Der Nationalsozialist und Gauleiter Josef Grohé hatte Thomas Liessem, den Präsidenten des Festausschusses, gedrängt, die Rolle der Jungfrau im Kölner Dreigestirn mit einer Frau zu besetzen. Diese durchgedrückte Neuerung in den Jahren 1938/1939 war ein deutlicher Traditionsbruch, denn schließlich wurde seit 1813 die Jungfrau immer von einem Mann verkörpert.
Paula Zapf wurde 1938 die erste Frau, die die Jungfrau im Kölner Dreigestirn darstellte. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" (1.2.2008) kennt sogar das Lobgedicht, das der Kölner NS-Oberbürgermeister Karl Georg Schmidt anlässlich ihres Geschlechtes vortrug: "Diesmal bist du kein verkappter Mann – solch Schönheit nur die Frau uns schenken kann."
Diese Äußerung ist – wie so vieles aus der Zeit – hinterfragbar. Zu ihrer Rolle kam Paula Zapf – wie sie später einmal sagte – "wie die Jungfrau zum Kind". Sie arbeitete in einem Kölner Unternehmen, das die karnevalistische Kleidung der Jungfrau herstellte. Es war diese Mischung aus kölschem Klüngel und ihrer Ausstrahlung als perfektes NS-Mädel aus dem Volke, die sie in dieses wichtige Amt hob. Die Proteste hielten sich in Grenzen und waren bei der zweiten Jungfrau Else Horion (1939) nicht mehr registrierbar.
Einige Monate später begannen die Deutschen den Zweiten Weltkrieg und der Karneval wurde erst einmal verboten. Über diese Form der Frauenförderung wurde zeitgenössisch bestimmt viel diskutiert – allerdings vor allem in Bezug auf die Bedeutung von Frauen und von Traditionen. Die nationalsozialistische Sicht auf Geschlechterrollen war bestimmt hinlänglich bekannt.
In dem Buch "Himmel und Hölle. Das Leben der Kölner Homosexuellen 1945-1969" (Amazon-Affiliate-Link ) (1994) wird im Kapitel über den Karneval (S. 105-113) auch der sogenannte "Jungfrauenstreit" von 1950/1951 dokumentiert, bei dem wieder die Frage nach einer weiblichen Jungfrau gestellt wurde. In der Öffentlichkeit wurde viel und eher fadenscheinig über die körperlichen Strapazen und finanzielle Möglichkeiten von Frauen gesprochen. Auch die 50er Jahre waren nicht die Zeit, sich offen über Travestie, Geschlechterrollen, Homosexualität und NS-Geschichte zu unterhalten.
Der heutige schwule Blick auf Geschlechterzensur
Die zweite weibliche Jungfrau im Dreigestirn: Else Horion (1939)
Heute wird in fast allen Publikationen, die einen Grund für die erzwungene Geschlechtsangleichung der Jungfrau nennen, die nationalsozialistische Einstellung zu Homosexuellen angegeben. Ein solcher Hinweis auf die Opfergruppe der Schwulen ist nicht unpassend und drückt indirekt auch Empathie aus. Im Buch "Kölner Karnevalsmuseum" (2005) heißt es dazu: "Alles, was auch nur den Anschein von Homosexualität erweckte, passte nicht in das Weltbild des Nationalsozialismus" (S. 49). Selbst die konservative "Welt" titelte "Die Angst der Nazis vor der schwulen Jungfrau" (8.2.2013).
Die Homepage der Kreissparkasse Köln erwähnt ebenfalls den "scharfen Kampf gegen die Homosexualität" als Grund für die Geschlechtsangleichung. Die wieder männlichen "Jungfrauen" der Nachkriegszeit werden hier aber nicht nur mit Tradition, sondern auch mit der Komik von Travestie begründet, denn schließlich steckt doch "in der männlichen Jungfrau so viel Witz und Komik, dass man sie in Köln nicht missen möchte". Auf der Seite Kölner Karneval ist die Rede davon, dass die Partei einen "Kampf gegen die Homosexualität" führte und hier eine "bedenkliche Nähe zum Transvestitismus" sah. Männer in Frauenkleidern waren unerwünscht – aufgrund "einer Phobie der Nazis gegen Homosexualität".
Die vor 80 Jahren aufgeworfene Frage nach einer weiblichen Jungfrau lässt sich unter dem Aspekt von Feminismus und einem modernen Geschlechterbild heute neu diskutieren. Die "Rundschau" (4.2.2016) schreibt: "In den Augen der NS-Machthaber hatte die Verkörperung der Figur durch einen Mann den Anschein von Homosexualität erweckt" und lenkt danach den Blick auf die Gegenwart: "Sind Frauen im Kölner Dreigestirn also nur noch eine Frage der Zeit oder ein karnevalistischer Sündenfall?"
Die Diskussion um eine Frau als Jungfrau ist damit nicht nur spannend, sondern auch aktuell. Es hört sich paradox an – ist es aber nicht: Eine Frau, die eine Frau verkörpert, ist eine gute Ausgangsbasis für eine Diskussion über die Rolle von Homosexualität in der NS-Zeit.
