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Der Reiz des Rebellischen

Wie benebelt sind wir vom Stonewall-Mythos?

Vor 50 Jahren wurde in der Bundesrepublik der Paragraf 175 reformiert – wir erinnern uns aber lieber an Stonewall als an unsere eigene deutsche Geschichte. Das ist ein bisschen absurd, aber kein Zufall.


Auch vor zehn Jahren schon ein beliebter Spruch beim CSD: "Stonewall was a riot" (Bild: samchills / flickr)

Das "Stonewall Inn" im Oktober 1969. Im Schaufenster ist (übersetzt) zu lesen: "Wir Homosexuellen bitten unsere Leute inständig, sich bitte friedlich und ruhig auf den Straßen des Greenwich Village zu verhalten" (Bild: Diana Davies / New York Public Library / wikipedia)

Die Kämpfe in der Nacht des 27. und 28. Juni 1969 in der Bar "Stonewall Inn" in der New Yorker Christopher Street sind nun 50 Jahre her. Im queeren Langzeitgedächtnis verdeutlichen sie eine Zäsur und Zeitenwende, was auch die Filmtitel "Before Stonewall" (Amazon-Affiliate-Link ) (1984) und "After Stonewall" (Amazon-Affiliate-Link ) (1999) gut verdeutlichen.

Vorher gab es lediglich eine kleine Bewegung, die jedoch sehr brav, recht ängstlich und im Vergleich zu Stonewall ziemlich langweilig war. Dann kam Stonewall mit seinem bunten Protest gegen die Obrigkeit und mit Menschen, die bereit waren, für die gleichen Rechte auch energischer zu kämpfen.

Jetzt ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und eine Legendenbildung hat eingesetzt. Wie sehen diese Legenden aus? In diesem Kontext kann man auch auf die weniger glamourös wirkende deutsche Geschichte verweisen, wo ganz andere Kräfte dafür verantwortlich waren, Homosexualität unter erwachsenen Männern zu legalisieren.

Wie entwickeln sich Legenden und Mythen?

Die "Titanic" ist ein Beispiel von vielen, an dem man veranschaulichen kann, wie sich Legenden und Mythen entwickeln. Ein Schiffsunfall mit vielen Toten bleibt nicht ohne Grund mehr als 100 Jahre im Langzeitgedächtnis. Die Gründe, warum die "Titanic" zum Mythos und zu einem Symbol wurde, lassen sich ansatzweise nachvollziehen: Für einige ist die technische Selbstüberschätzung mit einem angeblich unsinkbaren Schiff mit dem Turmbau zu Babel vergleichbar. Auf der "Titanic" saßen Arm und Reich (schon fast allegorisch) in einem Boot. Es ist typisch für einen Mythos, dass es die Wahrheit in vielen Versionen gibt: Nach dem Untergang der "Titanic" erzählen die einen von Jazzmusik, die anderen von christlicher Musik, die am Ende gespielt wurde.

Ein weiteres Beispiel ist der Rebell James Dean, der einer ganzen Generation aus der Seele sprach und dessen früher Tod erheblich zur Mythos-Bildung beitrug. Ein Unfalltod wegen überhöhter Geschwindigkeit passt einfach perfekt zu seinem Leben auf der Überholspur. Dass er nur deshalb sterben musste, weil ihm jemand die Vorfahrt nahm, hört sich nicht mehr so toll an.

Über Legenden und Mythen gibt es viele Filme, die diesen Hype nicht produzieren, sondern ihn nur belegen. Legenden und Mythen werden von der kollektiven Erinnerung wachgehalten – allerdings nicht, weil sie real sind, sondern weil sie eine Parabel auf das sind, woran die Menschen glauben wollen und wovon sie in ihrem Innersten berührt werden.

