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Werk und Wirkung
Philosophie und Homosexualität: Schopenhauers Hauptwerk wird 200 Jahre alt
In seinem bedeutenden Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" (1819) setzt sich der Philosoph Arthur Schopenhauer auch mit seinen Vorstellungen über die schwule Welt auseinander.

Der deutsche Philosoph, Autor und Hochschullehrer.Arthur Schopenhauer (1788-1860) entwarf eine Lehre, die gleichermaßen Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik umfasst (Bild: Schäfer, Johann / wikipedia)
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26. Januar 2019, 08:59h 15 Min.
Anfang 1819 – also vor 200 Jahren – erschien "Die Welt als Wille und Vorstellung". Es ist das Hauptwerk des Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860), das zunächst unbeachtet blieb, heute aber zu den am meisten genannten Werken der Philosophiegeschichte gehört.
Mit der dritten Auflage von 1859 – also genau 40 Jahre später – hat Schopenhauer sein Buch um acht Seiten "Päderastie" ergänzt – also um das, was wir heute Homosexualität nennen und stark von dem Wissen über die Antike geprägt war. Diese Ausführlichkeit war für diese Zeit und für einen so prominenten Zeitgenossen außergewöhnlich. Es war auch beachtlich, dass er nicht nur die Antike, sondern auch das 19. Jahrhundert behandelte.
Zum einen ist spannend, welche Einstellung Schopenhauer zur Homosexualität hatte. Zum anderen ist die breite Rezeption seines Werkes interessant, die sich manchmal auch vom Inhalt der Schrift entkoppelte. Es gibt daher gute Gründe, sich mit beiden Aspekten – dem Werk und seiner Wirkung – näher zu beschäftigen.
Schopenhauer: Mit Homosexualität schützt sich die Natur

Zum 200. Geburtstags Schopenhauers erschien 1988 eine 10-DM-Gedenkmünze
Grundlage seines achtseitigen Homo-Kapitels in "Die Welt als Wille und Vorstellung" (1859, 2. Bd, 3. Aufl., S. 641-649) ist die Frage nach der Ursache von Homosexualität. Zunächst konstatiert er, dass die Päderastie "eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade widerwärtige und Abscheu erregende" Angelegenheit sei (S. 642). Er ist verwundert, dass sich trotz Todesstrafe in vielen Ländern an der Verbreitung von Homosexualität nichts verändert hat. Das beweist für ihn nicht nur die "Unausrottbarkeit" der Homosexualität, sondern auch, dass "sie irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht" (S. 643).
Für Schopenhauer ist das ein Paradoxon: Homosexualität scheint wider die Natur zu sein und trotzdem aus ihr hervorzugehen. (Möglicherweise hat er hier einen Gedankengang von Johann Wolfgang von Goethe übernommen, der ebenfalls betonte, Homosexualität "liege in der Natur, ob sie gleich gegen die Natur sei").
Dieses Paradoxon hatte er nun – zumindest für sich selbst – gelöst. Wer im Alter krank oder schwach ist, erzeugt nur kranke und schwache Kinder – so die damalige Vorstellung. Um sich vor solchem kranken Nachwuchs zu schützen, hat die Natur den Trieb bei älteren Männern einfach in die "irre" geleitet (S. 645). Die Natur kennt schließlich "nicht das Moralische". Der homosexuelle Trieb ist zwar ein Übel, wendet auf diese Weise aber ein noch größeres Übel – die Verschlechterung der menschlichen "Species" (S. 645) – ab.
Schopenhauer sieht seine Theorie dadurch bestätigt, dass aus seiner Sicht die homosexuelle Neigung im Alter zunimmt, die Fähigkeit gesunde Kinder zu zeugen hingegen abnimmt. Bei jungen Menschen gilt Ähnliches: Auch hier schützt sich die Natur mit Homosexualität, weil auch "das unreife Sperma" (S. 647) junger Menschen nur schlechte Kinder zeugen kann. Ob die Homosexualität dann auch ausgelebt wird, hängt von der gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Schopenhauer vermutet, dass in Europa – im Gegensatz zum antiken Griechenland – nur ein Prozent aller Homosexuellen so "schwach und hirnlos" (S. 646) ist, diese Veranlagung auch auszuleben.
