Ecken ist mir übrigens bekannt und bewusst, dass das Ignorieren und Beiseitewischen von Minderheitenthemen nach gerade den beschriebenen Mechanismen nicht unbedingt ungewöhnlich oder neu ist; wenigstens ein linkes Blatt in meiner Region betrachtet die Auseinandersetzung mit dem eigenen Status der diskriminierten Gruppe als narzisstische Ablenkung von den eigentlichen Zielen. Was Wagenknecht, aber eben auch Niendel da aufgegriffen haben, gab und gibt es in Teilen des linken Spektrums demnach sehr wohl schon länger; erfunden haben die das nicht.
In dem Sinne wäre es nett, wenn ihr irgendwo die Namen der Hauptverantwortlichen dieses Statements hier erwähnen könntet, weil es offenkundig einen großen Unterschied macht, mit wem konkret man es zu tun hat. Bzw. wüsste ich für meinen Teil einfach gern, wo die Kritik plötzlich herkommt, und wie sie es an einem Referenten für Queerpolitik vorbeigeschafft hat, der seine Meinung schon um 180° hätte drehen müssen, um hier unterschreiben zu können.
Man wünscht sich ja immer, Menschen würden ihre Positionen überdenken. Aber gerade in der Politik sollte man wohl erwarten, dass die Leute sich vorher darauf festlegen, bei welchem Teil der Wählerschaft sie gern fischen wollen.
Wünschen würde ich mir ja, sie hätten ihn zur Zustimmung genötigt oder andernfalls des Amtes enthoben. Aber vermutlich ist die Aufgabe so eines Referenten auch eher die, die Interessen der Parteispitze gegen die queere Minderheit zu vertreten als umgekehrt.