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Morgenland und Abendland

Goethe als schwule Identifikationsfigur

Johann Wolfgang von Goethes Werk "West-östlicher Divan" ist nun genau 200 Jahre alt. Einige Gedichte handeln von der Jünglingsliebe und strotzen nur so von sexueller Symbolik.


Johann Wolfgang von Goethe, porträtiert vom Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein im Jahr 1787

Im Leben und Werk Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) gibt es viele Möglichkeiten, an Homosexualität anzuknüpfen. Eines davon ist sein Werk "West-östlicher Divan" (1819, erweitert 1827), das vor genau 200 Jahren erschien, bis heute eine literarische Brücke zwischen dem Orient und dem Okzident bildet und ihm Anerkennung im Abend- und Morgenland brachte. Bei seinen Gedichten ließ sich Goethe u.a. von den persischen Dichtern Hafis und Saadi (13. bzw. 14. Jahrhundert) inspirieren und ging dabei – wie diese beiden Dichter auch – auf die Jünglingsliebe ein. Insofern lohnt sich nicht nur ein Blick auf Goethes Gedichte, sondern auch auf diese beiden persischen Dichter.

Goethes "Divan"


"West-östlicher Divan" aus dem Jahr 1819 ist die umfangreichste Gedichtsammlung von Johann Wolfgang von Goethe

Der "West-östliche Divan" ist Goethes umfangreichste Gedichtsammlung, die online vom Deutschen Textarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften als Faksimile der Erstausgabe und als Transkription angeboten wird. Ich fokussiere mich nachfolgend auf das Kapitel "Das Schenken-Buch", das mit rund 25 Seiten zu Buche schlägt (S. 181-204) und an einigen Stellen das homo­erotische Knistern zwischen einem Dichter und einem Schenken in einer Taverne aufgreift.

So sagt der Dichter zum Schenken: "Du zierlicher Knabe, du komm herein, […] du sollst mir künftig der Schenke seyn" (S. 190) und später: "Laß mich jetzt, geliebter Knabe, Mir will nicht die Welt gefallen, Nicht der Schein, der Duft der Rose, Nicht der Sang der Nachtigallen" (S. 193). Der Schenke antwortet ihm: "Doch ich liebe dich noch lieber, Wenn du küssest zum Erinnern; Denn die Worte gehn vorüber; Und der Kuß, der bleibt im Innern." (S. 198). Aus anderen bzw. späteren Ausgaben sind ergänzende Verse bekannt, wie z.B. diese vom Schenken: "Wie Du mir das so lieblich gibst! Am lieblichsten aber, dass Du liebst" (Ausg. Theodor-Friedrich, S. 101). Es geht also in recht harmloser Form um Liebe und um einen Kuss; das homo­erotische Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Schenken stellt sich vordergründig als recht dezent dar. Damit scheint Goethe Recht zu behalten, wenn er über dieses "Schenken-Buch" im Nachtrag schrieb: "Das Zartgefühl für die Schönheit eines heranwachsenden Knaben […] wollte jedoch unseren Sitten gemäß in aller Reinheit behandelt seyn" (S. 412).

Der sexuelle Subtext von Goethes "Divan"

An diese "Reinheit" kann W. Daniel Wilson so gar nicht glauben. In seinem Buch "Goethe Männer Knaben – Ansichten zur 'Homosexualität'" (2012) hat er sich auf rund 60 Seiten nur mit Goethes "Divan" auseinandergesetzt (S. 204-263).

Zunächst zitiert er Goethe, der sich mit einem Gedicht an Hafis richtet und damit zeigt, wie sehr er sich mit Hafis identifiziert: "Und mag die ganze Welt versinken, […] Sei uns den Zwillingen gemein! Wie du zu lieben und zu trinken […] Das soll mein Stolz, mein Leben seyn." Weil die meisten Gedichte von Hafis die Knabenliebe behandeln, ist der Hinweis auf ein ähnliches "lieben" nach Wilson schon eine beachtliche Aussage (S. 204). Danach behandelt Wilson die sexuelle Symbolik, von der Goethes Text nur so strotzt, und stellt sie auch in den Kontext der griechischen und römischen Antike.

Im Gedicht wünscht sich der Dichter die Liebe zu Wein und zu Knaben, was beides im Islam "halb verboten" ist (S. 207). Wie schon beim römischen Dichter Martial lässt sich das Einschenken von Wein und das Küssen von Knaben als Angebot parallelisieren (S. 235-237). Die symbolische Verbindung von sexuellem und alkoholischem Rausch ist in Literatur und Film übrigens bis heute nicht unüblich. Der Schenke in Goethes "Divan" lässt sich auch gut als eine Referenz an den Mundschenk Ganymed sehen – also den Geliebten von Zeus bzw. Jupiter (S. 222-223, 234). Goethe verwendete auch mehrdeutig das Motiv einer "Schwelle" vor der Haustür, das als Symbol auf Schranke und Grenzüberschreitung verweist (S. 225-229, 231-233).