Der schöne Mythos "Stonewall"

Nicht nur der soeben erwähnte Schiffsunfall, sondern auch eine Prügelei mit der New Yorker Polizei im Juni 1969 wäre schon nach einigen Tagen vergessen gewesen. Warum es dann doch anders kam und Stonewall zum Mythos und Symbol wurde, lässt sich wohl nur ansatzweise und spekulativ beantworten. Zum einen wirkt es so wunderschön archaisch, für seine Rechte immer noch physisch zu kämpfen, gerade weil wir in einer Zeit leben, in der wir uns lieber mit schlagkräftigen Argumenten behaupten. In der Stonewall-Erzählung hat die kleine diskriminierte LGBTI-Szene gegen die große Polizeigewalt gewonnen. Das ist wie der Kampf von David gegen Goliath, bei dem unser Gerechtigkeitsgefühl angesprochen wird, wenn – wie auch hier – der Schwächere gewinnt.


Der Straßenkampf von Stonewall mit Polizisten (Bild: Stonewall Inn)

Zudem markiert Stonewall den Beginn der US-Homo­sexuellenbewegung und gehört damit zum schwulen Gründungsmythos. Dieser Mythos wird damit zu einer Art Ersatzreligion. Diesen Glanz der Geschichte muss sich Stonewall nur noch mit dem Castro-Viertel in San Francisco teilen.

Die Menschen, die in dieser Nacht kämpften, werden als sehr bunt beschrieben: Schwule, Lesben und trans Frauen. Es geht um Schwarze und Weiße aller sozialen Schichten – quasi eine Überdosis an Diversity. Auch das entspricht dem Traum, dass Menschen aller Ethnien, sexuellen Identitäten und Orientierungen gemeinsam Seite an Seite kämpfen.

Zum Stonewall-Mythos gehört auch die Schwulenikone Judy Garland, die mit ihrem Lied "Somewhere over the Rainbow" den perfekten Ausdruck schwuler Sehnsüchte gefunden hat. Ihr Tod am 22. Juni – einige Tage vor Stonewall – hat die Szene destabilisiert und aufgebracht; ihr Begräbnis fand am Tag von Stonewall statt. Auf diese Weise bereichert die Legende Judy Garland mit ihrem Tod die Legende von Stonewall.

Hollywood hätte diese Story nicht besser erfinden können, denn sie hat alles: Leidenschaft, Träume, existenzielle Fragen, Sex, Prominenz und ein Happy-End. An eine solche Geschichte möchte man glauben, weil sie einfach so wunderschön ist.

Kritik am Mythos

Die amerikanischen Soziologinnen Elizabeth A. Armstrong und Suzanna M. Crage kamen im Rahmen ihres wissenschaftlichen Aufsatzes "Movement and Memory. The Making of the Stonewall Myth" (2006) zu der Erkenntnis, dass Stonewall nicht als ein Zündfunke für das Entstehen der Bewegung, sondern als ein gut in Szene gesetztes Ereignis zu bewerten sei. Auch schon vor 1969 habe es in den USA kleinere Veranstaltungen und sogar Aufstände von LGBTI gegen Polizeigewalt gegeben, die jedoch weitgehend ignoriert wurden. Dazu gehörte der Aufstand nach einer Razzia im "Compton's" in San Francisco (1966), der von der Szene jedoch nicht als erinnerungswürdig eingeschätzt wurde. Zudem fehlte es der Szene auch an Kräften für eigene Veranstaltungen.


Straßenkampf in San Francisco im Jahr 1966, der nicht zum Mythos wurde (Bild: Gaylesf / wikipedia)

In New York gab es im Juni 1969 dagegen nicht nur einen Anlass, sondern auch eine starke Bewegung, die auf der Suche nach politischer Ausdrucksfähigkeit war. Die Bewegungsaktivisten, die auch schon während des Aufstandes Kontakte zu Journalisten hatten, machten sich anschließend Gedanken darüber, wie sie sich eine Sichtbarkeit verschaffen könnten. Die gut promotete Stonewall-Story wurde so zur Grundlage von Paraden, die auch von anderen Städten übernommen wurden. Nach den Autorinnen sollte die Bedeutung der Stonewall-Story neu überdacht werden, die eher eine Errungenschaft der Bewegung als eine exakte Darstellung der Geschichte ist. Oft wird ausgeblendet, dass das Stonewall Inn der Mafia gehörte und gelegentlich die eigenen Besucher erpresste, die Razzia jener Nacht auch damit zu tun hatte.

