Friedrich Engels (1820-1895) war zusammen mit Karl Marx (1818-1883) der einflussreichste Theoretiker des Sozialismus und des Kommunismus. Von beiden Männern sind Tausende Briefe überliefert; alleine Karl Marx korrespondierte mit rund 2.000 Personen. In seinem Brief vom 22. Juni 1869 an seinen Freund Karl Marx ging Friedrich Engels ausführlich auf eine homosexuelle Publikation ein. Seine Formulierungen sind homophob, überheblich, zynisch beziehungsweise ängstlich und verdeutlichen authentisch seine Sicht auf Homosexualität.
Engels' Brief vom 22. Juni 1869
Engels' Brief vom 22. Juni 1869 als Faksimile mit den ersten Zeilen des zitierten Briefpassus. Aus dem Bestand des "Internationalen Instituts für Sozialgeschichte" in Amsterdam
"Das ist ja ein ganz kurioser 'Urning', den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staate bilden. Nur die Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im geheimen zu bestehen. Und da sie ja in allen alten und selbst neuen Parteien, von Rösing bis Schweitzer, so bedeutende Männer zählen, kann ihnen der Sieg nicht ausbleiben. 'Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul', wird es jetzt heißen. Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge Generation! Übrigens auch nur in Deutschland möglich, daß so ein Bursche auftritt, die Schweinerei in eine Theorie umsetzt und einladet: introite usw. Leider hat er noch nicht die Courage, sich offen als 'Das' zu bekennen, und muß noch immer coram publico 'von vorn', wenn auch nicht 'von vorn hinein', wie er aus Versehen einmal sagt, operieren. Aber warte erst, bis das neue norddeutsche Strafgesetz die droits du cul anerkannt hat, da wird er ganz anders kommen. Uns armen Leuten von vorn, mit unsrer kindischen Neigung für die Weiber, wird es dann schlecht genug gehn. Wenn der Schweitzer zu etwas zu brauchen wäre, so wäre es, diesem sonderbaren Biedermann die Personalien über die hohen und höchsten Päderasten abzulocken, was ihm als Geistesverwandten gewiß nicht schwer wäre." (Marx/Engels: "Werke". 32. Bd. S. 324-325)
Hintergründe der Begriffe "Urning" und "Päderast"
Karl Heinrich Ulrichs bot mit einer seiner Schriften den Anlass für Engels' Brief
Mit dem "Urning" ist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) gemeint, der sich in zwölf Schriften für die schwule Emanzipation einsetzte und mit "Urning" sogar ein eigenes Wort für "Schwule" kreierte. Viele seiner Schriften verschickte er an Prominente, und mit einer seiner Schriften bot er den Anlass für Engels Brief.
Engels verwendet in seinem Schreibn die Formulierung "Päderasten". Dieser Begriff wird zwar oft im engeren Sinne für gleichgeschlechtliche Sexualkontakte zwischen Männern und Jünglingen in der Antike verwendet, bezeichnete im 19. Jahrhundert jedoch auch homosexuelle Männer im Allgemeinen und drückt auch bei Engels keine Alterspräferenz aus.
Hintergründe der Formulierung "fangen an sich zu zählen"
In seiner achten Schrift "Incubus" (1869) schreibt Ulrichs auf Seite 6, dass es in Deutschland etwa 25.000 Urninge gebe, in Berlin etwa 600 bis 900. Jeder 500. erwachsene Mann ist nach seiner Berechnung homosexuell. Seine Zählung in dieser Broschüre ist in Verbindung mit Engels' Formulierung ein Indiz dafür, dass es sich bei der von Engels ungenannten Schrift um "Incubus" handelte.
