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Gleichgeschlechtliche Ehe von 1851
"Moby Dick" und "Billy Budd" sind schwule Klassiker!
Heute vor 200 Jahren wurde der Schriftsteller Herman Melville geboren. Seine Werke wurden rund 60 Mal verfilmt und prägen bis heute die schwule Kultur – als Bücher, Filme und sogar als Oper.

In Melvilles Roman "Moby Dick" geht es nicht nur um Walfang, sondern auch um die Liebe des Ich-Erzählers Ishmael zu Queequeg
1. August 2019, 12:44h 26 Min. Von

PD-Art photographs / wikipedia) Herman Melville auf einem Ölgemälde von Joseph Oriel Eaton aus dem Jahr 1870 (Bild:
Herman Melville (01.08.1819-28.09.1891) gehört mit seinen literarischen Werken zu den großen Autoren des 19. Jahrhunderts; sein Roman "Moby Dick" ist eine Parabel über die Unbezwingbarkeit der Natur und gehört heute zur Weltliteratur. Alleine über die sich liebenden Männer in "Moby Dick" und "Billy Budd" könnte man ganze Romane schreiben. Bis heute ist die schwule Kultur von Melville mitgeprägt. Er begegnet uns nicht nur in Büchern und Filmen, sondern im Fall von "Billy Budd" sogar als große schwule Oper von Benjamin Britten. Ähnlich wie Jean Genets "Querelle" sprach Melville die schwule Leidenschaft für Matrosen an.
Biografisches zu Melville
Alexander Pechmann geht in seinem Buch "Herman Melville, Leben & Werk" (2003) an mehreren Stellen auf die Homosexualität in Leben und Werk Melvilles ein. So beschreibt er, dass die Seefahrer-Realität für Melville sehr unangenehm gewesen sein muss, denn "Beschimpfungen, Drohungen, Gewalt, selbst sexuelle Übergriffe waren nicht ungewöhnlich". Für Pechmann sind diese Zustände vergleichbar mit überfüllten Strafanstalten (S. 33), womit er beim Leser Bilder von Zwangshomosexualität entstehen lässt.
Anhand seines literarischen Werks versucht Pechmann auch Melvilles private Einstellungen zu erfassen. So wird Polygamie "von Melville als überaus vorteilhaft beschrieben". "Selbst Homosexualität, wie sie in der Beziehung zwischen dem Erzähler Tommo und dem Knaben Kory-Kory [im Roman "Taipee"] vage angedeutet wird, wurde nicht geächtet. Für Melville war all dies kein Indiz für Unmoral, sondern ein klarer Vorteil gegenüber der Heuchelei der sogenannten zivilisierten Welt" (S. 62).
Melvilles Freundschaft mit Hawthorne
Pechmann geht ausführlich auf Melvilles Freundschaft mit dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne ein. Melville schrieb ihm im November 1851: "Ich möchte mich zu Dir setzen und mit allen Göttern des alten römischen Pantheons speisen." Danach geht er auf den antiken Mythos der Kugelmenschen ein und schreibt wie er die Seiten von Hawthornes Persönlichkeit bewundert, die seinem eigenen Charakter fremd sind.
Melville: "Mit welchem Recht trinkt Du aus meinem Lebenskrug? Und wenn ich ihn an meine Lippen setze – siehe, sie sind die Deinen, nicht meine. Ich fühle, daß die Gottheit wie das Brot zum Abendmahl gebrochen wurde und daß wir die Stücke sind". Für Pechmann könnte eine solcher Überschwang der Gefühle "aus einem Liebesbrief stammen". "Melville suchte einen Vater, einen Lehrer, einen Bruder, einen verlorenen Teil seiner Seele. Hawtthorne konnte oder wollte dieser Hoffnung nicht entsprechen; er entzog sich der Umklammerung und verschwand aus dem Leben seines Freundes" (S. 141-142).