Wie mutig ist eigentlich eine andere Sicht auf Stonewall? Roland Emmerich wurde für seinen Film "Stonewall" (2015) wegen "White Washing" kritisiert, weil er in der Hauptrolle einen Weißen der Mittelschicht als Protagonisten wählte. Bestand das Problem wirklich darin, dass er die Geschichte von früher falsch erzählt habe, oder darin, dass er zu wenig die Legende bediente? Die heutige LGBTI-Szene hatte offenbar einen Schwarzen erwartet, der als Teil der Unterschicht den Vorstellungen wohl am meisten entgegengekommen wäre.


Artikel aus der "Sunday News" vom 29. Juni 1969

Am Stonewall-Mythos rüttelt auch die schwule Jugend. Auf dem schwulen Jugendportal dbna.com schreibt der User "Tinky Winky" im Jahr 2005: "Stonewall ist natürlich ein Mythos. Wahrscheinlich war bei genauer Betrachtung das Ereignis völlig unbedeutend. […] Insofern ist Stonewall auch nicht wirklich als ein wichtiges historisches Ereignis zu sehen, mehr als ein Auslöser, ein Symbol. Und der Ursprung dieses Symbols ist letztlich unwichtig, wichtig ist seine Bedeutung."

Die Amerikaner haben den Reiz des Rebellischen

Die auch in Deutschland vorgenommene Glorifizierung von Stonewall hat viele Vorteile: Stonewall spricht das Zusammengehörigkeitsgefühl der Szene an, führt zu Solidarität und schweißt alle queeren Menschen zu einer machtvollen Bewegung zusammen. Dadurch bekommt man nicht nur einen Wertekanon, sondern auch eine gemeinsame Geschichte, auf der man aufbauen kann.

Für Schwule und Lesben sind Stonewall und der CSD so identitätsstiftend wie für die Kölner der Dom und der Karneval. Und wie sich Generationen von Kindern an den Märchen der Gebrüder Grimm erfreuten, so erfreut sich die heutige Generation queerer Menschen an der Legende von Stonewall. Der Straßenkampf mit seinem Reiz des Rebellischen und der Kraft der Revolution funktioniert vermutlich auch deshalb so gut, weil er räumlich und zeitlich ziemlich weit weg ist.

Die Deutschen haben alte, weiße Hetero-Männer


Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) wollte schon 1967 das Strafgesetz ändern (Bild: Der Spiegel, 10. April 1967)

Die diesjährigen deutschen CSDs werden nicht daran erinnern, was in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Strafrechtsreform 1969 passiert ist. Das liegt daran, dass hier nichts geschehen ist, was sich als spannend vermitteln lässt. Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt keine schwulen Superhelden und keine heroische, bunte bzw. revolutionäre Szene.

Seit den Fünfzigerjahren gab es in der Bundesrepublik zwar eine Szene mit Kneipen und Zeitschriften, aber sie zeugen nur von einem Leben in der Illegalität. Natürlich gab es Schwule und Lesben, aber aufgrund der drohenden Strafverfolgung konnte sich niemand erlauben, offen homo­sexuell aufzutreten. Homo­sexuelle hatten keine gesellschaftliche Relevanz.

Ein Kölner Journalist beschrieb 1966 sehr genau eine schwule Revolution in Deutschland und wie hier der Lederkerl gemeinsam mit der Tunte die Welt verändert. Diese phantastische Geschichte einer Revolution war aber nur eine satirische Fiktion, erdacht vom schwulen Schriftsteller Felix Rexhausen in seinem Roman "Lavendelschwert". Der realitätsferne Roman kann natürlich als Ausdruck der geheimsten Wünsche der Schwulenszene interpretiert werden. Mit Stonewall scheint eine solche Revolution Realität geworden zu sein. Was für ein Unterschied!

