Kundgebung von Inter- und Transaktivisten vor dem Bundestag im Sommer, die – dank CDU/CSU und SPD vergeblich – eine selbstbestimmte Lösung für alle forderten (Bild: Bundesverband Trans / facebook)
Rund 13 Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Gesetzgeber bis Ende 2018 neben den Geschlechtseinträgen "männlich" und "weiblich" für Intersexuelle ein weiteres einführen oder auf die Erfassung verzichten muss, hat der Bundestag am späten Donnerstagabend in dritter Lesung einen Gesetzentwurf (PDF) beschlossen, der seit Monaten als minimale Umsetzung kritisiert wird.
Während Opposition, LGBTI-Verbände und auch die Kläger in Karlsruhe eine umfassende Reform wünschten, die jedem Menschen einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag ermöglichen, betrifft die unter Federführung des Innenministeriums erarbeitete Regelung mit der neuen, dritten Option "divers" ausdrücklich nur Intersexuelle – eine Reform des Transsexuellenrechts mit seinem umstrittenen Gutachterzwang und teils veralteten, teils von Karlsruhe aufgehobenen Regelungen wird nicht gleichzeitig angegangen. Und auch Intersexuelle sollen nun für die Änderung des Geschlechtseintrags, die beim Standesamt beantragt wird und auch eine Änderung des Vornamens umfassen kann, trotz Kritik eine ärztliche Bescheinigung vorlegen müssen.
Die Aktion Standesamt vor wenigen Wochen, eine Unterschriftenaktion und eine Sachverständigenanhörung im Innenausschuss führte zu wenig Einlenken des Bundesregierung. Während Grüne und Linke in dieser Woche noch mehrere ausführliche Änderungs- und Beschließungsanträge für umfassendere Regelungen vorlegten, die auf die Selbstbestimmung von Intersexuellen, Transsexuellen und Transgendern setzen (s. Übersicht über das Verfahren auf der Webseite des Bundestags), konnten sich die Regierungsfraktionen nur auf zwei minimale Änderungen (PDF) einigen: In einzelnen Fällen kann eine eidesstattliche Versicherung statt einer ärztlichen Bescheinigung ausreichen, zudem ändert sich das Verfahren für Kinder, die nicht dem weiblichen und männlichen Geschlecht zugeordnet werden können: Eltern können nun den Eintrag frei lassen oder "divers" wählen, müssen das aber nicht. Operationen an Kindern, auch nicht zwingend notwendige, bleiben aber weiter erlaubt.
Union will keine "subjektiven Empfindungen"
Der CDU-Abgeordnete Marc Henrichmann verwies zum Einstieg der Debatte auf das "staatliche Interesse" eines Eintrags "mit Beweiswert", der keine "subjektive Empfindung" oder Selbsteinschätzung zulasse, da er schließlich Auswirkungen auf viele Rechtsbereiche habe, etwa bei der Förderung von Frauen oder im Feld der Antidiskriminierung. Ein "Schnellschuss", der mehr Gebiete als das vom Bundesverfassungsgericht geforderte umfasse, verbiete sich, auch weil sonst für Betroffene ohne klare Regelung zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes Nachteile drohten.
"Objektive Kriterien" seien notwendig, daher verlange man ein Attest – ein solches läge aber oft schon vor. Henrichmann erinnerte allen Ernstes an den Niederländer, der ein jüngeres Alter einklagen wollte: Das Personenstandsrecht könne nicht jede "subjektiv empfundene Benachteiligung" beseitigen. Man habe letztlich "Sorgen und Nöte von betroffenen Menschen" ernst genommen und mit staatlichen Interessen abgewogen.
Die SPD-Politikerin Elisabeth Kaiser lobte Lucie Veith und die ganze Community, die Druck ausgeübt hatten und der Politik und der Gesellschaft so viele Einblicke in ihr Leben und in notwendige Forderungen gegeben hätten. Der vorgelegte Gesetzentwurf könne "nur ein Anfang" sein – die Abgeordnete zeigte sich aber froh, dass eine schnelle Umsetzung des Urteils erfolgt sei und man nach den Expertenanhörungen mit der Union noch "wesentliche Änderungen am Gesetzentwurf" erzielen konnte, die eine "Verbesserung für die Betroffenen" darstellten.
