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Kinostart "Der verlorene Sohn"

Homo-"Heiler": Die Monster als Menschen

Garrard Conley, der Autor von "Boy Erased", erzählt im queer.de-Interview von seiner "Konversionstherapie", vom Coming-out des ehemaligen Homo-"Heiler"-Chefs und was er von der Verfilmung hält.


Szene aus "Der verlorene Sohn": Der starbesetzte Kinofilm beruht auf der autobiografischen Erzählung "Boy Erased" von Garrard Conley (Bild: Universal Pictures Germany)

Die deutsche Übersetzung von "Boy Erased" erschien im vergangenen Jahr im Secession Verlag für Literatur

Garrard, warum hast du dich entschieden, in "Boy Erased" (Amazon-Affiliate-Link ) über deine Zeit in einem Homo-"Heiler"-Lager zu schreiben?

Ich wollte dieses Buch nie schreiben. Meine Familie und ich haben ungefähr zehn Jahre lang nicht über meine Erfahrungen während der "Konversions­therapie" gesprochen. Dann habe ich angefangen, Berichte von Leuten zu lesen, die in den USA solche Behandlungen durchgemacht haben. Ihre Berichte waren so nah an meinen eigenen, dass ich das Gefühl hatte, die Geschichte besser erzählen zu können. Weil sie sehr einseitig waren, eintönig, flach. Als wären die Therapeuten böse und diese Leute waren Opfer – genau diese Geschichte wollte ich nicht. Ich fand es viel interessanter, alle Beteiligten als Menschen statt als Monster zu zeigen. Dass es vielleicht eines der eigenartigsten Dinge ist, dass Menschen aus Liebe oft hasserfüllte Dinge tun.

Du verurteilst im Buch niemanden, sondern beschreibst.

Es gibt eine alte Regel im Schreiben, die lautet: Wenn du möchtest, dass jemand etwas fühlt, dann heule nicht vor ihnen, sondern lass sie das Heulen übernehmen. Wenn du also etwas nur beschreibst, dann lass die Leser eine Erfahrung damit haben, lass die Leser wütend werden, lass die Leser weinen. Aber mach die Arbeit nicht für sie.

Und, haben die Leser geweint? Wie waren die Reaktionen auf das Buch?

Ich habe viele Nachrichten von Leuten bekommen, die sagen, dass sie total geweint haben, und viele dieser Leser haben entweder eine "Konversions­therapie" überlebt oder sind in einem sehr konservativen Haushalt aufgewachsen. Fast jeder Leser, von dem ich etwas gehört habe, hat überraschenderweise gesagt, dass er Erfahrungen mit evangelikalen Christen hat. Und sogar einige deutsche Leser sagen, sie kommen aus einer sehr konservativen Familie: "Ihr Buch. Sie haben mit mir gesprochen."

Wie geht es den Homo-"Heilern" von "Love in Action" heute?

Ich bin mit dem ehemaligen Präsidenten von "Love in Action", John Smid, befreundet, weil ich wissen wollte, warum er das getan hat, was er getan hat. Ich hatte viele verschiedene Gespräche, um seine Perspektive zu verstehen. Und er ist jetzt mit einem Mann verheiratet, der in Paris, Texas, lebt – es hat also nicht funktioniert. Ich glaube, er entwirft jetzt Möbel, das ist auch so eine sehr schwule Sache (lacht). Ich bin mit vielen Menschen in Kontakt geblieben, die mit "Love in Action" oder mit der "Konversionstherapie" aufgehört haben. Aber ich spreche nicht mit denen, die das immer noch machen, ich möchte nichts mit denen zu tun haben.


Autor Garrard Conley (li) und Filmproduzent Joel Edgerton (Bild: Michael Bialas / wikipedia)

Deine Mutter hat sich bei dir entschuldigt – dein Vater auch?

Ich weiß nicht, ob er sich jemals entschuldigt hat. Ich kann nur sagen, dass es ihm schlecht geht. Das ist eine Sache, über die wir uns weiterhin streiten, weil ich immer gesagt habe: Du weißt, dass du mich nie gefragt hast, was passiert ist. Du hast mich einfach an einen Ort geschickt, und es schien dir egal zu sein, ob ich suizidgefährdet war oder nicht, und das ist in vielerlei Hinsicht eine unverzeihliche Sache. Aber Menschen tun so etwas.