Die seit Mitte der Sechzigerjahre in der Bundesrepublik diskutierte und im September 1969 umgesetzte Strafrechtsreform, die u.a. die Liberalisierung des Paragrafen 175 beinhaltete, wurde vom Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) initiiert. In einem Bericht zur Strafrechtsreform (Drucksache V/32, 23.04.1969, S. 30-33, hier S. 30) lässt sich genau nachlesen, wie es im Bundestag zur Legalisierung kam: Sie geschah nach dem Vorbild von 13 europäischen Strafgesetzen und nach dem Rat von Medizinern, Psychologen, Juristen und der evangelischen bzw. katholischen Kirche. Es waren also vermutlich alte, weiße, heterosexuelle Männer, die diese Reform unterstützten. Mit dieser Formulierung wollen wir diese Personengruppe würdigen und griffig verdeutlichen, wie stark es von jenem Bild abweicht, dass man sich gerne von einer engagierten, bunten Bewegung macht. Diese bedeutende Strafrechtsreform fiel für die Schwulen im Westen Deutschlands offenbar vom Himmel – ohne eigenes Zutun und ohne nachweisbare Beteiligung.

Von 1969 bis 1979 war Stonewall kein Thema

Einige Schwule und Lesben bringen heute die Reform des Paragrafen 175 im September 1969 und die ersten Jahre der deutschen Schwulenbewegung mit Stonewall in Verbindung. Zu dieser Einstellung kommt man vermutlich, weil man mit der heutigen Bezeichnung "CSD" auf eine falsche Fährte gelockt wird, denn die Bezeichnung impliziert schließlich eine Nähe. Aber dieser Mythos bzw. diese Vermutung ist falsch: In den ersten zehn Jahren hatten die Straßenkämpfe von Stonewall keinerlei Relevanz innerhalb der deutschen Homo­sexuellenbewegung.

Erst nach der Legalisierung im September 1969 kann man vorsichtig von einer Bewegung sprechen, die im Fahrwasser der Studentenbewegung stattfand. Mit "Him" und "Du & Ich" gab es die ersten Schwulenzeitschriften, und der Filmemacher Rosa von Praunheim weckte mit seinem Film "Nicht der Homo­sexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" (1971) die Schwulen recht unsanft aus ihrem Dornröschenschlaf auf. Viele Gruppen gründeten sich, und in Münster wurde 1972 erstmals für homo­sexuelle Rechte demonstriert. Martin Dannecker publizierte seine Studie "Der gewöhnliche Homo­sexuelle", und zur gleichen Zeit brachte der "Spiegel" 1973 seine schwule Titelgeschichte "Homo­sexuelle. Befreit – aber geächtet" (Heft 11, 1973) heraus.


Die erste schwule Demonstration 1972 in Münster (Bild: Archiv Rosa Geschichten)

In all diesen Quellen gibt es keinerlei Hinweise auf Stonewall. Es ist generell fraglich, warum Proteste in den USA eine Relevanz für Deutschland haben. Es gibt zwar hin und wieder parallele internationale Entwicklungen (die sexuelle Revolution, HIV und Aids), manchmal auch nationale Themen, die in anderen Nationen übernommen werden (Diskussion um Leih­mutter­schaft), aber vor allem viele länderspezifische Proteste, die im jeweiligen Land verbleiben (französische Gelbwesten-Proteste).

CSD, quo vadis?