Seine Ausführungen erlauben unterschiedliche Lesarten: Zum einen betont Schopenhauer die "Abscheu" erregende Homosexualität und bleibt argumentativ beim christlichen Grunddogma, dass die Schöpfungsgeschichte als eine Fortpflanzungsgeschichte interpretiert. Zum anderen erklärt er die Homosexualität jedoch auch zu einem Naturphänomen, das wie Heterosexualität einen Zweck der Natur verfolgt. Die (falsche) Annahme, dass Schopenhauer die Homosexualität damit verteidigen wollte, ahnte er bereits beim Schreiben und schließt das Kapitel mit den ironischen Worten: "Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser paradoxen Gedanken, den […] Philosophieprofessoren eine kleine Wohlthat zufließen lassen wollen, indem ich ihnen Gelegenheit eröffnete zu der Verläumdung, daß ich die Päderastie in Schutz genommen und anempfohlen hätte" (S. 649).
Schopenhauers frühere schwule Weltsicht
Wie Schopenhauer in den Jahrzehnten zuvor zur Homosexualität stand, verdeutlicht eine frühere Publikation von ihm, die satzgleich unter den Titeln "Ueber den Willen in der Natur" (1836) und "Die beiden Grundprobleme der Ethik" (1841) erschienen ist. Für Schopenhauer stellt die ausgelebte Päderastie [=Homosexualität] nach dem Grundsatz "Volenti non fit injuria" [lat.: "Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht"] zwar keine Ungerechtigkeit dar. Die Personen begehen jedoch ein Vergehen gegen die "Species", weil sie die "Erhaltung dieser Species" vereitelt (S. 128-129). Wie in seinem späteren Hauptwerk wirken seine anfänglichen Äußerungen auch hier (ungewollt) emanzipatorisch und das oben beschriebene Paradoxon ist im Ansatz ebenfalls schon erkennbar. Schopenhauer vermutet – was schon im erstgenannten Buchtitel zum Ausdruck kommt – einen Willen oder Plan der Natur, dessen Ziel ihm jedoch zu dieser Zeit noch nicht bewusst ist.
Schopenhauer als Pessimist, Atheist und Frauenfeind
Wer war Schopenhauer? Ein Radioporträt vom Bayerischen Rundfunk beginnt mit den Worten: "Arthur Schopenhauer war ein Außenseiter unter den Philosophen. […]. Insbesondere war er kein Optimist, wie die meisten Aufklärer und Idealisten in seiner Zeit, sondern ein tiefer Pessimist […] Schopenhauers Pessimismus machte ihn auch zum Atheisten. […] Im Grunde war er ein Misanthrop, also jemand, der wenig von den Menschen hält. So blieb er nicht nur philosophisch, sondern auch gesellschaftlich ein Außenseiter."
Der Beitrag geht dabei u.a. auf sein Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" ein (7:00-18:00, 19:00-22:05 Min.) und behandelt auch den menschlichen Geschlechtstrieb (13:30-15:00 Min.). Nach Schopenhauer wird das Verhalten von Menschen nicht vom Kopf oder vom Herz, sondern vor allem von den Genitalien gesteuert. Seine Frauenfeindlichkeit wird in "Über die Weiber" (1851) sehr deutlich, wobei aber selbst seine Bezeichnung von Frauen als das "unästhetische" Geschlecht sich weniger als Ausdruck homosexueller Gefühle lesen lassen, sondern eher dafür, dass Frauenfeindlichkeit und Homophobie, ausgehend von heterosexuellen Männern, manchmal Hand in Hand gehen.
Noack: Schopenhauer ist schwul
Prof. Ludwig Noack betont in der Zeitschrift "Psyche" (1860, S. 129-169, insb. S. 139-144), dass der Leser von Schopenhauers Schrift zu dem Schluss kommen kann, dass dieser durch Erfahrungen, die er "selbst […] gemacht hat, auf jenen Gedanken gekommen" sei und dass die "päderastische Neigung […] ihn zum Weiberfeinde gemacht" habe (S. 142-143). Zwei Jahre später schreibt Noack in "Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur" (1862, 5. Bd.) etwas dezenter, dass Schopenhauers Äußerungen über Päderastie den "Schlüssel zu seiner eigenen krankhaften Weiberverachtung" darstellen (S. 470-495, hier S. 492). Solche Äußerungen waren für Noack nicht untypisch, der wegen seiner spöttischen Sprache auch schon von seiner Universität verwarnt wurde.