Melville und Hawthorne
Bei Pechmann wirkt es wie eine dezente Anspielung auf Melvilles Homosexualität, wenn er darauf verweist, dass Melville einer Antinous-Statue "besondere Aufmerksamkeit" geschenkt habe und betont, dass Antinous wegen seiner Schönheit der Günstling bzw. Lustknabe des römischen Kaisers Hadrian war. Sein Freund Hawthorne dagegen habe die im selben Raum des Kapitolinischen Museums (Rom) die ausgestellte Skulptur des "Sterbenden Galliers" (S. 227) bevorzugt. Von Melville sind Vorträge über die Antike bekannt, in denen er auch Nero mit seinen Ausschweifungen behandelte. Melville: "Wie gut kommt in der Statue des Apoll die Idee des perfekten Menschen zum Ausdruck?"
Die Autorin Elizabeth Hardwick ("Herman Melville", 2000, S. 90) und der Anglist Jordan Alexander Stein (2015) verweisen noch auf ein weiteres Zitat von Melville über Hawthorne: "Mir ist, als hätte dieser Hawthorne keimenden Samen in meine Seele gestreut."
"Omoo" (1847), "Typee" (1849) und die Hinweise von Edward Carpenter
Melvilles "Omoo" ist ein autobiografischer Bericht von seinem Aufenthalt auf Tahiti. Dabei berichtet er nicht nur von außergewöhnlichen Freundschaften (S. 440, hier zitiert nach Melville: "Typee, Omoo, Weißjacke", 1970), sondern auch davon, dass er selbst eine solche Freundschaft mit dem ansehnlichen Kooloo eingegangen sei. "Dadurch entging ich den Zudringlichkeiten der anderen, denn man muß wissen, daß der Tahitier, wenn er auch in Liebessachen wenig zur Eifersucht neigt, in der Freundschaft nichts von Rivalen wissen will" (S. 443). Kooloo spielte jedoch kurz danach "die Rolle des ungetreuen Liebhabers, indem er mich davon in Kenntnis setzte", dass er nun "seine Liebe einem schmucken Matrosen zugewandt" habe, womit "unsere Beziehungen gelöst" waren (S. 444, s.a. S. 467).
In den Publikationen der frühen deutschen Homo-Bewegung wird Herman Melville mit keinem Werk erwähnt. Das liegt offenbar daran, dass Melvilles deutlichstes Werk "Billy Budd" erst 1924 (posthum) und erst 1938 in deutscher Übersetzung publiziert wurde. Melville wurde daher erst recht spät Teil des sogenannten Homo-Kanons.
Es gibt einen britischen Autor, der als Erster und schon vor dem Ersten Weltkrieg im schwulen Kontext auf Melville verwies: Der Homosexuellenaktivist Edward Carpenter zitiert in seiner Anthologie "Iolaus. Anthology of Friendship" (1902, 1917) aus zwei Werken. Aus "Omoo" zitiert Carpenter u.a. die Ausführungen über die "extravagant friendships, unsurpassed by the story of Damon and Pythias, in truth, much more wonderful; for notwithstanding the devotion – even of life in some cases" (hier zitiert nach einer Ausgabe von 1852). Danach zitiert er aus dem Roman "Typee", wo Melville die Schönheit der Männer beschreibt: "His unclad limbs were beautifully formed; whilst the elegant outline of his figure, together with his beardless cheeks, might have entitled him to the distinction of standing for the statue of the Polynesian Apollo".
Kritiker könnten nun einwenden, dass Carpenter mit dieser Anthologie der Freundschaft "nur" platonische Männerfreundschaften gemeint habe, denn schließlich verweisen auch andere Freundschafts-Anthologien – wie Elisar von Kupffers "Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur" (1899) und Peter Hamechers "Die Novellen der Freundschaft" (1919) – nicht unbedingt nur auf homosexuelle Texte. Carpenter wiederholt seine Hinweise über Melville jedoch später in einem deutlich homosexuellen Zusammenhang, nämlich im Kapitel "Die gleichgeschlechtliche Liebe" seines Buches "Das Mittelgeschlecht" (1907, hier 2. Auflage 1908, S. 41-42). Dadurch wird deutlich, dass die Äußerungen Melvilles in "Omoo" und "Typee" von Carpenter als Ausdruck homosexueller Gefühle angesehen wurden. Der homosexuelle Leser wird so 1907 zwar verkürzt, aber erstmals in deutscher Sprache auf Melville aufmerksam gemacht.