In den Siebzigerjahren nahm die Homo­sexuellenbewegung in der Bundesrepublik immer mehr Fahrt auf. Es wurden immer mehr Veranstaltungen organisiert. Ein Höhepunkt war das internationale Homo­sexuellentreffen "Homolulu" (1979) in Frankfurt. Dies kommt schon wie ein schwules Woodstock daher, verkörpert Aufbruchstimmung, bietet Identifikationsmöglichkeiten und wird zur Initialzündung vieler Homo-Projekte. Parallel dazu bezieht man sich seit 1979 immer stärker auf das Ereignis Stonewall, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, bis der Ausdruck "CSD" zum Synonym für Homo­sexuellenbewegung wird.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Der Bezug auf Stonewall eint die Community nach innen, während sie nach außen als Teil einer größeren Bewegung erscheint. Die seit dieser Zeit auch nach amerikanischem Vorbild entstehenden CSDs geben ein verändertes Bild der Szene ab und entwickeln sich von Demonstrationen zu volksfestartigen Veranstaltungen mit Partys und Paraden. Der Mix aus politischen Protesten und einem Karneval im Sommer kommt gut an und entwickelt sich auch kommerziell erfolgreich. Ein bisschen absurd ist das Ganze schon, weil wir hier mit großem Aufwand einen Aufstand würdigen, den es hier nicht gab.


Früher lesbisch-schwuler Protest 1987: "Wir lassen uns nicht länger unterdrücken" (Bild: Bundesarchiv, Bild 224-015-128-31)

Heute bemühen sich die CSD-Veranstalter um griffige Themen und versuchen, die heterogene Gruppe all der Menschen an einen Tisch zu bringen, die Politik mit Spaß verbinden wollen. Ein solcher CSD scheint den kleinsten gemeinsamen Nenner darzustellen. Aber es stellt eine Herausforderung dar, den CSD inhaltlich lebendig zu erhalten, da die verbleibenden Diskriminierungen im Recht sowie in der Gesellschaft immer geringer werden.

Paradoxerweise gibt es immer mehr CSDs, zunehmend auch in kleineren Städten. Dort setzen sie ein Zeichen für Sichtbarkeit von LGBT und schaffen somit Akzeptanz in der Gesellschaft. Es gibt die interessante Idee, den CSD in einem Jahr einfach mal ausfallen zu lassen. Ein durchaus diskutabler Vorschlag, um zu prüfen, ob der Szene etwas fehlen würde.

Generell ist der CSD jedoch viel zu wichtig, um ihn aufzugeben. Wenn Schwule, Lesben und trans Personen mit Gleichgesinnten feiern, ist dies schließlich nicht nur eine ganz nette Wochenendbeschäftigung. Sich als Minderheit in der Mehrheit zu fühlen bzw. sich von der Mehrheit getragen zu fühlen ist ein für die psychische Gesundheit wichtiges Erlebnis. Auch führt die CSD-Bewegung zu einem internationalen Austausch und der Einzelne kann sich dadurch als Teil einer weltweiten Bewegung sehen.

Die Frage bleibt, wie und in welcher Tradition wir in diesem Jahr und den nächsten Jahren den CSD feiern möchten. Es wäre gut gewesen, wenn die beiden unterschiedlichen 50-Jahr-Jubiläen "deutsche Strafrechtsreform" und "Stonewall" nicht im gleichen Jahr stattgefunden hätten, weil die Erinnerung dann akzentuierter gewesen wäre. Zudem wäre die Vermutung über einen kausalen Zusammenhang beider Ereignisse nicht so ohne Weiteres möglich. Zumindest beim Kölner CSD ist klar, dass es nur um Stonewall gehen wird. Hier werden zum CSD schwule und lesbische Ampelmännchen installiert. Auch diese politische Entscheidung wird mit Stonewall begründet, die aber dem erkennbaren Wunsch der Szene entspricht.


Auch die schwulen und lesbischen Ampelmännchen in Köln sollen 2019 "nur" an Stonewall erinnern

Unser Kopf sagt "nein" zu Stonewall

Wenn es nach den jährlich stattfindenden CSDs geht, sollen wir uns mit einem Aufstand in den USA identifizieren. Das ist ziemlich viel verlangt, denn wir sind froh, dass wir in Deutschland leben, wo wir nicht zu einem Pflasterstein greifen müssen, damit unserere Forderungen nach Gleichberechtigung umgesetzt werden.