Wann hast du angefangen, an der "Konversionstherapie" zu zweifeln?

Ich sage immer, dass ich mit zwei Gehirnen ins Lager gekommen bin. Eins war das Gehirn, das durch Literatur und Ästhetik und Sex oder sexuelle Gedanken aktiviert wurde, und der andere Teil meines Gehirns war fundamentalistisch und glaubte, dass nur Reinheit und eine enge Beziehung zu Gott in meinem Leben erlaubt sind. Alles andere musste weggeschnitten werden. Und als ich eingetreten bin, hatte ich das literarische Gehirn, aber sie haben mir meine Geschichten weggenommen. Sie haben mir nicht erlaubt zu lesen. Ich bin total verrückt geworden. Das ist Gehirnwäsche. Genau das ist es, was es ist. Und am Ende war ich total bereit, geheilt zu werden. Bis ich, wie ich es im Buch beschrieben habe, mich auf einen Stuhl setzen und so tun sollte, als ob ich meinen Vater hassen würde – dabei habe ich ihn nicht gehasst. Ich habe gesagt, dass das nicht funktioniert. Und sie haben gesagt, dass ich lüge. Diese Erkenntnis kam etwas zu spät, als ich dachte: Warum will eine christliche Organisation, die behauptet, Mitleid und Liebe zu predigen, dass ich jemanden hasse, um dadurch geheilt zu werden? Das kommt mir nicht richtig vor. Da habe ich meine Mutter angerufen und sie hat mich abgeholt.


Poster zur Romanverfilmung: "Der verlorene Sohn" startet am 21. Februar in deutschen Kinos

Wie fühlt es sich heute – nach fast 15 Jahren an – über all das zu sprechen?

Es ist wirklich surreal. Es hat viel Energie gekostet, diese Zeit meines Lebens zu rekonstruieren. Ich musste dieses Trauma wieder durchgehen, was wirklich keinen Spaß gemacht hat. Und das passiert täglich. Ich gehe jedes Mal wieder durch dieses Trauma. Und es fühlt sich ein bisschen seltsam an, dass dein Leben in gewisser Weise durch diese Geschichte kontrolliert wird. Ich meine, ich habe mich dafür entschieden. Aber es ist anstrengend, wenn die Leute dich lange Zeit als Opfer sehen. Vor allem in den USA gibt es eine Haltung unter gebildeten liberalen Leuten, die so skeptisch sind und nicht glauben können, dass so ein Leben wie meins überhaupt existiert. Ich frage mich, in welcher Blase sie leben, wo man nicht weiß, dass schwule Menschen immer noch um ihr Leben kämpfen müssen. Ich meine, überall in New York gibt es "Konversions­therapien", es gibt immer noch Familien, die ihre Kinder rauswerfen, und das passiert überall auf der Welt. Und es macht mich wahnsinnig, dass die Leute das nicht wissen.

Das hört sich an, als wärst Du zum Aktivisten geworden…

Ja, ich bin zu einem geworden. Es war wirklich unangenehm für mich, mich das erste Mal Aktivist zu nennen, weil ich eigentlich ein Künstler sein wollte. Es fühlt sich für mich an wie eine scharfe Grenze zwischen Aktivismus und Kunst. Kunst muss provozieren und sich für etwas engagieren. Als ich "Boy Erased" geschrieben habe, habe ich sehr darauf geachtet, dass es gegen viele der Vorurteile geht, die die Menschen über die Südstaaten und über die Menschen dort haben. Es gibt die einfache Geschichte, die ich hätte schreiben können, und ich hätte wahrscheinlich eine Menge Geld damit verdienen können. Mit einer sarkastischen, gehässigen, schwulen Stimme über diese Leute zu schreiben und sich über sie lustig zu machen. Das hat seine Berechtigung, ich mag solche Sachen. Augusten Burroughs ist großartig, aber ich wollte so ein Buch nicht schreiben.

Hast du noch Kontakt zu den Leuten, die zur gleichen Zeit dort waren wie du? Du schreibst über einen Jungen namens J.