Für die SPD-Fraktion stelle sie fest, dass "unverzüglich" eine sofortige Überarbeitung des Transsexuellengesetzes unter Berücksichtigung von Selbstbestimmung notwendig sei. Auch beim Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen an Minderjährigen sei sofort zu handeln.
Still wurde der Bundestag, als der FDP-Abgeordnete Jens Brandenburg die fiktive Lebensgeschichte von Anna erzählte, die intersexuell geboren wird, von Eltern medizinisch und persönlich in ein Geschlecht gezwungen wird und nach und nach mit Fragen aufwächst, warum das nicht passt, und aus Sorge vor Ablehnung in der Schule ihr Leben einschränkt. Erst im Alter kommt sie zu einem Selbstbewusstsein. Richtung Regierung fragte Brandenburg: "Warum trauen sie Menschen wie Anna nicht zu, selbst über ihr Geschlecht zu entscheiden? Ein Leben lang war sie in ihrer Geschlechtlichkeit fremdbestimmt und stigmatisiert." Nun garantiere Karlsruhe diesen Menschen endlich eine staatliche Anerkennung ihrer eigenen Identität. "Und ihnen fällt in der Koalition nichts besseres ein, als die Frage des Geschlechts erneut zu reduzieren auf rein körperliche Merkmale und diesen Menschen auch noch abzuverlangen, am Standesamt ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen?"
Sieben von acht Sachverständigen hätten den Entwurf in der Anhörung kritisiert, so Brandenburg. Die eidesstattliche Versicherung sei keine Verbesserung, sondern ein Rechtsrisiko. Der Entwurf zeige keinen Respekt vor inter- und transsexuellen Menschen und sei "reine Schikane".
Auch die Linken-Abgeordnete Doris Achelwilm beklagte, dass für die Union und damit für die Koalition wichtige Punkte "nicht verhandelbar" gewesen seien. Der Entwurf sei "unsensibel und handwerklich unzureichend" und setze weiter auf "medizinische Definitionsmacht" und "Gutachteritis" und letztlich einen Kontrollwahn, der in seinem Geist dem Urteil aus Karlsruhe völlig widerspreche.
Der Grünenpolitiker Sven Lehmann kritisierte ebenfalls unter anderem die "Pathologisierung" und "Bevormundung": "Niemand kann über sein Geschlecht besser Auskunft geben als die Person selber". Stattdessen begegne man dem Bürger mit "Misstrauen" und – der Entwurf stamme "unübersehbar aus dem Haus Seehofer" – "einer Art Grenzkontrolle, die verhindern soll, dass Menschen, die aus Sicht der Koalition nicht das Recht dazu haben, unkontrolliert aus dem binären System ausbrechen". Wie die Linke werde man dem Entwurf daher nicht zustimmen, sondern auf eigene Anträge setzen. Mit dem eigenen fordere man auch eine Entschädigung für Inter- und Transsexuelle, denen mit der bisherigen Gesetzgebung und operativen Zwängen Leid zugefügt wurde.
Der CSU-Politiker Michael Kuffer forderte hingegen eine "nüchterne, auf Fakten basierende Gesetzgebung", die rechtlich und sprachlich unterscheide zwischen Intersexuellen und Menschen, die "biologisch eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind, sich psychologisch aber dem anderen zurechnen". Ohne jede Diskriminierung und mit Verständnis für "beide Phänomene" müsse man "klar unterscheiden", dürfe die "Fallgruppen" nicht "vermischen". Man stehe zur Reform in der vorliegenden Form: Der Gesetzgeber sei der "Validität des Personenstandregisters" verpflichtet, als "Kern der Rechtsordnung" mit "Beweiswert". "Hier darf und wird es mit uns zu keiner Abweichung kommen".
Das lässt sich erneut als klare Absage für einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag für alle verstehen. Die CDU-Abgeordnete Bettina Margaretha Wiesmann betonte hingegen: "Wir bekennen uns ausdrücklich zu einer größeren Reform." 2019 folge ein Verbot von Operationen an Minderjährigen und eine Reform des Transsexuellengesetzes. Die Kritik der Opposition sei "nicht redlich" angesichts des vorliegenden "guten Kompromisses".