Der Roman "Redburn" (1849)
Mit seinem Roman "Redburn" (1849) verarbeitete Melville seine Erfahrungen als Kabinenjunge. Hier freundet sich der Ich-Erzähler mit dem hübschen, aber unglücklichen Jüngling Harry Bolton an, dessen Gesichtsfarbe "zart wie bei einem Mädchen" ist (S. 239, hier in der Übersetzung von W. E. Süskind von 1948). Ihr gemeinsamer Besuch des Londoner Clubhauses "Aladins Palast" (S. 251-261) wird ausführlich beschrieben: Das Haus hat einen halböffentlichen Charakter und ist durch ein rotes Licht kennzeichnet. Auch mit Erwähnungen von Fresken aus Pompeji und Kunstwerke von Tiberius wird die Atmosphäre sexualisiert.
Da nur Männer erwähnt werden, wird in der Sekundärliteratur davon ausgegangen, das ein homosexuelles Bordell gemeint ist. Harry lernt hier einen jungen Mann kennen, der wie ein "blühendes Mandelbäumchen" wirkt, und zieht sich später wie die anderen Gäste in die hinteren Räume zurück, die wie Privatgemächer wirken. Der zurückbleibende Redburn wird von einem Kellner gemustert, bleibt aber kritisch. Für ihn hatte das Haus etwas "Verseuchtes" und ihn überfällt der Gedanke, es könne hier "die Pest aus dem Orient eingeschleppt worden sein". Für den Ich-Erzähler steht London für "Sünde und Verworfenheit" (S. 211), was in der Originalfassung mit "Sodom" einen deutlicheren homosexuellen Bezug hat.
Im Roman wird auch die homoerotische Begegnung mit dem italienischen Drehorgelspieler Carlo (S. 273-278) erwähnt, dessen Augen "weiblich blickten" (S. 273) und der "das Auge erfreut" (S. 277). Sein nacktes Bein "war ein bezaubernder Anblick – zart wie ein Frauenarm (S. 273). "Harry fühlte sich sogleich zu dem Jungen hingezogen" (S. 274). Auf eine weitere Romanfigur verweist der Biograf Pechmann: "Die Vergewaltigung des jungen Redburn durch den bösartigen, fast dämonischen Matrosen Jackson bleibt eine ungewisse, durch Blicke angedeutete Drohung" (S. 94), was ich – zumindest in der Übersetzung von Süskind (S. 65, 305) – für überinterpretiert halte.
Der Roman "Moby Dick" (1851)

Der Gastwirt bietet Ishmael ein Bett an, wenn er bereit ist, sich dieses mit einem anderen Mann zu teilen
Der Roman "Moby Dick" handelt vor allen vom Walfang, wobei Melville aber auch über die unterschiedlichsten Themen wie zum Beispiel das Verhältnis des Menschen zur Natur philosophiert. In einer ausführlichen Nebenhandlung geht es um die Liebe des Ich-Erzählers Ishmael zu Queequeg. Ihre Freundschaft beginnt damit, dass Ishmael bei der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit ein Bett in Aussicht gestellt bekommt, dass er sich allerdings mit einem noch unbekannten Harpunier teilen muss.
Ishmael: "Auf jeden Fall nahm ich mir vor, daß er, sollten wir zusammen schlafen, sich vor mir entkleiden und zu Bett gehen sollte" (S. 19. Alle Zitate nach der Übersetzung von Richard Mummendey, 1999). "Je mehr ich über diesen Harpunier nachdachte, desto mehr war mir der Gedanke zuwider, mit ihm zusammen zu schlafen. Es war mit Recht anzunehmen, daß er als Harpunier nicht über das sauberste, sicherlich nicht über das feinste […] Unterzeug verfügte" (S. 22). Darum will Ishmael mit seiner Entscheidung warten, bis er diesen Mann auch kennenlernt, denn schließlich sei das Teilen des Bettes ein Verhältnis, "das man als intim und vertraulich im höchsten Grade bezeichnen muß" (S 25).
