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  • 12. September 2005 11 4 Min.

Warum die Entscheidung Liverpools, ein eigenes Homo-Viertel einzurichten, konsequente Minderheitenpolitik ist.

Von Micha Schulze

Die Nachricht sorgte in Deutschland, auch unter Schwulen, für Kopfschütteln: Der Stadtrat in Liverpool hat letzte Woche beschlossen, ein schwules Viertel zu errichten. An einem noch zu findenden Ort in der Innenstadt soll eine neue Szene mit Clubs, Kneipen, Kleidungsgeschäften und Frisören entstehen. Liverpool, das bisher über keinen CSD und eine eher bescheidene Szene verfügt, will damit an den Erfolg des "Gay Village" in der Nachbarstadt Manchester anknüpfen.

Das "staatlich verordnete Ghetto", wie Kritiker polemisieren, ist das Ergebnis einer konsequent zu Ende gedachten Minderheitenpolitik, mit der man sich in Deutschland noch sehr schwer tut. So gehört es zum Lieblingsvokabular von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), dass es hierzulande keine "Ghettos" geben dürfe: "Am Schluss stünden dann zweisprachige Ortsschilder herum. Das kann ich nicht gutheißen." Nicht nur beim Innenminister ist er noch spürbar, der alte deutsche Traum von einer monokulturellen Volksgemeinschaft. Politiker quer durch alle Parteien wollen das Land regieren wie eine Grünanlage, in der spontaner Wildwuchs stets sorgfältig und akkurat auf dieselbe Heckenhöhe beschnitten wird, jegliches Unkraut von vornherein keine Chance hat. Im Klartext heißt das: Türken in Deutschland sind okay, solange sie kein Kopftuch tragen und nicht im Tiergarten grillen. Schwule in Deutschland sind kein Problem, solange sie nicht in Lederklamotten auf der Straße feiern.

Es ist die gesellschaftliche Gruppe, nicht das einzelne Individuum, das kulturelles Kapital hervorbringt

In einer Rede auf einem Verbandstag des Lesben- und Schwulenverbands hat Michel Friedman einmal das "Recht auf Anderssein" proklamiert. In der Minderheitenpolitik hört man diese Forderung selten, dabei wäre sie gerade hier angebracht. Denn wer mit "Integration" das Andere und Fremde einfach verschwinden lassen will, grenzt aus. Ziel einer vernünftigen Minderheitenpolitik muss daher die Anerkennung jeder Differenz sein – erst dies führt letztlich zur Integration in eine sich wandelnde Gesellschaft. Doch von einer solchen Politik ist Deutschland meilenweit entfernt.

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Dass sich Otto Schily bislang nur abschätzend über das türkische "Ghetto" in Berlin-Kreuzberg geäußert hat, nicht aber über das schwul-lesbische "Ghetto" rund um die Motzstraße, zeigt nur die stärkere Akzeptanz, die die Homo-Szene mittlerweile in der Gesellschaft errungen hat. Vom Grundgedanken her müsste der "Homo-Kiez" dem Bundesinnenminister ebenso wenig gefallen: In der Motzstraße fühlt sich die Hausfrau aus Pfaffenhofen schließlich genauso fremd wie in der Kreuzberger Oranienstraße. Auch hier werden heterosexuelle Deutsche zur Minderheit, es wird eine eigene Kultur gepflegt bis hin zu Kleidung, Frisur und Slang. Nicht alle Bars und Kneipen sind hier für jedermann zugänglich.

Auch wenn selbst in der Szene manchmal gegen die eigenen "Ghettos" und ihre Normen polemisiert wird: Viertel und Straßen wie der Motzstraßen-Kiez, die Kettengasse in Köln oder die Lange Reihe in Hamburg sind wichtige schwul-lesbische Freiräume. Man hat dort nicht nur die Chance, "Gleichgesinnte" kennen zu lernen, sie bieten für jeden und jede die Möglichkeit, sich einmal nicht verstellen zu müssen, einmal selbst in der Mehrheit zu sein. Das sind der Grund und auch der Reiz, warum sich diese Viertel in allen größeren Städten etabliert haben und auch weiter wachsen werden. Für Schwule und Lesben besteht kein Zwang, dort hin zu gehen oder gar zu leben. Einfacher als Menschen mit anderer Hautfarbe können sie zwischen den unterschiedlichsten Milieus pendeln.

Denkt man Otto Schilys Politik konsequent zu Ende, würden diese Freiräume verschwinden: Um "Ghetto"-Bildung zu verhindern, würde ein Großteil der Motzstraßen-Bars in Außenbezirke mit wenig Homo-Infrastruktur umgesidelt: "Tom’s Bar" kommt nach Marzahn, das Jaxx eröffnet neu in Lichtenrade...