Hinter Ulrichs' Zahlenwerk verbirgt sich eine Methode der homopolitischen Emanzipationsarbeit, denn schließlich erscheint die Arbeit erfolgversprechender, je mehr Homosexuelle es gibt. Es ist eine Methode, die auch aus der frühen Homosexuellenbewegung (mit deutlich höheren Zahlen) bekannt ist: Magnus Hirschfeld schreibt am Ende eines 30-seitigen Kapitels über die "Verbreitung" der Homosexualität, dass wohl 2,3 Prozent der Bevölkerung homosexuell seien ("Die Homosexualität des Mannes und des Weibes", 1914, S. 465-493).
Hintergründe der Formulierungen "Macht im Staat" und "im geheimen"
Die Vorstellung, dass homosexuelle Männer wie in Geheimbünden verbunden seien, ist alt, existiert aber in ähnlicher Form bis heute. So meint der Begriff "Homo-Lobby" heute weniger eine legitime Interessenvertretung, sondern drückt eher diffuse Verschwörungstheorien aus, die von angeblichen Geheimzirkeln über eine Unterwanderung der Gesellschaft bis zur Vorstellung einer Homosexualisierung der Welt reichen können. Breit diskutiert wurden diese Theorien, als vor drei Jahren der Papst vor einer "Homo-Lobby" im Vatikan warnte (queer.de berichtete). Die Bezeichnung von queer.de als "Zentralorgan der Homo-Lobby" bezieht sich selbstironisch auf diese jahrhundertealten diffusen Ängste.
Wer über Engels' Formulierung "Macht im Staat" nachdenkt, wird sich wohl auch kurz vergegenwärtigen, das offen schwul und lesbisch lebende Abgeordnete heute in fast allen europäischen Parlamenten zu finden sind. Für den Soziologen und Historiker Klaus Müller ist das Briefzitat von der "Macht im Staat" daher schon "(beinah) prophetisch" ("Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut", 1991, S. 222).
Hintergründe des Hinweises "von Rösing bis Schweitzer"
Johann Baptist von Schweitzer (Foto von 1863) löste mit seiner Homosexualität eine parteiinterne Debatte aus
Mit Rösing ist Johannes Rösing (1793-1862) gemeint, der im Revolutionsjahr 1848 die Leitung des "Demokratischen Vereins" in Bremen übernahm. Von Rösings Homosexualität kann Engels durch Ulrichs' Schrift "Incubus" (S. 90), aber auch durch andere Quellen erfahren haben.
Die Homosexualität von Johann Baptist von Schweitzer (1833-1875), Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), wurde sogar recht breit diskutiert und löste unter den frühen Sozialdemokraten eine erste Debatte darüber aus, wie mit Homosexualität in ihren Reihen umzugehen sei. Von Ferdinand Lassalle wurde Schweitzer politisch unterstützt; im Gegensatz zu Friedrich Engels, der ihn in einem Brief auch mit dem Hinweis auf eine "mannweibliche […] Linie der Lassalleaner" diskreditiert haben soll. (Diese Formulierung steht im selben Brief vom 22. Juni 1869 direkt über der Textpassage zu Ulrichs).
Hintergründe der Formulierung "Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul"
Von den Herausgebern der Briefe – dem Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED – wurde das Zitat mit "Krieg den vorderen, Friede den hinteren Leibesöffnungen" übersetzt, was von Volkmar Sigusch ("Neosexualitäten", 2005, S. 205) als "verklemmt" bezeichnet wird. Die treffendere Übersetzung wäre "Krieg den Fotzen, Friede den Arschlöchern".
Es ist eine erkennbare Referenz auf "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" als Ausruf während der Französischen Revolution – übernommen in einer Streitschrift Georg Büchners von 1834. Auch bei diesem Passus zeigt sich Friedrich Engels' paranoide Angst vor einem Umschwenken der öffentlichen Meinung über Homosexualität. Seine Angst blieb unbegründet: Während in Frankreich in Folge der Französischen Revolution Homosexualität legalisiert wurde, dauerte in Deutschland die strafrechtliche Verfolgung fort.