In der Nacht kommt dann endlich sein Bettgenosse, stellt sich als Queequeg vor und rückte im Bett "ganz auf eine Seite, als wollte er sagen: Ich will dir an kein Bein rühren" (sic, S. 33). "Als ich am nächsten Morgen beim Hellwerden erwachte, lag Queequegs Arm mit der liebevollsten und zutunlichsten Gebärde auf mir. Man hätte annehmen können, ich sei seine Frau" (S. 34). "Mit wiederholtem Drängen und lautem, heftigem Protestieren gegen die unschickliche Art, wie er einen männlichen Bettgenossen auf so eheliche Weise umarmte" (S. 36) kann er sich aus der Umklammerung lösen.
Nach dieser Nacht werden die beiden Männer Freunde, und Ishmael erinnert sich später noch gerne an diese Nacht zurück, "besonders an den liebevollen Arm […], den ich morgens beim Erwachen auf mir liegend gefunden hatte" (S. 60). Ishmael fühlt sich zu Queequeg hingezogen und als dieser ihn fragte, "ob wir noch einmal Bettgenossen sein würden" bejaht Ishmael. "Wie ich zu ihm, so schien er zu mir eine ganz natürliche und unwillkürliche Zuneigung zu gewinnen, und [dann] drückte er seine Stirn an die meine, umarmte mich und erklärte, von nun an seien wir miteinander verheiratet", womit er so etwas wie "Busenfreunde" (bzw. Blutsbrüder) zum Ausdruck bringen will (S. 61).
Gerade im Bett kann Ishmael mit seinem Freund gut "vertrauliche Bekenntnisse" austauschen, war er mit einer Beziehung von Mann und Frau vergleicht. "So lagen denn auch wir beide da in unserer Herzen Honigmond [=Freundschafts-Flitterwochen], Queequeg und ich, ein trautes, liebendes Paar." Danach war es offenbar kein Problem mehr, dass Queeqeg "hin und wieder […] seine braunen tätowierten Beine liebevoll über meine gelegt" hatte (S. 63). Ihr Umfeld reagiert "aufs höchste belustigt" auf diese Freundschaft (S. 68), was aber Ishmael nicht davon abhielt, Quequeg zu seinem Erben einzusetzen (S. 247).
Drewermann: "Moby Dick" hat einen symbolischen Hintergrund
Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann betont in seinem Buch "Moby Dick oder Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein" (2005), dass es "naturgemäß nicht an Interpreten" fehle, die "Ishmael oder gar Melville selber für homosexuell erklären". Dabei habe Melville – so Drewermann – ein homosexuelles "Verständnis wohl nicht nur in Kauf genommen, sondern geradewegs provoziert, allerdings ein Mißverständnis; denn was er sagen will, ist symbolisch, nicht 'realistisch' zu deuten". Nach Drewermann geht es hier nicht um "triebhaftes Verlangen", sondern um ein Bedürfnis nach "seelischer Ergänzung". Queequeg sei für Ishmael nicht das Objekt seiner Libido, sondern ein "Erlöser" und "Retter" (S. 58), und die "homoerotisch wirkende Bewunderung" sei "nicht sexuell motiviert" (S. 59).
Mir bleibt es unklar, warum die entsprechenden Textpassagen nicht gleichermaßen symbolisch und "realistisch" sein können. Für einen Autor der FAZ (2001) ist die gemeinsame Nacht Ishmaels und Queequegs zwar kein Symbol, aber Ausdruck "unschuldiger Homosexualität, wie sie die Cultural Studies für eine bemerkenswerte Reihe amerikanischer Romane des neunzehnten Jahrhunderts" konstatiert hätten.