Auch einen Schwan brachte Goethe ins Spiel, der in der griechischen Antike nicht nur symbolisch für Dichtung steht – sondern auch mit Apolls Geliebtem Hyazinth verbunden wird (S. 217-221). Wilson ist sich sicher, dass man nach der Entschlüsselung aller Anspielungen – sowohl auf das Werk von Hafis als auch in Bezug auf die Antike – zu einem "sexuellen Subtext" vordringt (S. 261). Für ihn spielt Goethe in diesem Werk "Verstecken", wobei die gleich­geschlechtliche Liebe nur scheinbar "in aller Reinheit behandelt" wird (S. 262).

Hafis als Quelle

Hafis (um 1315-um 1390) ist einer der bekanntesten persischen Dichter und der "Divan" sein bekanntestes Werk. Goethe las dieses Werk erstmals im Alter von 65 Jahren und sah Hafis als einen "Zwillingsbruder im Geiste" an. Von ihm ließ er sich zu seinem "West-östlichen Divan" inspirieren, der auch als Hommage an Hafis gesehen werden kann.


"Divan von Hafiz" in einer Illustration von 1585 (Ausschnitt)

Goethe kannte von Hafis nur die zweibändige Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall (1774-1856), die rund 1.070 Seiten umfasst. Schon in seinem Vorwort (1812, 1. Bd.) fällt Hammer positiv auf: Er betont, dass er keine Zensur von Textstellen vornehmen wolle, "wo von Knabenliebe und Weingenuß die Rede ist" (S. IV) und weist – nicht ohne einen humoristischen Unterton – darauf hin, dass eine "Veränderung" des Textes schließlich auch nur zu Ungereimtheiten geführt hätte, wenn er z.B. "Mädchen wegen ihres grünenden Bartes [= Bartflaum] hätte loben wollen" (S. VII). Wertfrei verweist er auf die Liebschaften von Hafis zu Frauen und Jünglingen (S. XXII) und darauf, dass Hafis nicht nur der Alkohol, sondern auch seine "Wollust" vorgeworfen wurde (S. XXXII).

Dann folgen die eigentlichen Liebesgedichte von Hafis, die manchmal geschlechtsneutral formuliert sind, sich manchmal aber auch an Knaben oder an einen Freund wenden. Manchmal rückt Hammer sogar geschlechtsneutrale Liebesgedichte in seinen Fußnotentexten ins rechte Licht, in dem er von "den", "dem" oder "des Geliebten" schreibt (u.a. S. 10, 49, 63). Der zweite Band folgt ein Jahr später. Wenn Hammer in einer Fußnote schreibt, dass das Wirtshaus bzw. die Schenke "gewöhnlich auch ein Knabenbordell ist" (1813, 2. Bd., S. 493), sagt dies nicht nur etwas über Hammers Deutlichkeit aus, sondern lässt auch Rückschlüsse auf die Art der Schenke zu, wie Goethe sie in seinem "Divan" wohl vor Augen hatte.

Saadi als Quelle

Auch Saadi (um 1210-um 1292) war ein prominenter persischer Dichter, der insbesondere für seine beiden Werke "Bustān" (Duftgarten) und "Golestān" (Rosengarten) bekannt ist. Sein "Rosengarten" ist heute das wohl populärste Werk der klassischen persischen Literatur und gehört zur Weltliteratur. Im Iran ist er so beliebt, dass aus ihm in allen Lebenslagen zitiert wird. Saadis Œuvre umfasst auch lustige und zum Teil anzüglich-derbe Episoden und Verse, die teilweise bis heute der Zensur unterliegen.

Goethe verwendete als Grundlage für seinen "West-östlichen Divan" die Saadi-Übersetzung von Adam Olearius (1599-1671), die den Namen "Übersetzung" aber eigentlich kaum verdient. Schließlich macht Olearius schon in seiner Einleitung zu Saadis "Rosengarten" bzw. "Persianischer Rosenthal" (1654) darauf aufmerksam, dass er das Wort für "Knaben" einfach mit Magd, Person bzw. Mensch übersetzt hat. Diese Entscheidung begründete Olearius damit, dass es in Bezug auf die lesende Jugend kein "Ergerniß" geben solle (Blatt III, RS). An das homo­erotische 5. Kapitel darf man daher keine großen Erwartungen stellen. Nach dem Autor W. Daniel Wilson suchte sich Goethe für sein Werk aus der Saadi-Übersetzung von Olearius zwei Geschichten aus, die "Olearius nicht verhunzt" hatte und die die "am eindeutigsten homo­erotischen" sind (S. 211-216).