Für uns gehört es zur politischen Kultur, dass man im Dialog bleibt und zunächst mit Argumenten zu überzeugen versucht. Das wird für uns von der deutschen Homo­sexuellen-Geschichte verkörpert, die vielleicht nicht glamourös, aber zumindest erfolgreich ist. Auch an diese deutsche Geschichte zu erinnern hätte sich unseres Erachtens gelohnt: Es ist immer noch faszinierend, dass vor rund 120 Jahren die weltweit erste Homo­sexuellenbewegung von Deutschland ausging.

Leider wird aber schon seit vielen Jahrzehnten in Deutschland einiges blind aus den USA übernommen, wozu auch Stonewall gehört. Hinzu kommt die Legendenbildung von Stonewall, bei der uns vieles als zurechtgebogen erscheint. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der Stonewall-Aufstand als eine Art "Scheinriese": Je näher man ihm kommt, desto kleiner und unbedeutender wird er. Nur durch die regelmäßige wiederholte Rezeption wird er zu einem großen, bedeutenden Ereignis.

Unser Bauch sagt "ja" zu Stonewall

Vom Gefühl her kann die weit verbreitete Faszination von Stonewall als etwas Gutes angesehen werden. Auch wir sehen hier den ungleichen Kampf von David gegen Goliath. Vielleicht wäre es in den USA auch gar nicht möglich gewesen, die Emanzipation mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Dann ließe sich in der Gewalt eine legitime Form der Notwehr erkennen. Stonewall lässt sich zudem als wichtiger Schritt aus der Opferrolle heraus betrachten.

Auch die Instrumentalisierung von Geschichte kann legitim sein. Philosophisch kann man zu dem Schluss kommen, dass die Lüge, mit der alle gut leben können, besser ist als die Wahrheit, die niemandem hilft (und niemanden interessiert). Die große Bedeutung von Stonewall als wichtige Identifikationsmöglichkeit für die gesamte LGBT-Szene steht eh außer Frage. Der Vorteil von Stonewall ist zudem, dass alle Menschen erfasst werden, die sich für eine Emanzipation einsetzen, während es bei einer Diskussion um den Paragraf 175 einseitig nur um Schwule gehen kann (lesbischer Sex war nicht strafbar).

Der Mythos Stonewall hat zu Recht Eingang in das queere kollektive Langzeitgedächtnis gefunden. Diesen Glauben an Stonewall möchten wir niemandem nehmen, insbesondere wenn Stonewall nicht als historisches Ereignis, sondern nur als Symbol begriffen wird. Vielleicht lassen sich die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland auch in versöhnlicher Form trennen: Aus Deutschland präferieren wir die politischen Verhältnisse und die Streitkultur; aus den USA präferieren wir manchmal die Form, sich in Szene zu setzen.

Am Dienstag, den 4. Juni findet im Rahmen des Cologne Pride das Couchgespräch "Von Stonewall zum 1. Kölner CSD" statt (19.30 Uhr, Barcelon) – unsere beiden Autoren Benno Broermann und Erwin In het Panhuis werden vor Ort sein.

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#1 Lukas9117Anonym
  • 04.06.2019, 07:26h
  • Habe ne echt coole doku über stonewall gesehen und die war so wunderschön
    dass sogar tränen fließen
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#2 michael hnkAnonym
  • 04.06.2019, 09:39h
  • Ein interessanter, auf genaue und differenzierte Darstellung fokussierter Artikel!

    Bei aller legitimen Wertschätzung eines zweifellos historischen Ereignisses sollte man aufpassen, dass man es mit dem Abfeiern und der Lobhudelei auch nicht übertreibt. Der Grad, auf dem authentische Bewunderung und echter Respekt in einen hohlen, meist verklärenden Party-Hype inkl. so mancher kommerzieller Trittbrettfahrerei abzudriften droht, kann mitunter auch ein sehr schmaler sein.