Herrmann: "Moby Dick" hat einen realen Hintergrund
Ganz andere Töne schlägt der Psychotherapeut Steven B. Herrmann an, der in seinem Aufsatz "Melville's Portrait of Same-Sex Marriage in Moby-Dick" ("Jung Journal: Culture & Psyche". 2010, no. 3, S. 65-82) auf die Parallelen zwischen Leben und Werk Melvilles eingeht. Dieser habe 1842 auf der Insel Nukakiva den homosexuellen Tayo kennengelernt, der sich um ihn gekümmert und sein Bett mit ihm geteilt habe.
Laut Hermann sind in mehreren Romanen Melvilles an Tayo angelehnte Figuren zu finden und Ishmaels "Hochzeit" mit seinem Busenfreund Queequeg ist nur eine Variation davon. Auf diese Weise habe Melville aus den indigenen Riten Polynesiens ein Porträt einer gleichgeschlechtlichen Ehe gestaltet. Herrmann sieht hier auch eine Verbindung zu Melvilles leidenschaftlichen Liebesbrief an seinen Freund Nathaniel Hawthorne und eine vergleichbare "Brüderlichkeit des Gefühls".
"Moby Dick" in der (schwulen) Kultur
In der allgemeinen US-Kultur wird "Moby Dick" als Teil der Weltliteratur breit rezipiert. Alleine in der US-Zeichentrickserie "Simpsons" nehmen zehn Folgen Bezug auf diesen Roman. Das Bild über der Couch, das in jeder Folge zu sehen ist, gibt mit seinem Segelbötchen – sehr abstrakt und humoristisch – eine Szene aus "Moby Dick" wieder (siehe Folge 15/10).
Eine schwule Rezeption ist selten, weil die homoerotischen Deutungen dieser Textpassagen in "Moby Dick" zu unbekannt sind. "Moby Dick" war aber zum Beispiel der Name eines 1963 eröffneten Schwulencafés in der Berliner Grolmannstraße, wobei es unklar bleibt, ob es dabei nur um ein sexuelles Wortspiel (engl. dick=Penis) oder auch um die Homosexualität Herman Melvilles ging. In diesem Café wurden einige Szenen des Films "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt" (1971) gedreht. Dass Herman Melville ein sexuelles Wortspiel mit "dick" vornahm, lässt sich übrigens ausschließen, weil er sich auf den Roman "Mocha Dick" von J. N. Reynolds (1839) bezog.

Das Schwulencafé "Moby Dick" in dem Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers…"
Die "Moby Dick"-Passage über Queequeg und Ishmael ist Teil der schwulen Anthologie "Moby Dick. The Remix. Erotic Mash Up of Classic Literature" (2015), in der die beiden Männer fälschlicherweise (wohl aus werbetechnischen beziehungsweise wirtschaftlichen Gründen) als schwules Liebespaar beschrieben werden.
Die "Moby Dick"-Passage über Queequeg und Ishmael ist Teil der schwulen Anthologie "Moby Dick. The Remix. Erotic Mash Up of Classic Literature" (Amazon-Affiliate-Link ) (2015), in der die beiden Männer fälschlicherweise (wohl aus werbetechnischen bzw. wirtschaftlichen Gründen) als schwules Liebespaar beschrieben werden.
Als Geschichte über den Walfang ist "Moby Dick" thematisch nur bedingt für eine Theateraufführung geeignet. In seinem Artikel "Der Mann im Meer" von Juni 2018 schreibt Lukas Fuchsgruber über eine Bühnenadaption von "Moby Dick" im Berliner Theater "RambaZamba": Das Theaterstück komme zwar ohne einen Wal aus, ansonsten halte man sich recht eng an Melvilles Erzählung, wie unter anderem in der "liebevollen Bruderliebe" von Ishmael und Queequeg. Dies werde jedoch "im Stück durch affektiertes Rumgeknutsche ins Lächerliche gezogen – tja, Homosexualität oder die Karikatur davon lässt das Stück auch nicht als Ausweg aus der Männlichkeitskrise zu".