Es ist schade, dass Goethe zu seiner Zeit keine anderen Übersetzungen zur Verfügung standen. Erst nach Goethes Tod erschien der "Rosengarten" in den Übersetzungen von Philipp Wolff (1841, S. 203-240) und Karl Heinrich Graf (1846, S. 135-161), wo sich im jeweils 5. Kapitel nun leicht die vielen homo­erotischen Kurzgeschichten, Gedichte und Weisheiten von Saadi nachlesen lassen.

Zeitgenössische Wirkung und Rezeption

Mit seinem Werk hatte Goethe großen Einfluss auf andere Autoren. Auf Goethes "Divan" aufbauend, schrieb (der homo­sexuelle) August Graf von Platen seine "Ghaselen" (1821). Seine Liebesgedichte sind zum Teil neutral, zum Teil an einen Mann gerichtet. Auch Friedrich Rückert bezog sich mit seinem Werk "Östliche Rosen" (1822) unmittelbar auf Goethe.

Der Literaturhistoriker Heinrich Düntzer betont in "Goethe's Lyrische Gedichte" 1858 (2. Bd., S. 139-140), dass sich Goethe "nur das aus der morgenländischen Dichtung an[eignete], was nicht in zu schroffem Gegensatz zu unseren Anschauungen steht, wie er z.B. die Knabenliebe in keuschester Weise behandelte".

Andere Autoren sind an diesem Punkt kritischer: So kritisierte Karl Rosenkranz in "Göthe und seine Werke" (1856, S. 442) vor allem die vielen Nachahmer von Goethe, die durch eine "gezierte Jungenliebelei" "unausstehlich" seien, wie August Graf von Platen, bei dem das Thema in eine "päderastische Minnesingerei" "degenerierte". Viele Jahre später verglich der Rassenkundler Hans F. K. Günther in "Rasse und Stil" (1926, S. 125) Goethes "Divan" mit Platons "Gastmahl" im Sinne von einem "Hinübergleiten in solch sinnlich-übersinnliche Stimmungen" zwischen "geschlechtlichem Genuß und Weinestrunkenheit".


"Hafis vor der Schenke". Gemälde von Anselm Feuerbach (1852)

Frühe Homo-Bewegung: Goethe war groß

Die "Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen" wurden ab 1899 vom Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), der ersten Interessenvertretung von Schwulen und Lesben herausgegeben, und dokumentieren gut die Rezeption von Goethe innerhalb der frühen Schwulenbewegung. Rund 100 Textstellen beschäftigen sich mit Goethe, wobei sein "Divan" allerdings weniger im Fokus steht als z.B. sein "Erlkönig" oder "Faust II".

Im 4. Jg. wird der "Divan" als ein Beispiel dafür angeführt, wie wenig gerade die "größten […] Geister" wie Goethe einem "Verdammungsurteil über die Homosexualität sich zuneigen" (S. 275). Im 7. Jg. wird aus "Goethes Divan" zitiert, weil er dem "Recht zum Dasein und Wirken so, wie er [d.h. jeder einzelne Mensch] natürlich bestimmt ist", einen poetischen Ausdruck verleihe (S. 251). Anders ausgedrückt: Goethes "Divan" gilt als gut formulierter Text zur sexuellen Selbst­bestimmung.

Zu Beginn der ersten Homo­sexuellenbewegung gehörten einige Werke Goethes zum festen Kanon homo­sexueller Literatur. Zu diesem Schluss kommt Marita Keilson-Lauritz in ihrer Dissertation "Die Geschichte der eigenen Geschichte" (S. 290). Nach ihrer Auswertung belegt Goethe Platz 7 derjenigen Autoren, die in den frühen Homo­sexuellenzeitschriften "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" und "Der Eigene" am häufigsten genannt werden. Das ist schon recht weit vorne, wenn auch noch hinter Oscar Wilde (Platz 2), Friedrich Nietzsche (Platz 4) und Karl Heinrich Ulrichs (Platz 6). Auch Hafis (Platz 27) ist hier übrigens vertreten.

In den "Jahrbüchern" wird Goethe auch häufiger mal zitiert, ohne dass es einen direkten homo­sexuellen Zusammenhang gibt. Der Grund liegt auf der Hand: Wer Prominente zitiert, setzt sich in eine geistige Nachfolge. Auch die Formulierungen im 4. Jg. über den "Dichterfürsten" (S. 460) oder "dieser grosse Meister" (S. 521) verweisen auf die Achtung und den Respekt, der ihm entgegen gebracht wurde.