Hintergründe der Formulierungen "zu alt" und "Tribut zahlen müssen"
Hier drückt sich Engels' paranoide Angst vor Anmache und körperlicher Bedrohung aus, die – ähnlich wie die Ängste vor einer angeblichen "Homo-Lobby" – wohl zeitlos sind. Michael Hellmann schreibt auf seiner Homepage zu Engels' vorgespielter "Verfolgungsangst": Engels wähne "sich bereits persönlich anal herausgefordert. Nur sein Alter könne ihn jetzt noch schützen. Engels unterstellt also, dass schwule Männer Vergewaltiger seien und obendrein vom Jugendwahn besessen. Sind das vielleicht Projektionen? Ist das vielleicht keine zynische Umkehrung des Unterdrückungsverhältnisses? Werden hier Heteros von Schwulen grausam verfolgt?"
Hintergründe der Behauptung "nur in Deutschland möglich"
Die Homosexuellenbewegung, die sich rund 30 Jahre nach diesem Brief in Deutschland gründete, war weltweit einmalig. Diese deutsche Vorreiterrolle kann man für einen Zufall halten, aber auch vermuten, dass die Formen politischer Proteste auch von der jeweiligen nationalen Kultur abhängig sind. So sind die Franzosen nicht erst seit der Französischen Revolution dafür bekannt, dass sie schneller als die Bürger benachbarter Staaten öffentlich protestieren. Insofern sind Überlegungen spannend, inwiefern eine national geprägte Identität auch bei der deutschen Homosexuellenbewegung ausschlaggebend war. Eine Antwort darauf lässt sich allerdings kaum finden und wäre spekulativ.
Hintergründe der Formulierung "introite" bzw. "tretet ein"
Der Ulrichs-Biograph Hubert Kennedy weist darauf hin, dass Friedrich Engels das Wort "introite" (lateinisch für "tretet ein") als eine Einladung zum Analverkehr lesen wollte ("Engels wanted to read [the reference] as an invitation to anal intercourse". In: "Gay Men and the Sexual History of the Political Left". 1995, S. 73).
Dies könnte eine Anspielung auf Ulrichs Schrift "Mennon" (1968) sein, denn diese trägt das Motto "Introite! Nam et hoc templum naturae est! ("Tritt ein! Denn dies ist auch ein Tempel der Natur!"), womit Ulrichs seine Auffassung von der "Natürlichkeit" der Homosexualität unterstreichen wollte. Ulrichs wandelte hier einen Ausruf ab, der auf den vorsokratischen Philosophen Heraklit zurück geht ("Introite, nam et hic Dii sunt!" = "Tretet ein, denn auch hier sind Götter"] und durch Lessings "Nathan der Weise" bekannt ist. Nach Kennedy deutet das Zitat möglicherweise darauf hin, dass Engels auch Ulrichs' Schrift "Memnon" (1868) kannte.
Hintergründe der Formulierung "nicht die Courage"
Engels bezeichnet Ulrichs indirekt als feige, weil dieser nicht offen schwul auftrat. Auch hier gibt es eine unselige Tradition. Oft waren es dieselben Personen, die eine strafrechtliche Verfolgung von Schwulen befürworteten und den Schwulen trotzdem vorwarfen, ihre Homosexualität in unehrlicher Form zu verheimlichen.
Dieser Vorwurf ist bei keiner anderen Person unangebrachter als bei Karl Heinrich Ulrichs. Er war die erste Person des öffentlichen Lebens, die offen mit der eigenen Homosexualität umging. Seit seiner sechsten Schrift "Gladius furens" (1868) verwendete er kein Pseudonym mehr, schrieb bei schwulenpolitischen Forderungen oft in der "Wir"-Form und forderte in einer Rede auf dem deutschen Juristentag am 29. August 1867 die Straffreiheit homosexueller Handlungen. Es ist also geradezu absurd, ausgerechnet Karl Heinrich Ulrichs fehlenden Mut vorzuwerfen.