"Pierre oder die Doppeldeutigkeiten" (1852)
Ein Jahr nach "Moby Dick" schrieb Melville seinen Roman "Pierre". Der junge Pierre ist der Protagonist des Romans: Der "Himmel schenkte ihm die göttlichste, frischeste Statur […], goß Licht in seine Augen und Feuer in sein Blut und Muskeln in seine Arme und eine […] Lebendigkeit in seinen ganzen Leib" (S. 518, hier in der Übersetzung von Christa Schuenke von 2002). Standesgemäß ist er mit der reichen Lucy verlobt. Parallel dazu beginnt er ein Verhältnis mit Isabel, die von sich behauptet, die Tochter seines Vaters und damit seine Halbschwester zu sein.
Ein weiteres Verhältnis mit deutlicher Nähe zum Inzest hatte Pierre früher mit seinem Vetter Glen (S. 374-390). Beide fühlten sich bis zum "frühen Jünglingsalter […] weit mehr zueinander hingezogen, als dies unter Vettern gemeinhin der Fall ist". Die beiden jungen Männer schwelgten "im Reiche einer Liebe […], die nur um einen Grad zurückbleibt hinter den süßesten Gefühlen, welche zwischen den Geschlechtern herrschen" (S. 374).
Ähnlich wie die Liebe von Mann und Frau bestand auch diese "Liebe zwischen Knaben" aus Streit, Eifersucht, aber auch aus vielen Liebesbriefen (S. 375). "Doch wie die reifende Frucht selbst die schöne Blüte abstößt, so verdrängt schließlich die Liebe zum anderen Geschlecht ein für allemal die ihr vorausgehende Liebesfreundschaft von Knaben" (S. 375-376). Anders ausgedrückt: Homosexualität ist eine pubertäre Phase, in der Pierre "keineswegs unempfindlich gewesen [war] für die mannigfaltigen Einflüsterungen der Liebe" (S. 376-377).
Beide Jünglinge verband eine "Blutsverwandtschaft" (S. 378), was neben dem verwandtschaftlichen Verhältnis wohl auch eine starke emotionale Verbundenheit zum Ausdruck bringt. Später verlieren sie sich aus den Augen (S. 393-396). Als sie sich Jahre später wiedertreffen, "erkannten sie einander" (S. 412), was sich als mögliches Bibelzitat (Genesis 4.1) auch sexuell deuten lässt und damit zu den vielen religiösen und kulturellen Andeutungen in Melvilles Werken gehören würde. Auch Melvilles Kommentar über die "Zeit der alten Griechen" gehört dazu – als die Erde noch so frisch gewesen sei "wie ein gerade gepflückter Apfel" (S. 344) oder wenn er "von schändlichem Treiben" erzählt (S. 415/718) und vermutlich die homophobe Bibelstelle (Römer 1.26-27) vor Augen hatte.
Ausführlich wird im Roman über Pierres Verhältnis zu seinem Vater berichtet, der starb, als Pierre zwölf Jahre alt war (S. 123). Dies wird in der Sekundärliteratur als Indiz für ein autobiografisches Werk gesehen, weil auch Melvilles Vater starb, als Herman Melville zwölf war. Pierres Vater war von "rarer männlicher Schönheit" (S. 123) und ein Ölgemälde von ihm hat für Pierre eine besondere Bedeutung (S. 122-123, S. 129-146, S. 151-153, 246). In der Sekundärliteratur wird betont, dass Pierre vor dem Bild seines Vaters onaniere. In der Schuenke-Übersetzung fehlt ein solch deutlicher Hinweis, wenn sich hier auch die Formulierung findet, dass das Porträt in "noch geheimnisvollere Reize" getaucht wird (S. 146).
