Im Rahmen der Kampagne #saveLGBTinRussia demonstrieren in dieser Woche in vielen russischen Städten Menschen in Einzelprotesten mit Plakaten, um auf die Verfolgung in Tschetschenien hinzuweisen. Diese Aufnahme vom Sonntag stammt aus Nischni Nowgorod und zeigt die russischen und tschetschenischen Präsidenten Wladimir Putin und Ramsan Kadyrow, weitere Bilder bietet eine Galerie im sozialen Netzwerk vk
Das russische LGBT Network hat damit begonnen, "Überlebende" der erneut eingesetzten LGBTI-Verfolgung in Tschetschenien aus der Region zu "evakuieren". Wie der Verband am Montag in einer zweisprachigen Pressemitteilung (engl., russ.) bekannt gab, bestätigten die Opfer der neuen Welle den "weitreichenden Charakter der Verfolgung".
Diese habe den Aussagen Betroffener zufolge bereits Anfang Dezember begonnen. Vor rund einer Woche hatte der Verband erstmals von einer neuen Verschleppungswelle berichtet: Demnach seien seit Ende Dezember um die 40 Personen, Männer und Frauen, wegen vermuteter Homosexualität ohne gesetzliche Grundlage an einen Ort in der rund 30.000 Einwohner zählenden Stadt Argun gebracht und gefoltert worden. Mindestens zwei Menschen seien an den Folgen gestorben (queer.de berichtete).
"Zuvor haben uns unsere Quellen gesagt, dass eine neue Welle von Verhaftungen im Dezember 2018 begonnen hat. Jetzt wissen wir, dass sie schon zu Beginn des Monats anfingen, Menschen festzunehmen", so Igor Koschetkow zu den neuen Informationen seines Verbands. "Außerdem wissen wir nun, dass es jetzt mehrere Orte gibt, an denen Menschen, die unter Verdacht stehen, homosexuell zu sein, festgehalten werden." Neben einem Polizeigebäude in Argun betreffe das auch das Polizeirevier des Bezirks Sawodskoi in der Hauptstadt Grosny. "Das beweist einmal mehr, dass alle Verhaftungen, Folterungen und Morde von den Strafverfolgungsbehörden begangen werden."
Grausame Berichte von Folteropfern
Die Opfer bestätigten laut dem LGBT Network auch, "dass die Folterungen brutaler und gezielter wurden". So seien nicht nur Männer, sondern auch Frauen gefoltert worden. "Die Inhaftierten werden mit einem Elektroschock-Stock geschlagen und vergewaltigt. Alle Männer werden kahl rasiert, sie werden gezwungen, Frauenkleidung zu tragen und sich mit Frauennamen anzusprechen."
Der Verband zitiert ein inzwischen aus der Region geflüchtetes Opfer der Verfolgung: "Sie haben uns nicht ernährt. Manchmal gaben sie uns etwas Wasser, schmutziges Wasser, das nach dem Wischen zurückgelassen wurde. Leitungswasser gaben sie uns nur zum Gebet."
Im Rahmen der ersten Verschleppungen waren 2017 über 100 Männer durch Sicherheitskräfte in außergesetzlichen Gefängnissen an der Seite von angeblichen Drogensüchtigen und anderen Gefangenen festgehalten worden. Sie wurden gefoltert, um die Namen weiterer Homosexueller preiszugeben. Einige Menschen starben bei der Prozedur, andere wurden an Verwandte übergeben mit der Aufforderung, diese zu töten. Nach großer internationaler Empörung stoppte die Verfolgung in ihrem großen Ausmaß; vereinzelte Festnahmen von Menschen, darunter auch vermutete Lesben und Transpersonen, soll es dennoch seitdem immer wieder gegeben haben.
Das LGBT Network hatte im Rahmen der letzten zwei Jahre über 150 Menschen bei der Flucht aus Tschetschenien geholfen, erst in Notunterkünfte in Moskau und St. Petersburg, dann aus Sicherheitsgründen ins Ausland. Auch Deutschland nahm Betroffene auf. Die Arbeit des Verbands kann mit Spenden unterstützt werden (deutsches Spendenkonto vom Aktionsbündnis gegen Homophobie e.V.).
Waren Erpressungsversuche der Auslöser?
Die Zeitung "Nowaja Gaseta", die 2017 und auch jetzt zuerst über die Verschleppungen berichtete, schrieb am letzten Mittwoch, die neue Verfolgungswelle, deren Existenz man eigenständig durch Quellen bestätigen könne, sei möglicherweise "nicht von oben" entstanden, sondern habe sich aus "'banalen' Erpressungsversuchen" einiger Polizisten entwickelt, wie es sie in der Region gegenüber Schwulen immer wieder gegeben habe.
So sei in einem aktuellen Fall von Eltern eines auf einer Wache in Grosny inhaftieren Sohnes eine Million Rubel (13.200 Euro) für dessen Freilassung gefordert worden. Gegenüber der Zeitung hätten die Eltern die Homosexualität des Mannes abgestritten und zunächst um Hilfe gebeten, seien dann aber nicht mehr erreichbar gewesen – die Zeitung vermutet, dass sie das Geld zahlten. Durch die Festnahme des Verantwortlichen einer Gruppe für Schwule im sozialen Netzwerk vk hätten sich dann für Polizisten Dutzende neue Kontakte ergeben, um sie in eine Falle zu locken.
Die "Nowaja Gaseta" hatte im Herbst 2017 eine englischsprachige Online-Reportage mit Aussagen von Betroffenen der Folter online gestellt
Sprecher der tschetschenischen Regierung haben in den letzten Tagen die Vorwürfe zurückgewiesen, wie bei der Verfolgung 2017 mit zugleich drohenden Worten. So meinte in der letzten Woche der Informations- und Außenminister Dschambulat Umarow, die "Saat der Sodomie" werde in Tschetschenien "nicht aufgehen" (queer.de berichtete). Im letzten Jahr legten der Europarat und die OSZE umfassende Aufarbeitungen der Verschleppungen vor und stellten deutliche Forderungen an Russland, die Taten auf seinem Staatsgebiet künftig zu unterbinden und die begangenen aufzuklären und Verantwortliche zu bestrafen. Die Recht- und Straflosigkeit in der Teilrepublik müsse ein Ende haben.
Update 23.30h: Demo in Berlin geplant
Chechnya Street Days Berlin, Quarteera und WeMind Collective haben für Sonntag zu einem "Trauermarsch in Berlin" aufgerufen, ab 16 Uhr vom Auswärtigen Amt zum Bundeskanzleramt. Mehr Infos im Terminkalender oder direkt bei Facebook.
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