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Kommentar
Queer muss wieder für Emanzipation und Offenheit stehen
Jan Feddersens "Queergida"-Vergleich ist unterirdisch, doch seine Kritik an Sektierer*innentum in der Regenbogencommunity trifft einen wahren Kern.

Hat die Aussage "We're Queer" noch eine identitätsstiftende Bedeutung? (Bild: ZDF)
- Von Bodo Niendel
19. April 2019, 10:34h 4 Min.
Der "taz"-Journalist und Vorsitzende von "Queer Nations", Jan Feddersen, hat Anfang des Monats mit einem sprachlich geschliffenen und bewusst provokanten Kommentar im schwulen Magazin "Mannschaft" große Wellen ausgelöst. Weil er gleich in der Überschrift Teile der LGBTI-Community als "Queergida" bezeichnete, kochten die Emotionen im Netz hoch. Und die Kritik ebbt nicht ab.
Doch genaues Lesen lohnt. Feddersen schreibt, dass es in der Regenbogencommunity kein "Projekt" gibt. "Oder wenn, dann nur in kleineren Teilen, vor allem akademischen. 'Projekt' meint aber: ein Zirkel, der die meisten ausschließt."

Der schwule "taz"-Redakteur Jan Feddersen fühlt ich von einer "Queergida" bedroht
Diesem Projekt unterstellt er, dass "Penisträger exkommuniziert werden": "Die 'Queers' machen moralische Vorgaben, wer zu den Guten und wer zu den Bösen zu zählen ist. Wer sie nicht befolgt, wird ausgesondert." Des Weiteren sei Judith Butler ihre "Hohepriesterin".
Jan Feddersen bezieht sich also nicht auf alle Menschen, die sich für queere Politik und Praxis einsetzen, explizit nicht auf die Bürgerrechtsbewegung, sondern es geht ihm um die Queer-Theorie, die sich um Judith Butler herum gruppiert. Dies scheint mir bei den meisten Kommentator*innen, die ihn in eine rechte Ecke stellen, schon einmal unter den Tisch zu fallen.
Für die Hamas, gegen "Homonationalismus"
Nach der Veröffentlichung von "Beißreflexe" von Patsy l'Amour laLove und "Freiheit ist keine Methapher" von Vojin Sasa Vukadinovic liegen zwei gewichtige Kritiken an der Queer-Theorie vor. Auch diese sind an vielen Stellen überspitzt, doch sie belegen, dass sich hier tatsächliche einige Menschen in ein Sektendasein zurückziehen.
Diese Gruppe geht gegen Dreadlookträger*innen vor und wirft ihnen "kulturelle Aneignung" vor. Sie schwingt die Fahne des "Antiimperialismus" und folgt der antisemitischen BDS-Bewegung, die zum Boykott israelischer Produkte (ausdrücklich unterstützt von Butler) ausruft. Sie unterstellt queeren Aktivist*innen in Israel, nur ein Alibi der angeblichen Kriegspolitik Israels zu sein. Die Bürgerrechtsbewegung wird per se als "Homonationalismus" diskreditiert, terroristische Selbstmordattentäter werden gefeiert (Jasbir Puar) und die terroristische Hamas wird als Teil der Linken gesehen (Butler). Schwule Männer und ihre Lebenserfahrungen (§175, Berufsverbote, Aidskrise etc.) werden dabei geringer geschätzt.
Patsy L'Amour la Love ist nach der Buchveröffentlichung im Netz massiv bedroht worden. Andere Autor*innen des Sammelbandes berichten ebenfalls von Ausgrenzungen. Ja, an diesem Punkt hat Jan Feddersen Recht, es handelt sich um mehr als Einzelfälle. Und der leider von ihm unterschlagene Antisemitismus ist mehr als verbreitet in diesem "Projekt". Man erinnere an den Kreuzberger CSD 2016.

Unser Kommentator Bodo Niendel ist Referent für queer-Politik der Bundestagsfraktion Die Linke
Man muss konstatieren: Dieses queere "Projekt" hat Gesellschaftskritik auf Glaubenssätze reduziert und hat in vielen Teilen keine progressiven Ansätze mehr. Es scheint eine Dunstglocke aus Theorie und Praxis zu sein, die sich eher um sich selbst dreht, Feinde in den eigenen Reihen ausmacht und kaum Verbindung zu anderen Politikansätzen sucht. Gerade im Angesicht des massiven Rechtsrucks und der Notwendigkeit, Bündnisse zu schließen, ist das Agieren dieser Gruppe in weiten Teilen sektiererisch. Ihre offenliegenden Schwächen kaschiert sie mit einem moralischen Rigorismus.
Dies bedauere ich ausdrücklich. Doch anders als Feddersen hege ich noch die Hoffnung, dass viele Teile davon sich wieder einer emanzipatorischen Politik zuwenden könnten. Anders als der "taz"-Redakteur würde ich hier eher einen Vergleich zu Doktrin und Praxis des Marxismus-Leninismus (eine Erfindung Stalins) herstellen, die Feddersen aus seiner eigenen Vergangenheit nur zu gut kennt.
Der Rechtsruck verlangt neue Bündnisse
Der Vergleich zu Pegida ist unterirdisch. Das queere Sektierer*innentum ist nicht vergleichbar mit einer in Teilen faschistischen Straßenbewegung mit einem parlamentarischen Arm, und von ihr geht keinerlei Gefahr für die Demokratie aus. Aber es grenzt massiv Theorie und Praxis ein und hat sich dabei ein eigenes Universum an Zitationsquellen geschaffen.
Des Weiteren beschleicht mich auch bei Feddersen das Gefühl, dass er von einer gesicherten schwulen Identität mit einer dazugehörigen Praxis ausgeht. Gerade die von ihm geschätzten Sexualwissenschaften belegen, dass gleichgeschlechtliches Begehren einem steten Wandel unterliegt. Hier tappt er selbst in die Falle der Essentialisierung.
Gerade Bündnisse mit Lesben und trans- sowie intergeschlechtlichen Menschen und weiteren gesellschaftlichen Gruppen sind im Angesicht des Rechtsrucks jetzt vonnöten. Diese Demokratie muss jetzt verteidigt und ausgebaut werden. Queer stand einmal für einen emanzipatorischen Aufbruch und eine Offenheit im Denken. Dies hat das Projekt in weiten Teilen verloren. An diesem Punkt muss ich Jan Feddersen leider zustimmen.















Zustimmung in jedem Punkt!
Noch ein Blick in die Türkei und zu Zeki Müren, der lange vor Butler den postmodernen Gender Trouble geradezu erfunden hat, aber genau wusste, wer ihn auf der queeren Spielwiese trotz allem Macho-Gehabe gegen seine Todfeinde beschützt:
www.sozcu.com.tr/hayatim/magazin-haberleri/zeki-murenin-anit
kabir-ziyareti/
www.starkibris.net/index.asp?haberID=166003
"Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation!" (Mustafa Kemal Atatürk)