Einige Beiträge verweisen auch mit Sprachmetaphern auf die NS-Homosexuellenverfolgung als Grund für die nun weibliche Jungfrau. Die Formulierung über einen "NS-Feldzug gegen Homosexualität" in mehreren Büchern zur NS-Zeit finde ich wegen der Strafverfolgung bis zur Todesstrafe überzeugend. Im Gegensatz zu Helga Resch, die in ihrem Buch "Der Karnevalsknigge" (2010, S. 35) darauf verweist, dass die Nazis eine weibliche Jungfrau einforderten, weil sie bei dem Mann in Frauenkleidern eine "Spielwiese für Homosexuelle vermuteten". Aufgrund der ernsten Gefahr, in der sich Homosexuelle befanden, ist dies für mich eine unpassende Formulierung.
Angst vor Homosexualität?
Die manchmal verwendete Formulierung "Phobie" bzw. "Angst vor Homosexualität" in Bezug auf das Verbot der männlichen Jungfrau halte ich für falsch, denn Nazis hatten keine Angst vor Schwulen, sondern Schwule mussten Angst vor Nazis haben.
Als Grund "Homosexualität" anzugeben halte ich zudem für zu kurz gegriffen. Die unverrückbaren und engen Vorstellungen der Nazis, wie ein Mann und eine Frau in einem idealen NS-Staat zu sein hatten, wurden schließlich nicht nur von Schwulen durchkreuzt, auch wenn diese "bevölkerungspolitischen Blindgänger" als besonders große Gefahr für den Staat angesehen wurden.
Gerade die späte Gleichschaltung der Jungfrau ist ein Indiz dafür, dass die männliche Jungfrau keine politische Bedrohung, sondern nur eine leichte Störung des NS-Geschlechterbildes war. Wäre sie eine Bedrohung gewesen, hätte man sie schon Anfang 1933 verboten, als man auch Homosexuelle verhaftete, ihre Treffpunkte schloss und ihre Vereine verbot.
Die NS-Gesellschaft scheint keine klare Linie gehabt zu haben, was im Bereich Travestie verboten werden sollte. Parallelen lassen sich hier zur Travestie-Komödie "Viktor und Viktoria" (1933) sehen, die auch vom "Völkischen Beobachter" gelobt wurde. In der NS-Zeit war die Travestie wohl ähnlich unklar in der Bewertung wie die Nacktkultur, die manchmal positiv (Körperertüchtigung) und manchmal negativ ("Sittenverderbnis") konnotiert war.
"Zurück zur Natur": Die Gleichschaltung der Funkenmariechen
Männliches (l.) und weibliches (r.) Funkenmariechen in der NS-Propaganda (1937)
Die vielen Funkenmariechen in Köln erlitten sogar ein Jahr vor der "Jungfrau" eine vergleichbare Geschlechterzensur. Auch die Funkenmariechen wurden bis 1936 traditionell von Männern dargestellt. Dann warfen auch hier die Nazis alle Traditionen über den Haufen und verteidigten ihre Zensur 1937 unter der fragwürdigen Überschrift "Zurück zur Natur". Natürlich meinten sie damit nicht ihr ökologisches Bewusstsein, sondern ihr Verständnis einer Natur, die über das Geschlecht auch die soziale Rolle definiert.
Im Gegensatz zur Jungfrau im Dreigestirn blieb man in der Nachkriegszeit bei der durch die Nazis eingeführten Regelung. Das lässt sich auch provokant formulieren: Beim Geschlechterwechsel der Tanzmariechen haben sich die Nazis mit ihren Vorstellungen bis heute durchgesetzt. Alle Funkenmariechen werden seitdem von Frauen verkörpert. Alle? Nein, es gibt eine wichtige Ausnahme: Die Karnevalsgruppe der schwulen "Rosa Funken". Es ist schade, dass Adolf Hitler diesen Ausbruch aus der Geschlechterkonformität nicht mehr erlebt hat.
Was ist mit dem Kinderdreigestirn?
Peter Jungen (l.) als erste "Jungfrau" im Kinderdreigestirn (1965)
Seit 1965 gibt es in Köln auch ein Kinderdreigestirn. In den ersten beiden Jahren wurde die jeweilige Jungfrau durch Peter Jungen (1965) und Timon Duhme (1966) verkörpert. Erst danach wurde diese Rolle von Mädchen übernommen.
Wer und warum hat diese Entscheidung wohl gefällt? Sollte verhindert werden, dass ein Junge als "Jungfrau" in seiner psychosexuellen Entwicklung gestört wird? Sollten kleine Mädchen das Gefühl bekommen, alle wichtigen Positionen erreichen zu können? Wenn man sich fair bzw. geschlechterneutral verhalten möchte, sollte man Mädchen und Jungen das Gefühl geben, alles im Leben erreichen zu können, aber dies auch konsequent umsetzen: Jungen sollten dann nicht nur "Bauer", sondern auch "Jungfrau", Mädchen auch "Prinz" werden dürfen.