Ernst Otto Lindner stellt in "Arthur Schopenhauer…" (1862, S. 392-395) fest, dass es für ihn schon eine Verleumdung darstellt, Schopenhauer zu unterstellen, die Päderastie in Schutz zu nehmen. Aber diese "boshaftere" Verleumdung von Prof. Noack, Schopenhauer sogar selbst als einen Päderasten zu bezeichnen (S. 392), ist für ihn ein "Abschlachtungs-Versuch" (S. 393). Im konkreten Fall geht er jedoch davon aus, dass Noacks Äußerungen Noack selbst mehr als Schopenhauer geschadet haben (S. 395).
Sigmund Freuds "Imago": Schopenhauer ist unbewusst schwul
In Sigmund Freuds Zeitschrift "Imago" (1913, S. 101-174, insb. S. 119-121) wird Schopenhauer als ein "ideell gleichgeschlechtlich" empfindender Homosexueller bezeichnet und dabei auch auf Benedict Friedländers Bezeichnung von Schopenhauer als "ästhetisch[en]" Homosexuellen verwiesen. Schon die Abwertung von Frauen und des Geschlechtsaktes mit ihnen "lassen den geübteren Psychoanalytiker […] eine stärkere Betonung des homosexuellen Anteils […] bei Schopenhauer annehmen". Als "Beweise" dafür wird angeführt, dass er Männer schöner als Frauen empfand. Damit gehört Schopenhauer – nach "Imago" – "zu jenem nicht seltenen Typus sexuell relativ zurückhaltender Männer, die […] verdrängte homosexuelle Neigung verraten. Daß Schopenhauer selbst die etwa von seinen Gegnern ihm zugemutete Homosexualität im vorhinein ironisch ablehnt, kann für uns kein Gegenargument gegen diese Vermutung sein". Texte, in denen sich Schopenhauer als weiblich und "schwanger" empfindet, entsprechen dabei "dem Bild passiver Homosexualität". Seine "unbewußte homosexuelle Neigung" – so der Artikel – mag durch die Abwendung der Mutter noch "verstärkt worden sein".
Ulrichs: Schopenhauers Richtung stimmt
Der Homosexuellenaktivist Karl Heinrich Ulrichs geht in seinen bedeutsamen zwölf Emanzipationsschriften zur mannmännlichen Liebe mehrfach auf Schopenhauers Werk ein, für das er lobende, aber auch kritische Worte findet. In seiner ersten Schrift "Vindex" (1864) wünschte sich Ulrichs – wie Schopenhauer – eine objektive und vorurteilsfreie Meinung der Öffentlichkeit über Homosexualität und damit eine "vom Willen nicht bestochene Erkenntnis" (S. VIII). Im gleichen Heft lobt er Schopenhauer für seine nachahmenswerte Gerechtigkeit und seine Erkenntnis, dass Homosexualität unausrottbar ist, da sie aus der Natur selbst hervorgeht (S. X). Als sich Ulrichs in seiner zweiten Schrift "Inclusa" (1864) auf über zehn Seiten Schopenhauers Werk widmet (S. 44-54), macht er jedoch deutlich, dass nur dessen erste Gedankengänge richtig bzw. wertvoll sind (S. 50) und dass sich dieser irrt, wenn er Homosexualität verurteilt. Seine Einstellung zu Schopenhauer bringt Ulrichs so auf den Punkt: "Es ist schon hoher Anerkennung werth, daß er [Schopenhauer] bis soweit der Sache auf die Spur gekommen ist" (S. 47).
Hartmann: Schwule sind die "Elite der Menschheit"

Oswald O. Hartmann veröffentlichte 1897 die Schrift "Das Problem der Homosexualität im Lichte der Schopenhauer'schen Philosophie"
Oswald O. Hartmanns "Das Problem der Homosexualität im Lichte der Schopenhauer'schen Philosophie" (1897, S. 9-27) war zumindest als eine emanzipatorische Schrift konzipiert. Zunächst wiederholt Hartmann Schopenhauers Einstellung, dass Homosexualität als Wille der Natur die Menschheit vor einer Überbevölkerung schützt. Diesen Gedanken führt er weiter aus und betont, dass wegen dieser Funktion einige Männer nicht nur zeitweise, sondern auch zeitlebens homosexuell sind (S. 14).