    Der Wirkungsgrad von Demonstrationen, an denen Tausende, Zehntausende oder auch Hunderttausende teilnehmen, auf eine Gesamtgesellschaft sollte nicht überhöht, sondern realistisch eingeordnet werden. Auch die formale Existenz und spätere Abschaffung von vereinzelten Unrechtsparagrafen, die eines demokratischen Rechtsstaates - natürlich - unwürdig sind, spielt bzgl. der Frage "Wie tickt eigentlich die Gesellschaft?" längst nicht die bedeutsame Rolle, die oftmals unterstellt wird.

    Hierzulande wurde von den Stonewall-Ereignissen seinerzeit, bis auf ganz wenige links-intellektuelle Zirkel, kaum Notiz genommen. Ergo blieb auch der Einfluss auf die Gesellschaft gleich null: Die Vorurteile gegenüber Homosexuellen waren in den 70er Jahren in ihrer Art und Dimension exakt die gleichen wie vor den Stonewall-Ereignissen. Auch die Lockerung des §175 änderte daran kaum etwas. Ich erinnere nur mal an die Kießling-Affäre, an eine Art moderne Hexenjagd, die wegen kolportierter Homosexualität noch 1984 möglich war, oder auch daran, wie man noch bis Anfang der 90er Jahre ungeniert HIV/Aids als "Schwulen-Seuche" bezeichnet hat. So ehrenvoll der "Aufstand von Stonewall" auch gewesen war, sein Einfluss auf die westliche Gesellschaft, auch auf die amerikanische selbst, blieb doch sehr überschaubar. Ebenso die Abschaffung des - formell noch bestehenden - §175 in Deutschland: Wen hatte das denn im Jahr 1994 schon gejuckt, eigentlich? Zu welchen revolutionären Veränderungen kam es denn in den Folgejahren? Richtig: Zu keinen.

    Wesentlich wichtiger und einflussreicher als Demos und Gesetzesänderungen scheint mir zu sein, was an Innovationskraft von einer jungen, nachkommenden Generation ausgeht. Der Blick zurück ist ja ganz nett, doch sollte wirklich nur kurz dauern und zumindest für die Analyse auch nicht zu weit zurückgehen. Die heutige, in der westlichen Gesellschaft zumindest annähernd erreichte Gleichstellung hat mit Stonewall oder dem Ende des §175 de facto nur sehr sehr wenig zu tun, davon können in rührenden TV-Dokus wirklich nur noch alte Herren erzählen. Was aber in den letzten 20 Jahren so alles geschah, das wäre wichtig zu verstehen: Neuer Zeitgeist durch Rot-Grün, digitale Revolution, Wowereits "Ich bin schwul und das ist auch gut so" und noch vieles mehr. DAS ALLES hat erst die große Veränderung gebracht; wobei mir die digitale Revolution sprich Internet der mit Abstand wichtigste Einflussfaktor zu sein scheint. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung tatsächlich nur in einem sehr kleinen Teil dieser Welt überhaupt existiert. Im großen Rest der Welt wird man grundlegende Veränderungen gewiss auch nicht durch Demos und bunte Armbändchen erreichen können, sondern erst durch eine werteorientierte, durch eine strategische wie kompromisslose Wirtschafts- und Handelspolitik, die innovative Kräfte in der Zivilgesellschaft entscheidend fördert. DAS erst wird die gewünschten Kräfte freisetzen, und weniger, wenn nur ein bisschen Show gemacht wird.
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#3 queere_femmeAnonym
  • 04.06.2019, 09:40h
  • In vielen Punkten ein schöner Artikel, danke dafür.
    Aber: Es ist schon ein Knaller, mit keinem Wort die Rolle der Frauen- und Lesbenbewegung als Unterstützerin im Kampf um die Entkriminalisierung schwuler Sexualität zu benennen UND gleichzeitig eine Lanze für den armen gedissten weißen alten Mann zu brechen. Meine Fresse.
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