Hintergründe der Anspielung "von vorn hinein"
Der Historiker Hubert Kennedy hat in seiner Biografie "Karl Heinrich Ulrichs" darauf verwiesen, dass Engels' (sexualisiert wirkender) Verweis auf Ulrichs Formulierung '"von vorn hinein', wie er aus Versehen einmal sagt" ein deutliches Indiz dafür ist, dass sich Engels in seinem Brief auf Ulrichs' achte Schrift "Incubus" (1869) bezieht. Dort ist der Schreibfehler "von vorn hinein" statt "von vorn herein" gleich zweimal zu finden (S. 9, S. 50). Die Herausgeber der Marx-Engels-Briefe – also das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED – benennen Ulrichs' neunte Schrift "Argonauticus" (1869), die jedoch erst Ende September 1869 erschien.
Die Schrift "Incubus" (1869) führte zu Friedrich Engels deutlicher Positionierung
Hintergründe des Hinweises auf "das neue norddeutsche Strafgesetz"
Als Engels seinen Brief schrieb, wurde gerade über ein neues Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund beraten. Dabei wurde die Legalisierung von Homosexualität zwar diskutiert, die Strafverfolgung aber letztendlich beibehalten. Die Strafbarkeit von Homosexualität zwischen Männern wurde im neuen "Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund" (31. Mai 1870, S. 230) unter der Nummer "§ 175" geregelt. Ein Jahr später wurden der Inhalt und die Nummer vom Reichsstrafgesetzbuch und später auch vom Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland übernommen. Bis 1994 blieb der Paragraf in verschiedenen Textfassungen gültig. Aufgrund der Tabuisierung wurden Schwule anhand der Nummerierung auch als "175er" diskreditiert. Für die ersatzlose Streichung des Paragrafen wurde mehr als 120 Jahre lang gekämpft.
Die ersatzlose Streichung des Paragrafen 175 war eines der wichtigsten Ziele der deutschen Homosexuellenbewegung
Zur gleichen Zeit, als man über den strafrechtlichen Umgang mit Homosexualität diskutierte, fand auch der öffentlichkeitswirksame Prozess gegen Carl von Zastrow statt, der zwei Jungen vergewaltigt bzw. ermordet haben sollte und der im Oktober 1869 verurteilt wurde. Insoweit fällt Engels Brief gleich doppelt in eine schwulenpolitisch bewegte Zeit.
Zur Formulierung "droits du cul" (franz. für "Rechte des Arsches")
Auf diese Briefstelle bezogen sich Volker Beck (Bundestagsabgeordneter der Grünen 1994-2017) und Günter Dworek, als sie vor 30 Jahren in der "taz" ihren programmatischen Artikel "Die 'Rechte des Arsches' erkämpfen: 20 Jahre Christopher-Street-Day. Wohin geht die Schwulenbewegung der neunziger Jahre?" (24.06.1989) veröffentlichten. Sie schrieben hier: "Parlamente können zwar die 'droits de cul' (Rechte des Arsches) anerkennen, wie Friedrich Engels 1869 zu Unrecht fürchtete, […] erkämpfen und realisieren müssen wir sie schon selbst." Damit wurde zwar Friedrich Engels 120 Jahre nach seinem Brief zitiert – allerdings bestimmt nicht so, wie er sich das wohl gerne gewünscht hätte. Auch die Formulierung "Rechte des Arsches" ist damit ein Beispiel, wie man negativ besetzte Begriffe auch ins Gegenteil umkehren kann. Das, was einen beleidigt, lässt sich auch in Stolz umkehren.