Frühe Homo-Bewegung: Goethe war schwul

Aufgrund seiner Prominenz und Bedeutung und seiner weitgehend positiven Texte zur Homosexualität bot sich Goethe als schwule Identifikationsmöglichkeit für die junge Homo­sexuellenbewegung an. Schon im 3. Jg. wird auf den erkennbaren Hang der "Jahrbücher" verwiesen, "recht viele grosse Männer zu den Homo­sexuellen zu rechnen", aber auch, dass "Goethes Heterosexualität über jeden Zweifel erhaben" sei, wenn er auch in seiner Jugend "gewisse Züge homo­sexuellen Empfindens" gehabt habe (S. 469-470).

Der Schriftsteller Johannes Gaulke tadelte die Tendenz, "möglichst vielen hervorragenden Männern homo­sexuelle Neigungen 'anzudichten, z.B. sogar Göthe" (S. 475). Im 4. Jg. ist die Rede von "Hypothesenjäger[n], die selbst Göthe verdächtigen" (S. 900). Mit den Wörtern "sogar" bzw. "selbst Goethe" wird vermutlich sowohl auf die vielen Frauenliebschaften Goethes als auch darauf verwiesen, dass Goethe auf einem besonders hohen Podest stand.

Bei der Frage, ob Goethe schwul war, geriet auch die erste schwule Anthologie der Weltgeschichte – "Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur" (1900) – in den Blick des "Jahrbuches", in der einige Zeilen aus Goethes "Schenken-Buch" wiedergegeben sind (S. 119). Im 3. Jg. heißt es in erkennbar gereiztem Tonfall, dass es "eine Lächerlichkeit" sei, Goethe in diese Anthologie einzureihen, und dass sich die Herausgeber damit "schwere Verfehlungen zu Schulden [haben] kommen lassen" (S. 409). Im 4. Jg. kritisiert ein Rezensent mit Bezug auf den Herausgeber der Anthologie, Elisar von Kupffer, dass auch Goethe und Schiller von ihm "unter die homo­sexuellen Dichter gezählt" würden: "Wenn's nach manchen Homo­sexuellen ginge, wären alle oder fast alle bedeutenden Menschen homo­sexuell" (S. 913-914). Schon einige Seiten später gibt es eine Richtigstellung, dass die Anthologie doch nur die Werke von Goethe und Schiller zitiere, "in denen sie leidenschaftliche Freundschafts- oder homo­sexuelle Gefühle geschildert haben" (S. 916). Tenor: Wer Schwules schreibt, muss doch nicht unbedingt schwul sein.

Die Diskussion wird öffentlich

Die Kontroverse um einen schwulen Goethe griff einige Jahre später über die Homo-Publizistik hinaus in eine breitere Öffentlichkeit. Die Zeitschrift "Jugend" (1907; Heft 48, S. 1089) geht das Thema mit Humor und einer Karikatur an: Man sieht Schiller und Goethe auf ihrem berühmten Denkmal in Weimar, die nicht mehr Händchen halten wollen, weil schließlich der Homo­sexuellenaktivist Magnus Hirschfeld (links) um die Ecke kommt und fast jeden Prominenten für schwul hält. Mit den Eulenburg-Prozessen hatte die Karikatur dabei einen ernsten Hintergrund, bei dem sich die öffentliche Diskussion um Homosexualität zu einer Schlammschlacht entwickelte.


Alte Karikatur aus der Zeitschrift "Jugend" über das Denkmal in Weimar mit Magnus Hirschfeld unten links

Bei der Frage nach einem schwulen Goethe geht es nicht nur um Prominenz und Provokation, sondern auch um Gesellschaft, Sexualität und Humor. Es ist genau diese Mischung, die bis heute – wie bei Rosa von Praunheims Film "Männerfreundschaften" (2018) – ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit garantiert.

Mit einer Karikatur über Goethe von "Rabe" im Zusammenhang mit #MeToo wird deutlich, dass eine öffentliche Aufmerksamkeit mit einem "schwulen Goethe" bis heute garantiert ist. Ähnlich wie die Karikatur von 1907 geht es auch hier um die Konstruktion von Homosexualität aus einer Freundschaftsgeste heraus, nur die erste richtet sich jedoch erkennbar gegen die Homo­sexuellenbewegung.