Sekundärliteratur zu "Pierre"
Für mehrere Rezensenten ist Pierre eine Projektionsfläche homosexueller Wünsche. James Creech arbeitet dies in seinem Buch "Closet Writing / Gay Reading: The Case of Melvilles Pierre" (1993) deutlich heraus. Um die Parallelen zwischen Pierre und Herman Melville zu veranschaulichen, präsentiert Creech auf dem Cover ein Gemälde von Melvilles Vater mit einer phallisch wirkenden Beule und parallelisiert diese Beule in seinem Buch mit der Romanhandlung von "Pierre".
Hans-Joachim Lang schreibt in seinem Nachwort (S. 621-664) zu "Pierre", dass Creechs Buch ein "intelligentes, ein interessantes Buch" sei, wendet sich jedoch gegen dessen "These, das Inzestthema sei nur vorgeschoben, weil das Eigentliche (Homosexualität) nicht behandelt werden durfte". Das Buch sei damit "mehr ein Beitrag zur Biographie Melvilles in seiner Zeit als eine Interpretation" des Romans. Für Lang geht der eigentliche Text bei Creech zu sehr unter (S. 645). Dabei ist Lang durchaus offen für das Thema Homosexualität und in Grenzen bereit, hier auch Rückschlüsse auf Melvilles Privatleben zu ziehen. Er betont, dass das "verflixte siebte Buch" (S. 638) in "bestimmten Zusammenhängen" sogar als wichtiger als "Moby Dick" angesehen werde – allerdings nicht, weil man es für literarisch besser halte, sondern weil es "uns mehr über seinen Autor zu verraten verspricht" (S. 637). Er betont: "Die Auffassung Melvilles als homosexuell oder bisexuell (um die grobschlächtigen Termini vorläufig zu verwenden) [anzusehen], hat sich gegen erhebliche Widerstände im homophoben Amerika allmählich durchsetzen können."
Dies erinnert Lang – bestimmt nicht zu Unrecht – an die kontroversen Diskussionen um die Homosexualität des Familienvaters Thomas Mann (S. 644). Nach Lang "wissen wir nicht", was Melville mit Männern und Frauen "getrieben" hat, "es ist auch kaum sehr wichtig" (S. 655). Die Zuneigung zwischen Pierre und Glen mache den Roman zwar "noch nicht zu einem schwulen Buch", ist für ihn aber offenbar ein interessanter Mosaikstein – ähnlich wie der Bordellbesuch in "Redburn", die "schönen" homoerotischen Szenen in "Moby Dick" und die "unmissverständlichen" Szenen in "Billy Budd" (S. 655-656). Für Lang lässt sich sogar die These des Literaturwissenschaftlers Robert Martin erhärten: "Die akademische Kanonisierung in den 1940er und 1950er Jahren war zu einem großen Teil das Werk männlicher Homosexueller" (S. 656).
In seinem oben genannten Buch über "Moby Dick" äußert sich Eugen Drewermann auch über das Verhältnis von Pierre und Glen. Für ihn ist es "in dem umfangreichen Gesamtwerk Melvilles die einzige, die klar und offen eine homosexuelle Beziehung beschreibt", die allerdings als "Entwicklungshomosexualität" bezeichnet werden müsse (S. 211, 512).
Die freie Verfilmung von "Pierre"
Der französische Film "Pola X" (2001) basiert auf Melvilles "Pierre". Hier lebt Pierre in der heutigen Zeit in einem Schloss in Frankreich. Wie im Roman ist Pierre mit Lucie verlobt, lernt seine Schwester Isabelle kennen und beginnt mit ihr eine inzestuöse Beziehung (was sogar in kurzen Hardcore-Szenen gezeigt wird). Pierre hatte zuvor ein sexuelles Verhältnis mit seinem Cousin Thibault (statt wie im Roman mit seinem Cousin Glen): Sie treffen sich in einem Café, küssen sich und halten Händchen. Pierre betont, dass er ihn vermisse. Nach mehreren Jahren kommt es auf einer Party zu einem kurzen Wiedersehen, bei dem Pierre seinen früheren Liebhaber um Hilfe bittet. Weil Thibault ihn rausschmeißen lassen will, ist Pierre fassungslos und schreit ihm "You're fucking with me" entgegen. (An der vergleichbaren Stelle im Roman "erkannten sie einander".) Am Ende des Films überfällt Pierre Thibault, zwingt ihn dazu seinen Mund zu öffnen, schiebt ihm zwei (phallische) Pistolenläufe in den Mund und erschießt ihn.