Ich konnte J nicht finden. Das war das Allerschwierigste an der Sache. Ich habe versucht, die Aufzeichnungen aller Beteiligten von John Smid zu erhalten, und er wollte sie mir nicht geben. Und dann habe ich eine Anzeige bei Facebook geschaltet. Wenn jemand zu dieser Zeit dort gewesen ist, soll er sich bei mir melden, und keiner hat es getan. Ich habe zwar eine Menge Überlebender und Menschen, die bei "Love in Action" waren, getroffen, aber es ist wirklich schwer für mich, die Menschen zu finden, die zu meiner Zeit dort waren. Ich glaube, dass sie nicht gefunden werden wollen. Einige von ihnen sind möglicherweise immer noch dabei, und manchen ist es vielleicht nur peinlich. Zach Stark war der Junge, der 2005 heftige Kontroversen ausgelöst hat, als er alle Regeln der "Konversions­therapie" in seinem MySpace-Konto veröffentlicht hat. Ich habe ihn kontaktiert und er hat nur zurückgeschrieben, dass er überhaupt nicht mehr darüber reden möchte.

Also ist für viele diese Sache einfach vorbei.

Die Leute waren wirklich verletzt. Und diejenigen, die sich nicht umgebracht haben oder Selbstmordgedanken hatten, wollen nichts mehr damit zu tun haben, weil das Ganze sie zurück an diesen dunklen Ort bringt.

Obwohl es nur zwei Wochen sind, hat das Auswirkungen aufs ganze Leben.

Und genau das wollte ich zeigen. Dieser zweiwöchige Teil ist die offizielle "Konversions­therapie". Ich sage immer, man muss keine "Konversions­therapie" durchgemacht haben, um eine "Konversions­therapie" durchgemacht zu haben. Wachs einfach in diesen kleinen Städten auf. Das ist dasselbe. Alle Gedanken und Ideen, die sich in diesen Städten befinden, sind dieselben Ideen wie die "Konversions­therapie", sie wurden lediglich institutionalisiert. Das ist der einzige Unterschied.


Szene aus der Verfilmung: Der 19-jährige Jared (Lucas Hedges) wird von seiner Mutter (Nicole Kidman) zu einer Homo-"Heiler"-Anstalt gebracht (Bild: Universal Pictures Germany)

Fühlst du noch heute einige dieser Konsequenzen im Alltag?

Ja, es gibt da immer noch manchmal Schammomente, die einfach aus dem Nichts kommen. Im Buch schreibe ich, dass ich vergewaltigt wurde. Deshalb kann ich manchmal nicht unterscheiden, was ich habe, weil ich vergewaltigt wurde, und was ich habe, weil ich in der "Konversions­therapie" war. Manchmal habe ich Probleme in intimen Momenten.

Heute wohnst du mit deinem Mann zusammen. Wie lange hat es gedauert, bis du dich mit dem Gedanken anfreunden konntest, eine schwule Beziehung zu haben?

Ich habe fast unmittelbar nach der "Konversions­therapie" angefangen, Männer zu daten, weil ich bereit war, endlich damit fertig zu werden und es auszuprobieren. Ich war lange Zeit so etwas wie ein Serienmonogamist. Ich ging von einem zum anderen, weil ich viel Nachholbedarf hatte. Ich glaube, es gab Zeiten, in denen ich nicht wusste, dass ich mich eigentlich immer noch damit beschäftigte, und die Männer haben es nicht verstanden, weil sie keine Ahnung hatten und ich es ihnen nicht gesagt habe. Ich wollte nicht, dass sie es wissen. Ich hatte viele Geheimnisse. Als ich meinen Mann traf, gab es gar keine Geheimnisse. Ich meine, wir haben uns auf Grindr getroffen, da gibt es keine Geheimnisse (lacht). Ich wusste, dass das eine ganz andere Art von Intimität ist. Wir haben über alles gesprochen, und die Tatsache, dass er aus Pakistan kommt, war für mich wirklich hilfreich, weil wir ähnliche Erfahrungen haben.

Solche "Konversionsstherapien" gibt es noch, auch in Deutschland. Es gibt aktuell wieder Diskussionen, sie zu verbieten. Denkst du, dass das hilft, oder gehen sie dann in den Untergrund?