Neue Karikatur über das Denkmal in Weimar in Zeiten von "#MeToo"

Der "kleine Schenke" August Wilhelm Paulus

Paul Derks beschäftigt sich in seinem Buch "Die Schande der heiligen Päderastie" ausführlich mit Goethes "Divan" (S. 272-281) und verweist dabei auf den 12-jährigen August Wilhelm Paulus, den Sohn eines mit Goethe befreundeten Theologen. Goethe hat ihn in seinem Tagebuch als "Schenke" bezeichnet. Seine Familie übernahm sogar diesen Namen und berichtete Goethe z.B., dass sich "der kleine Schenke" auf die Konfirmation vorbereite. Derks vermutet nicht, dass Goethe tatsächlich ein erotisches Verlangen nach diesem Knaben hatte, sondern eher, dass Goethe "die Welt mit den Augen des Hafis sah. So war er dankbar für ein lebendiges Beispiel jener Knabenschönheit, der der persische Dichter so vielfach huldigt" (S. 277-278). Auch Paulus" Familie sah hier offenbar nichts Anrüchiges.

Ein Buch als Brücke zwischen den Kulturen und Völkern


Eine Zeichnung des Gottes Priap von Goethe

Bei Goethe gibt es viele Möglichkeiten an Homosexualität anzuknüpfen, die man eigentlich alle kennen müsste, um Goethes Einstellung zur Homosexualität gut nachzuzeichnen. Es hätte allerdings den Rahmen dieses Artikels gesprengt, auch auf "Winckelmann und sein Jahrhundert" oder auf "Faust II" einzugehen. Auch sein "Erlkönig" ("Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt") oder sein deftiges venezianisches Epigramm ("Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen. Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch") gehören dazu. Es war wohl eine Kombination seiner unterschiedlichen Texte, die ihn zu einer wichtigen Identifikationsmöglichkeit für Schwule machte. Hinsichtlich seiner Zeit ist übrigens auch Goethes Zeichnung des Gottes Priap mit seinem Phallus bemerkenswert.

Die Erstausgabe von Goethes "Divan" trägt einen arabischen Text, der übersetzt lautet: "Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen". Sein Werk wurde international breit gewürdigt und funktioniert als eine wichtige Brücke zwischen den Kulturen und Völkern – bis heute. Nach Goethes "West-östlichem Divan" hat sich das "West-Eastern Divan Orchestra" benannt, ein Ensemble junger Musiker aus Ländern des Nahen Ostens, das sich für die Vision eines friedlichen Nahen Ostens engagiert. 2008 wurde in Weimar das gemeinnützige Festival "West Östlicher Diwan" gegründet, das den interkulturellen Dialog speziell mit Ländern des Vorderen Orients pflegt.

Es ist ein bisschen schade, dass bei der breiten öffentlichen Rezeption die Homosexualität fast immer außen vor bleibt, was bei den wenigen Zeilen und der zurückhaltenden Darstellung allerdings auch nachvollziehbar ist. Beachtenswert bleibt, dass Goethe bei seinen persischen Gedichten die Homosexualität nicht ausklammerte. Goethe wurde für dieses Werk sogar gewürdigt – trotz all der Unterschiede zwischen abendländischer Moralvorstellung und morgenländischer Knabenliebe.

Seit zwei Jahrhunderten prägen die beiden Schriftsteller Schiller und Goethe in positivster Form das internationale Bild von Deutschland. Darüber kann man froh sein. Goethes Reinschrift des "West-östlichen Divan" ist übrigens – als Teil des Weimarer Goethe-Schiller-Archivs – seit 2001 Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes.

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#1 Bembel-BiAnonym
  • 09.02.2019, 17:40h
  • Ergänzend zu dem interessanten Artikel möchte ich auf die Karikatur eines anderen berühmten Frankfurters zum Thema hinweisen; ich meine natürlich den hochverehrten F.K. Waechter mit seinem Beitrag "Goethe spielt Flöte auf Schiller sein Piller":

    deskgram.net/p/1476260410244291868_4703660493
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#2 Bembel-BiAnonym
  • 09.02.2019, 17:43h
  • Eine Frage ist allerdings für mich offen geblieben:

    Wenn, lt. Marita Keilson-Lauritz, Oscar Wilde Platz 2 belegt in der Liste derjenigen Autoren, die in "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" und "Der Eigene" am häufigsten genannt werden:

    Welcher Autor belegt dann Platz 1?
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#3 Erwin In het PanhuisAnonym
  • 09.02.2019, 22:40h
  • Antwort auf #2 von Bembel-Bi
  • Auf Platz 1 ist Elisar von Kupffer, der eigene Texte schrieb, aber eher durch sein Anthologie "Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur" (1900) bekannt ist.
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