Was danach folgt, wirkt wie eine Drohung: Schneidet man der Natur den "unblutigen Weg" zur Verhinderung der Überbevölkerung durch Homosexualität ab, wird sich die Natur durch einen "blutigen Weg" mit Selbstmorden und Epidemien zu helfen wissen, was er mit der Forderung nach Toleranz verbindet (S. 15-16). Gleichzeitig führt er beschwichtigend aus, dass vor Homosexualität niemand Angst zu haben brauche, denn diese würde ja "von selbst verschwinden", wenn ihr Ziel – die Abnahme der Überbevölkerung – erreicht ist (S. 17).
Die größte Gefahr für eine Überbevölkerung geht seiner Meinung nach von Männern mit einem überdurchschnittlichen Geschlechtstrieb aus. In seiner persönlichen Wahrnehmung haben homosexuelle Männer einen solchen überdurchschnittlichen Geschlechtstrieb (S. 20), wodurch er seine Theorie gestützt fühlt. "Die Natur muss homosexuale Neigungen notwendigerweise denjenigen Individuen geben, die ohne diese Neigungen am meisten zur Fortpflanzung der Gattung beitragen würden" (S. 21).
Auch in dem Umstand, dass in kinderreichen Familien der Anteil homosexueller Kinder steigt (S. 23), sieht er seiner Theorie bestätigt. Die Natur ist jedoch nicht nur an einer Arterhaltung, sondern auch an einer Vervollkommnung der Art interessiert. Aus diesem Grund hat die Natur nur die "vorzüglichsten Individuen" mit einem starken Geschlechtstrieb ausgestattet (S. 24). Davon leitet er ab, dass Schwule die "Elite der Menschheit" sind (S. 25), wozu er auch Schopenhauer zählt (S. 26). Hartmanns grundsätzlich emanzipatorische These, dass Homosexualität von der Natur gewollt ist (S. 27), gerät durch seine weiteren elitären und überheblichen Gedankengänge in den Hintergrund und kann das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie erreichen wollte.
Hirschfeld: Schopenhauer "irrt", hat aber "Wertvolles zu sagen"
Ähnlich janusköpfig wie Ulrichs äußert sich einige Jahre später auch der Gründer der ersten deutschen Homosexuellenbewegung Magnus Hirschfeld. In "Die Homosexualität des Mannes und des Weibes" (1914) betont Hirschfeld, dass man aus Schopenhauers Frauenverachtung nicht auf seine Homosexualität schlussfolgern kann (S. 180), weil schließlich die größten Frauenfeinde eher heterosexuelle Männer sind (S. 218, 219). Obwohl Schopenhauer nach der Meinung von Hirschfeld an vielen Stellen irrt, bringt er dennoch lange Zitate aus Schopenhauers Werk (S. 322-324, 367-369), weil sie schließlich "von einer Persönlichkeit stammt, die selbst dort, wo sie irrt, zur Sache doch Wertvolles zu sagen weiß" (S. 367).
Von Hirschfelds vielen Hinweisen in seinem "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" (1899-1923) möchte ich drei hervorheben: Im ersten Jahrbuch wird Schopenhauers Verwunderung aufgegriffen, dass Homosexualität durch Todesstrafe nicht verschwindet: "Welch teuflische Gerechtigkeitspflege! Mit der Verfolgung ohne weiteres zu beginnen und es dem Zufall anheim stellen, später aufzudecken, ob die Verfolgung Grund habe oder nicht! Dasselbe Prinzip herrscht noch heute!" (1. Jg, S. 69-70). Weil in einigen Ländern im Jahre 2019 immer noch die Todesstrafe gilt, lassen sich diese Sätze auch auf heute übertragen.
Der Versuch, Schopenhauer für homopolitische Interessen zu instrumentalisieren, führt im Jahrbuch zu merkwürdigen Blüten: So werden Schopenhauer und Hößli in einem Satz mit dem gleichen Anliegen genannt (6. Jg., S. 168), als hätten sie die gleiche Ausgangssituation bzw. Interessenlage, und im fünften Band dient ein Zitat von Schopenhauer sogar als Schlusswort (5. Jg, S. 1353-1354), dass von Magnus Hirschfeld dabei vollkommen aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen wird.
Steinhaußen: "Selbst" Schopenhauer war Vorbild
Nach Jan Steinhaußens "Aristokraten aus Not…" (2001) war Schopenhauer "der erste abendländische Philosoph, der die Geschlechtsliebe ausführlich innerhalb seines philosophischen Systems behandelt hat und der auf die Päderastie einging". Dabei versuchte "selbst Schopenhauer" die Geschlechtlichkeit aus der Natur des Menschen zu erklären und ging dabei von der christlichen Grundannahme aus, dass die Triebe alleine auf die Fortpflanzung gerichtet seien (S. 240).