Ja, ich glaube, das hilft. Solche Gesetze erzeugen Aufmerksamkeit. Wenn zum Beispiel jemand aus Arkansas von dem möglichen Verbot der Konversions­therapie für Minderjährige erfährt, stellt er das Ganze möglicherweise in Frage. Am Ende können die Konversions­therapien versuchen, in den Untergrund zu gehen, aber wir werden sie finden. Es gibt viele Organisationen, die wirklich hart daran arbeiten, jeden dieser Orte ausfindig zu machen und sicherzustellen, dass die Leute in ihren Communitys Bescheid wissen. Sie verteilen sogar Flyer mit Sätzen wie "Schicken Sie Ihre Kinder nicht hierhin". Wichtig ist, dass das Verbot auch für religiöse Gemeinschaften gilt. Jede religiöse Organisation ist in den USA durch die Gesetze zur Religionsfreiheit geschützt, und sie können machen, was sie wollen, außer Medikamente verschreiben oder so. Gehirnwäsche ist legal.

Du hast viel über Traumata gesprochen. Wie schwer war es, den Film "Boy Erased" zu sehen?

Das erste Mal, als ich ihn sah, war es mir sehr peinlich, weil ich nicht glauben konnte, dass ich so idiotisch gewesen war, einer "Konversions­therapie" zuzustimmen. Lucas Hedges ist wirklich überzeugend! Ich werde den Film nicht noch einmal in nächster Zeit schauen, aber ich bin so froh zu wissen, dass er einen starken Einfluss in der Community hat und für so viel Lobby-Arbeit verwendet wird.

Direktlink | Offizieller deutscher Trailer zum Film
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Wie hast du reagiert, als du nach den Filmrechten an dem Buch gefragt wurdest?

Ich war total geschockt! Ich hatte daran gearbeitet, "Konversions­therapien" zu einem Mainstream-Thema zu machen, und ich war deshalb sehr aufgeregt über die Chance, durch den Film echte Veränderungen in den USA und auf der ganzen Welt zu bewirken. 2019 scheint das Jahr zu sein, in dem viele Staaten die "Konversions­therapie" verbieten werden.

Und, zum Schluss: Wie gefällt dir der Film?

Ich denke, es war sehr authentisch und ziemlich gut gemacht, aber Bücher liebe ich einfach mehr (lacht).

Infos zum Buch

Garrard Conley: Boy Erased. Autobiografische Erzählung. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von André Hansen. 335 Seiten. Secession Verlag für Literatur. Zürich 2018. Gebundene Ausgabe: 25 € (ISBN 978-3-906910-26-0). Ebook: 19,99 €

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Der verlorene Sohn
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#1 YannickAnonym
  • 19.02.2019, 09:20h
  • "diejenigen, die sich nicht umgebracht haben oder Selbstmordgedanken hatten"

    Schlimm...

    Und das deckt sich mit den wissenschaftlich mehrfach bestätigten Erkenntnissen, dass diese Gehirnwäsche schwerste psychische Schäden verursacht und bis zum Tod führen kann.

    Ich kann nicht verstehen, wie man ernsthaft noch darüber diskutieren kann, ob man das verbieten soll oder nicht. Angesichts der Fakten sollte das gar keine Diskussion mehr sein und würde nicht Religion dahinter stehen, wäre das auch längst verboten.
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#2 Carsten ACAnonym
  • 19.02.2019, 10:11h
  • Antwort auf #1 von Yannick
  • Ja, angesichts der dramatischen Folgen dieser Gehirnwäsche (die allesamt wissenschaftlich belegt sind), sollte es gar keiner Überlegung und gar keiner Diskussion mehr bedürfen, ob das verboten werden muss.

    Selbst unter Menschen, die die rechtliche Gleichstellung von LGBTI ablehnen, sollte es Konsens sein, dass diese Körperverletzung endlich auch verboten wird.

    Daran wird sich auch unsere schwarz-rote Bundesregierung messen lassen müssen. Hier geht es schließlich um Menschenleben...

    Um Menschenleben!!!!
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#3 GerritAnonym
  • 19.02.2019, 10:46h
  • Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen in Deutschland und ganz Europa den Film sehen und dass auch viel darüber berichtet wird.

    Damit endlich mal mehr Menschen davon erfahren, denn die meisten haben noch nie etwas davon gehört. Dabei gibt es das auch mitten in Deutschland.
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