Es ist die gesellschaftliche Gruppe, nicht das einzelne Individuum, das kulturelles Kapital hervorbringt. Wem schadet es denn, wenn die Mehrheit in diesem Lande tagtäglich und offen sichtbar mit anderen Traditionen konfrontiert wird? Jede Minderheit bereichert Deutschland kulturell und politisch. Dies sollte nicht nur respektiert, es sollte wie in Liverpool sogar gefördert werden.

Dass selbst "Ghettos" wirtschaftlichen Interessen nicht entgegenstehen, zeigt ein Blick nach Kanada: Die Metropole Toronto in Ontario etwa vermarktet ihre Minderheiten-Quartiere als Touristenattraktion. In den offiziellen Broschüren wird nicht nur der Besuch von "Chinatown" und "Little Italy" empfohlen, auch "Rainbow Village", das schwul-lesbische Viertel der Stadt, gilt dort als Aushängeschild.

12. September 2005

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#1 rudolfAnonym
  • 12.09.2005, 21:53h
  • Davon halte ich gar nichts.

    Ich will mich und meinen Gatten überall und in jeder Situation der Mehrheitsgesellschaft zumuten. Und ich meine, daß ich auch was von Menschen mit anderen Lebensentwürfen (z. B. auch von Heteros mit vier Kindern) lernen kann.

    Wo kommt denn der Begriff Ghetto her? Er war das Gefängnis, aus dem unsere Juden im Zeitalter der Aufklärung ausbrachen, um in die Mitte der Gesellschaft vorzustoßen und volle Gleichberechtigung einzufordern. Bei diesem Prozeß, der auch ein Assimilationsprozeß war, mag einiges an Foklore verloren gegangen sein, aber er war m. E. notwendig. Was ist Euch lieber: gemütliches Schmoren im eigenen Saft oder das Zusammenleben mit nichtschwulen Mitbürgern, das zwar Konflikte mir sich bringt, aber eben auch viele Überraschungen und Herausforderungen?
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#2 wolfAnonym
  • 13.09.2005, 10:22h
  • mich stört der begriff ghetto, in dem von mir ungeliebten amiland, hat jede grössere stadt ihr chinatown oder ähnliches, da spricht kein mensch von ghetto.
    ich bin der meinung solche bezirke werden erst zum ghetto, wenn sie sich aussenstehenden verschliessen.
    z.b. ist es mir in den letzten 35 jahren in berlin nie passiert, dass ich heterofreunde, also männlein / weiblein, oder nur weiblein, nicht mit in schwule läden hätte bringen können, ganz im gegenteil.
    insiderbezirke (statt ghetto) bringen auch sehr viele vorteile, sind meistens sehr kreativ, durch die ansammlung ähnlicher interessen. sie bieten menschen, die ihre interessen schwerer vertreten können auch schutzraum und schaden der allgemeinheit überhaupt nicht.
    solche " ecken zum zurückziehen ", mal unter überwiegend gleichgesinnten sein, halte ich für sehr positiv, zu zeiten des § 175, vor 1969, war der zusammenhalt in der szene einfach toll.
    man muss ja da nicht leben, aber man hat die möglichkeiten hinzugehen.
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#3 Wildhase1969
  • 13.09.2005, 10:37hBerlin
  • Ist ja allererste Sahne... - Das erinnert ein wenig an Gauweilers AIDS-Ghetto-Vorstoß Anfang der Achtziger.

    Erstens kann ich mich Rudolfs Argumenten nur 100%ig anschließen. Ich habe meinen mann nicht geheiratet, damit wir uns öffentlich in schwul-lesbischen Schutzräumen bewegen dürfen.

    Zweitens habe ich gerade im Wahlkampf ein sehr schönes Beispiel: Wir stehen regelmäßig an einem Punkt in der Frankfurter Szene, an dem allabendlich viele Schwule vorbeikommen, weil die Ecke "mittendrin" liegt. Nicht im Ghetto, sondern in der City, unweit der Zeil.
    Hierbei haben wir sehr nette Gespräche mit Lesben, Schwulen UND (schau an) der ganz normalen Heterobevölkerung, die wir auf diesem Wege sogar an unseren politischen Sorgen teilhaben lassen und umgekehrt. DAS fördert gegenseitiges Vesrtändnis.
    Unsere besten Freunde sind hetero, sollte ich sie irgendwohin nicht mitnehmen können, dann verzichte ich eben drauf, dazu benötige ich kein wohlwollendes Ghetto. Umgekehrt wird das genauso gesehen.
    Ich dachte, die Briten wären da weiter, aber die Gefolgschaft zum großen Bruder scheint doch stärker zu sein. Für die amerikanische Gesellschaft mögen das ja lebbare Muster sein, damit nicht brave christliche Familienpapis mit ihren Kindern öffentlich die bösen Schwulen anschauen müssen.
    In Deutschland wäre das ein Grund auszuwandern oder die schwul-lesbische Szene zu meiden.
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