Hetze von AfD und Ex-AfD
Die AfD hatte die Debatte rund um das dritte Geschlecht seit Monaten genutzt, um sich über vermeintliche Auswüchse einer "Gender-Ideologie" zu empören und sich vor Anhängern in sozialen Netzwerken oder Wahlkampfauftritten speziell über Transpersonen lustig zu machen. So unterschied die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch zwischen wenigen und quasi kranken Intersexuellen, denen man helfen müsse, und Menschen, die sich angeblich nicht für ihr Geschlecht entscheiden könnten: "Morgens Mann, abends Frau und bei Vollmond noch ganz anders", meinte von Storch bei der ersten Lesung.
Mit Susanne Baer habe man eine LSBTTIQ-Aktivistin statt einer Richterin am Bundesverfassungsgericht, ätzte von Storch am Donnerstag erneut, deren Handschrift beim Urteil deutlich zu erkennen gewesen sei, das "ein Sieg des Irrationalismus über die Vernunft" darstelle. Die erzkonservative Aktivistin beklagte, dass die Union beim Attest "eingeknickt" sei – dabei verlange man doch auch Arbeitsuntauglichkeitsatteste statt Erklärungen, dass jemand "gefühlt krank" sei. Die AfD fordert für Intersexuelle ein ausführliches amtsärztliches Gutachten und den Begriff "inter" statt "divers", da es nur zwei biologische Geschlechter gebe und Intersexuelle sich dazwischen befinden würden.
Hetze kam auch von der fraktionslosen Abgeordneten Frauke Petry: Selbst die Union setze sich dafür ein, "die Schöpfung der beiden Geschlechter als Mann und Frau zu untergraben", kritisierte sie. Eine Regelung für Intersexuelle sei ok, aber eine für Transsexuelle als Strategie von Gender-Ideologen und "Büchse der Gender-Pandora" zurückzuweisen, deren Folgen sie so zusammenfasste: "Gestern die Lebenspartnerschaft, heute die Ehe für alle, morgen Polyamorie und Polygamie. Gestern eine Auslassung im Geburtenregister, heute 'divers', morgen die Einführung von bis zu 60 Geschlechtern je nach Gefühl." Der Streit um die Belange Tausender habe in Karlsruhe und Berlin "mehr Gewicht als die Sorgen von Millionen Vätern oder Müttern".
Bundesrat entscheidet am Freitag
Die Koalition stimmte schließlich für ihren Gesetzentwurf und gegen die übrigen Anträge. Der Entwurf landet nun mit den letzten Regierungsänderungen im Bundesrat, wo er bereits am Freitag behandelt und voraussichtlich durchgewinkt werden wird. Im Beratungsverlauf hatte die Länderkammer keine Stellungnahme abgegeben, nachdem die Mehrheit Anträgen zu einer umfassenderen Gesetzgebung nicht folgen wollte (queer.de berichtete). Der Bundesrat entscheidet am Freitag auch über ein vom Bundestag vor zwei Wochen beschlossenes Begleitgesetz zur Ehe für alle (PDF), das größtenteils Gesetzestexte an die gleichgeschlechtliche Ehe anpasst, die weiterhin bestehende Diskriminierung lesbischer Paare bei der Annahme des Kindes der Partnerin im Vergleich zur Vaterschafts-Regelung des BGB aber nicht antastet.
Update 13.40 Uhr: Bundesrat winkt Gesetz durch
Keine 24 Stunden nach dem Beschluss des Bundestages hat auch der Bundesrat das Gesetz zum "Dritten Geschlecht" passieren lassen. Die Bundesländer verzichteten am frühen Freitagnachmittag auf eine Anrufung des Vermittlungsausschusses und winkten den Entwurf der Bundesregierung damit praktisch durch. Es gab keine einzige Wortmeldung im Plenum. Das gesamte Prozedere dauerte in der Länderkammer gerade mal eine halbe Minute.
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Es war auch absehbar, daß die Hinterbänklerin und ehmalige AfD-Parteivorsitzende Frauke Petry sowie Frau von Storch mit ihren Abgeordnetenschranzen von der jetztigen AfD wieder gebetsmühlenartig ihr Lieblingsthema "Gender-Ideologie" herunterlabern.