Steinhaußen verweist auch auf den homoerotischen Roman von Thomas Mann "Tonio Kröger". Hier betont Tonio Kröger, dass Inge über ihn lachen dürfte, "wenn ich […] die neun Symphonien, 'Die Welt als Wille und Vorstellung' und 'Das Jüngste Gericht' vollbracht hätte". Damit werden – indirekt und literarisch maskiert – Beethoven, Michelangelo und Schopenhauer zu Vorbildern homosexueller Selbstfindung und daher von Steinhaußen im Kontext homosexueller Legitimation betrachtet.
Eine etwas deutlichere Verbindung zu Homosexualität ist in einer Äußerung von Benedict Friedlaender zu sehen, der mit einem Hinweis auf Schopenhauers Aufsatz "Über die Weiber" einen (homosexuellen) "Bund für männliche Kultur" zu legitimieren versuchte (S. 217). Weil Steinhaußen nur Schopenhauers Rezeption untersuchte, unterbleibt eine Kritik an Schopenhauers homophober Grundposition, die sich in der Formulierung "selbst Schopenhauer" nur vorsichtig andeutet.
Heutige Studien über eine Natur, die "mitdenkt"
Ältere Studien und wissenschaftliche Annahmen über die Ursachen von Homosexualität wirken aus einem zeitlichen Abstand heraus oft ungewollt komisch. Sie sind zu kritisieren, wenn nur die Abweichung von der Norm das Ausgangsinteresse bildet und sie erkennbar auf Pathologisierung ausgelegt sind. Es gibt jedoch auch heute nicht per se zu kritisierende Studien über die Ursachen sexueller Orientierungen, die sich inhaltlich mit den gleichen Fragestellungen – wie Schopenhauer – beschäftigen.
Dazu gehören die von Ray Blanchard, wonach ein älterer Bruder die Wahrscheinlichkeit für den jüngeren Bruder, homosexuell zu sein, um 33 Prozent erhöht und dass die Wahrscheinlichkeit von Homosexualität steigt, je mehr ältere Brüder Männer haben. Diese signifikanten Auffälligkeiten werden von Blanchard biologisch erklärt. Es ist zwar unwissenschaftlich, aber nicht illegitim, dabei auch die (nicht zu beantwortende) Frage aufzuwerfen, ob die Natur manchmal "mitdenkt". "Es ist nicht völlig klar, worin in der Natur der Sinn von homosexuellen Beziehungen besteht. Klar aber ist, dass es ihn gibt."
Solche Überlegungen und die Studien von Blanchard haben mit ihrer emanzipatorischen Interpretationskraft der Homosexuellenbewegung – ähnlich wie auch die Studien über Homosexualität im Tierreich – in erster Linie genutzt, weil damit auch Homosexualität als Teil und Plan der Natur erahnbar ist.
Capri: "Schopenhauer und die Schwulen"
Vor 30 Jahren wurde in der schwulen Geschichtszeitschrift "Capri" (1988, Heft 3, S. 3-23) nicht nur Schopenhauers Text, sondern auch Udo Schüklenks Aufsatz "Arthur Schopenhauer und die Schwulen" publiziert. Der Autor verweist hier u.a. darauf, wie sich Schopenhauers Äußerungen im Kontext zeitgenössischer juristischer Diskussionen lesen lassen.
Da Schopenhauer von dem Philosophen Immanuel Kant geprägt wurde, wird auch auf Kants Einstellung zur Homosexualität verwiesen, wie sie u.a. in seiner Schrift "Die Metaphysik der Sitten" (1798, S. 107, 171) deutlich wird. Darüber hinaus setzt sich Schüklenk auch kritisch mit weiteren Publikationen über Schopenhauer im schwulen Kontext auseinander, wie mit Bryan Magees "The Philosophy of Schopenhauer" (1983), Oscar Eichlers "Die Wurzeln des Frauenhasses bei Arthur Schopenhauer" (1926) und dem "Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft" (seit 1912).