Die Hintergründe der bisherigen Regelungen lassen sich nicht recherchieren, liegen aber wohl auf der Hand: Es wird hier zwar weniger um Homosexualität gehen, aber ebenso um die immer wieder spannenden Fragen nach Tradition versus Emanzipation.
Cäcilia Wolkenburg
Die Cäcilia Wolkenburg mit dem Ballett "Feensee" (1912)
Die männliche "Jungfrau" im Kölner Karneval ist vom Humor her etwas ziemlich Spießig-Bürgerliches, denn sie stellt geschlechtsspezifisches Rollenverhalten ja nicht ernsthaft in Frage und kommt auch ohne politische Subversion und direkte homosexuelle Bezüge aus. Ein solcher Travestie-Klamauk lässt sich nicht nur mit der Verwechslungskomödie "Charleys Tante" (1892), sondern auch gut mit der Cäcilia Wolkenburg, der Theaterspielgemeinschaft des Kölner Männer-Gesangs-Vereins (KMGV), vergleichen.
Seit mehr als 140 Jahren werden jedes Jahr zur Karnevalszeit alle Frauenrollen von Männern verkörpert. Auch die "Cäcilia Wolkenburg" hätte vermutlich ein Auftrittsverbot bekommen, weil auch sie nicht ins NS-Bild von Männlichkeit passte. Auftritte während der NS-Zeit sind nicht bekannt, aber nach dem Zweiten Weltkrieg packten die Männer für das Damenballett "Dr. Jan kütt heim" (1946) ihre Tutus direkt wieder aus. Bis heute sind sie fester Bestandteil des (unpolitischen) Karnevals und werden für ihre Travestie gefeiert – in der Kölner Oper und manchmal vor einigen Millionen Fernsehzuschauern.
Schwule in der NS-Zeit
Die Diskussionen in Bezug auf Jungfrauen und Tanzmariechen sind zunächst einmal nur theoretische Überlegungen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass durch die NS-Ideologie Schwule zu Opfern wurden, die zu Tausenden in Konzentrationslagern starben.
In dem Buch "Verführte Männer. Das Leben der Kölner Homosexuellen im Dritten Reich" (1991) wird dem Kölner Karneval ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 23-30). Hier wird auch das Schicksal zweier Männer geschildert, die in Köln zur selben Zeit strafrechtlich verfolgt wurden, als man in derselben Stadt über die weibliche Jungfrau diskutierte. Der Düsseldorfer Hilfsarbeiter Andreas Sch. hatte in Köln 1936 den Dekorateur Wilhelm J. kennen gelernt und mit ihm gefeiert. Die gemeinsam verbrachte Nacht hatte ein Nachspiel. Andreas Sch. hatte gelegentlich als Stricher gearbeitet, wurde 1938 verhaftet und ging bei seiner Vernehmung auch auf Wilhelm J. ein, der zu dieser Zeit eine zweieinhalbjährige Gefängnisstrafe wegen Homosexualität absaß. Beide Männer hatten versucht, das "Karnevalsfest als mildernden Umstand geltend zu machen. Das erwähnte Motiv des 'Ausrutschers' erschien den Beschuldigten als geeignete Taktik", um zu versuchen, ihr Verhalten zu rechtfertigen.
Authentizität durch Maskierung
Postkarte in Privatbesitz mit mehrdeutiger und sexualisierter Körperhaltung
Der Kölner Karneval bot grundsätzlich eine größere sexuelle Freiheit, die allerdings – wie die Verurteilungen zeigen – auch trügerisch sein konnte. Zu Karneval war es weitgehend akzeptiert, stereotype Geschlechterrollen abzulegen und sich als Frau zu verkleiden. Die Maskierung – ein wesentliches Element des Karnevals – spielt dabei eine besondere Rolle. Dass auf diese Weise ausgerechnet eine Maskierung auch zur Authentizität beitragen kann, wirkt nur vordergründig als Paradox, wie es schon vor mehr als hundert Jahren Oscar Wilde in ein Bonmot einzukleiden wusste ("Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen").
Otto de Joux lässt in seinem Buch "Die Enterbten des Liebesglücks" (1893) einen Homosexuellen zu Wort kommen: "Erst im Karneval ist unsere Zeit gekommen; da dürfen wir für einige Wochen wahr und ohne Maske erscheinen, indem wir uns maskieren" (S. 119). Aus diesem Grund wird der Kölner Karneval vermutlich nie seine große Anziehungskraft verlieren. Hier ist vieles erlaubt, was ansonsten nicht erlaubt ist. Er bietet die Möglichkeit persönliche und gesellschaftliche Grenzen zu überschreiten – nicht nur durch Masken, sondern auch durch die Kleidung des anderen Geschlechts.
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Trotzdem: Was Homosexualität und Travestie ursächlich miteinander zu tun haben sollen, ist mir schon immer ein Rätsel. Als Schwuler bin ich nun mal ein Mann und habe keinen Grund, mich als Frau zu verkleiden, und attraktiv sind für mich andere Männer, und zwar gerade nicht solche, die sich als Frauen verkleiden. Ich glaube, insoweit wird immer verkannt, dass sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zwei verschiedene Paar Schuhe sind.