Fünf weitere Briefe von Engels
Weitere Briefe sind in Bezug auf Homosexualität weit weniger ergiebig, können aber das Bild von Engels' Homophobie ergänzen und abrunden. Zwei Briefe zeigen, dass Engels die Wörter "schwül" und "Arschficker" zur Diskreditierung anderer Männer verwendet, wie "dieser schwüle Dr. Boruttau" (Marx/Engels: "Werke", 32. Bd., S. 123) und der "Arschficker [Wilhelm] Hasselmann" (Marx/Engels: "Werke", 38. Bd., S. 31).
Ein bisschen konkreter wird es, wenn Engels tatsächlich Homosexuelle meint: 1883 bezeichnet er einen Prinzen der Hohenzollernfamilie als "Päderasten von Profession" (Marx/Engels: "Werke", 35. Bd., S. 428) und 1888 berichtet er von einer Frau, die leider "Pech" mit ihren Nachbarn hatte, weil sie "einige Päderasten ins Haus" bekommen habe (Marx/Engels: "Werke", 37. Bd., S. 36).
In Verbindung mit "bugger-Skandalen" ["Arschficker-Skandalen"] in England betonte Engels 1890, dass auch ein Lord Euston der "Päderastie beschuldigt" worden sei (Marx/Engels: "Werke", 37. Bd., S. 353).
Friedrich Engels über die Antike
Auch Engels' Äußerungen über das antike Griechenland in seinem Buch "Der Ursprung der Familie…" (1884) verdeutlichen seine Einstellung zur Homosexualität. Danach "versanken" die Männer "in die Widerwärtigkeit der Knabenliebe und ihre Götter entwürdigten" sie "durch den Mythus von Ganymed". (S.67). Die griechischen Männer hätten "arge widernatürliche Laster angenommen" (S. 71). Engels findet es unverständlich, dass für einige Menschen das Geschlecht beim Sex keine Rolle zu spielen scheint: Dem Dichter Anakreon "war die Geschlechtsliebe, in unserem Sinne, so sehr Wurst, daß ihm sogar das Geschlecht des geliebten Wesens Wurst war" (S. 78).
Offensichtlich konnte sich Engels gut mit den alten Germanen identifizieren, die nach seiner Auffassung ganz andere Prinzipien hatten und im Gegensatz zu den Griechen "Feigheit, Volksverrat und unnatürliche[r] Wollust" mit dem Tod bestraften (S. 138/139). (Karl Marx/Friedrich Engels: "Werke". 21. Band, 1962)
Friedrich Engels als Privatperson
Friedrich Engels starb 1895 in London
Engels' Brief von 1869 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, bietet aber gerade deshalb ein hohes Maß an Authentizität. Trotz seinem Rückgriff auf die (vermeintlich vornehme) französische Sprache entspricht der Ton dem, was wir heute "locker room talk" nennen. Einige Autoren bemerken zu Recht, dass dieser Brief von einer reflektierten Einschätzung menschlicher Sexualität weit entfernt ist, und lösen ihn als eine private Äußerung konsequent von politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Betrachtungen.
Die heutigen Bewertungen fallen zwar unterschiedlich aus, es gibt jedoch niemanden, der Engels' Meinung teilt. Der Autor Götz Scharf bittet allenfalls darum, "den beiden Alten mildernde Umstände zuzubilligen", weil es schließlich 1869 "noch keine eigenständige Sexualwissenschaft" gab ("5 von Hundert homosexuell", 1990, S. 17). Für Manfred Herzer sind es "eher einfältige Spötteleien" ("Magnus Hirschfeld", 1992, S. 32). Volkmar Sigusch macht es sich bei seiner Kritik etwas sehr leicht, wenn er zum Briefinhalt nur vermerkt: "Ansonsten spricht alles selbst gegen sich selbst" ("Neosexualitäten", 2005, S. 204-205).