Schopenhauers lesbische Schwester Adele
Arthur Schopenhauers Schwester Adele (1797-1849) war lesbisch und hatte ein Liebesverhältnis mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen (1797-1857). Mit ihrem Buch "'Als wenn Du mein Geliebter wärst'. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" (2003) setzt die Autorin Angela Steidele diese Liebesgeschichte gut in den Kontext der Zeit.
Einige Jahre später publizierte die gleiche Autorin die "Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens" (2011) als eigenes Buch. Hier beschreibt sie auch, wie sich Adele und Arthur Schopenhauer zeit ihres Lebens fremd waren bzw. blieben und wie ihr Verhältnis ein Leben lang von persönlichen sowie finanziellen Spannungen geprägt war. Bei ihrem Altersunterschied von neun Jahren waren sie kaum miteinander aufgewachsen und hatten auch nur fünf Jahre gemeinsam unter einem Dach gelebt.
Beide nahmen aber in ihren Schriften aufeinander Bezug: In Adele Schopenhauers Roman "Eine dänische Geschichte" (1848) geht es nicht nur um eine Frauenfreundschaft, sondern auch um einen patriarchal denkenden Bruder – eine erkennbare Anlehnung an ihren eigenen Bruder. Dessen frauenverachtendes Essay "Über die Weiber" (1851) sieht Steidele als Verarbeitung des Konfliktes mit seiner Schwester und ihrer Lebensgefährtin – sozusagen als eine "persönliche Abrechnung" – an. Schopenhauer glaubte, dass sich Frauen hassen, weil sie um die Männer konkurrieren. Das bleibt unverständlich auch "angesichts der Liebe zwischen seiner Schwester und ihrer Lebensgefährtin".
Pro und Contra Schopenhauer
Schopenhauer hat wie kaum ein anderer deutscher neuzeitlicher Philosoph viele Menschen erreicht und eine große Wirkung auf Richard Wagner (s. Fuchs, 1903, S. 1, 138-139, 229, 269), Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Otto Weininger ("JfsZ", 8. Jg., S. 134-136) und Thomas Mann (s. Reents, 1998, S. 48-51) gehabt – um nur einige Prominente zu nennen. Die frühe Homosexuellenbewegung war janusköpfig und konnte ihn weder vereinnahmen noch gut finden oder gar ignorieren. Auch heute noch ist es schwierig, eine Einstellung zu Schopenhauer einzunehmen.
Schopenhauer war ein sexualfeindlicher Frauenhasser, ein depressiver Pessimist und ein frustrierter Misanthrop. Es wäre daher sehr verwunderlich gewesen, wenn er eine positive Einstellung zur Homosexualität gehabt hätte. Seinen Blickwinkel auf das Geschlechtliche versuchte er zwar zu objektivieren, konnte sich dabei jedoch von seiner persönlichen Abneigung nicht freimachen. Auch auf Schopenhauer lässt sich daher seine Erkenntnistheorie anwenden, dass man die Welt ohne seinen eigenen Standort nicht begreifen kann.
Doch bei Schopenhauer lassen sich auch einzelne Aspekte im Umgang mit Homosexualität positiv hervorheben. So hat er sich öffentlich und angreifbar mit irritierenden Widersprüchen auseinandergesetzt und Homosexualität (unabsichtlich) enttabuisiert. Sein Erkenntnisinteresse hat er dabei höher bewertet als die Gewohnheit, Homosexualität im Rahmen der dogmatischen Verhärtung von Wissenschaftsdisziplinen einfach nur pauschal zu verurteilen. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die meistens keine anderen homosexuellen Bezugspunkte außer der Antike hatten, lenkte er den Blick auch auf die Gegenwart.
Was bleibt ist eine destruktive Schrift von Schopenhauer, die eine bis heute spürbare – auch konstruktive – Wirkung entfaltete. Wie bei den Schriften der frühen Homosexuellenbewegung hört sich das janusköpfig an – ist es auch. Aber bei dieser Positionierung geht es nicht um den fehlenden Mut, eine bestimmte Position zu Schopenhauer einzunehmen, sondern anzuerkennen, dass sich die schwule Welt nicht immer in Schwarz und Weiß unterteilen lässt.
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Ansonsten: In jüngerer Zeit häufen sich hier Artikel zu historischen Themen. Das finde ich sehr gut. Wir wissen meist wenig über unsere schwulen "Vorfahren" und ihre Situation in früheren Gesellschaftsordnungen (außer dass diese Lage in der Regel schlecht gewesen sein dürfte).