Zwei Autoren beschäftigen sich mit Engels' erkennbarer Angst: Simon Akstinat formuliert seine Erkenntnis als Frage: "Wussten Sie, dass sich die beiden Urväter des Kommunismus vor der Herrschaft der Schwulen fürchteten?" ("Akstinats faszinierende Fakten", 2006, S. 18-20). Mike Laufenberg geht davon aus, dass es bei Engels' Angst gar nicht um den Verlust von Privilegien oder sozialer Vorrechte ging, sondern er schlägt eine ganz andere Interpretation vor: Engels habe Angst vor dem "Bild des penetrierten Männerkörpers" gehabt. Laufenberg betont, dass sich wohl nirgendwo die Angst so deutlich zeige "wie im Penetrationstabu" ("Sexualität und Biomacht", 2014, S. 187-188).
Friedrich Engels als Politiker
Für den Historiker Martin Lücke ist die von Engels im Brief zum Ausdruck gebrachte Haltung "charakteristisch für große Teile der Arbeiterbewegung, die in Homosexualität vor allem eine bürgerlich-dekadente Verfallserscheinung erkannten" ("Männlichkeit in Unordnung", 2008, S. 68). Ähnlich klingt Florian Grams in einem Online-Aufsatz (2018): "Engels machte an dieser Stelle aus seiner Homophobie keinen Hehl und teilte so eine Tradition, die in der Arbeiter*innenbewegung lange wirksam blieb."
Damit wird eine Verbindung zwischen Brief und Politik hergestellt. Von einer politischen Leitfigur erwarten viele Menschen eine Glaubwürdigkeit, bei der sich auch die private Lebensführung und private Äußerungen mit dem Bild decken sollen, das die betreffenden Menschen als Politiker verkörpern. Es gibt Rezipienten des Briefes, die von Friedrich Engels als Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus auch in privaten Briefen Positionierungen erwarten, die seinem politischen Anspruch gerecht werden.
Sehr gespannt war ich daher auf das "Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus", das in seinen 15 Bänden einen achtseitigen Artikel über Homosexualität bietet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass sich Engels' Positionierungen in diesem Brief "weder im Ton noch im Inhalt von entsprechenden Äußerungen politischer Gegner" unterscheiden, was sich zwar tatsächlich kritisch, aber auch etwas relativierend anhört. Zum oben schon erwähnten Kommentar in "Der Ursprung der Familie…" sehen die Autoren des Wörterbuches "nicht viel mehr als ein Vorurteil" (Bd. 6/1, 2004, Spalte 521-522).
Deutlichere Kritik und mehr Relativierung bietet Michael Hellmann in einem Beitrag auf seiner Homepage (2005). Er lobt Marx und Engels für ihre Leistungen, aber beide seien auch "Kinder ihrer Zeit" gewesen. Sie hatten "noch nicht alle Fäden zur bürgerlichen Ideologie im Allgemeinen, und zur deutschen Ideologie im Besonderen, zerschnitten. […] Marx und Engels sind voll verantwortlich für ihre heterosexistischen Auffassungen, die inhaltlich dem revolutionären Wesen des Marxismus widersprechen." Für Hellmann ist "Heterosexismus und männlicher Chauvinismus" zu ächten und der Kampf für Schwule und Lesben ein "integraler Bestandteil des Kampfes für die klassenlose Gesellschaft".
Privates und Politisches
Friedrich Engels hatte zwar genaue Vorstellungen über eine idealisierte Gesellschaft ohne Klassen und Vorurteile; dabei hat er aber seine eigenen Vorurteile und seine intuitive Abneigung gegenüber Schwulen vermutlich nie hinterfragt. Man kann davon ausgehen, dass es bei allen Politikern in allen Parteien unterschiedlich große Widersprüche zwischen öffentlicher und privater Rolle gibt – eine Lücke zwischen privater Lebensführung und politischem Anspruch. Auch die SPD mit ihrer langen Geschichte und ihrer nicht immer klaren Haltung zur Homosexualität ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist gut, dass dies auch bei Friedrich Engels – und damit für den Kommunismus – anhand des Briefes so deutlich dokumentiert werden kann.