Die Novelle "Billy Budd" (1924)

Der Roman "Billy Budd" in einer Ausgabe, die auf dem Cover den homoerotischen Blickkontakt einfängt
Aus schwuler Sicht ist Melvilles homoerotische Novelle "Billy Budd" am bedeutendsten, die allerdings erst 1924 (posthum) publiziert wurde und die ich nachfolgend nach der Ausgabe von 1948 (Übersetzer Richard Möring bzw. Peter Gan) wiedergebe: Der 21-jährige Matrose Billy Budd wird von einem Handelsschiff, wo er als "hübscher Matrose" von der Besatzung verehrt wurde, für den Dienst auf einem Kriegsschiff zwangsrekrutiert. Auch hier liebt man ihn – wegen seiner kindlich anmutenden Schönheit und seinem offenen, ehrlichen Wesen.
Billy ist "kühn wie ein junger Alexander, der seinen [Hengst] Bucephalus meistert", womit die Bewunderung seines Mutes mit der Vorstellung vom Reiten verbunden wird. Als ihn der Leutnant sieht, legt er "gleich die Hand auf ihn" und "begnügte sich mit seinem ersten Griff", was – in diesem Kontext – wie das Recht der ersten Nacht wirkt. Die anderen Matrosen zeigen ihm auf unterschiedliche Weise ihre Liebe: "Einige waschen ihm sein Zeug, andere stopfen seine alten Hosen, und der Tischler zimmert für ihn in seinen Freistunden eine kleine Kommode." Billy wird als "Friedensengel" und "Blume seiner Mannschaft" bezeichnet.
Assoziationen mit Homosexualität werden durch antike Bezüge evoziert: Das Gesicht dieses "Adonis" bzw. "Apollo" erinnert die Betrachter an die Werke griechischer Bildhauer. In ähnlicher Form werden auch Vergleiche mit Frauen vorgenommen: Billys Gesicht ist "beinah mädchenhaft zart" und seine Rolle an Bord ist "fast die Rolle einer Dorfschönen".
Als Protagonist und Held der Geschichte wird er aber auch mit biografischen Brüchen dargestellt. So hat Billy keine Familie, sondern wurde in einem mit Seide gefütterten Korb gefunden. Billy besitze zudem "keinen scharfen Verstand". Ist er innerlich erregt, fängt er an zu stottern. Dieses "Eingeständnis einer solchen Schwäche" soll "beweisen, daß wir ihn keineswegs als den üblichen Helden vorstellen, und daß auch die Geschichte […] keine Erfindung des Dichters ist". Billy hat noch nicht vom "Apfel der Erkenntnis gekostet" (und ist dementsprechend sexuell "unschuldig") – ganz im Gegensatz zu den anderen Matrosen. Bei ihnen kommen die "Laster, um nun einmal dieses Wort zu gebrauchen, […] sehr viel seltener […] aus einer Verderbtheit des Herzens, sondern aus einer Überfülle an Lebenskraft, die sich nach langer Unterdrückung frei austoben will". (Dieser Satz Melvilles wirkt wie die Legitimierung dessen, was heute "Nothomosexualität" genannt wird).
Auch vom Waffenmeister John Claggart bekommt Billy Komplimente über sein Aussehen. Billy fühlt sich geschmeichelt, merkt jedoch nicht, dass Claggart nichts Gutes im Schilde führt. Die "Verachtung der Unschuld" treibt Claggart an, Billy gegenüber dem Kapitän Vere der Anstiftung zur Meuterei zu beschuldigen. Als Billy die Anschuldigung aus dem Munde Claggarts hört, reagiert er völlig verstört. Weil ihn sein Sprachfehler am Antworten hindert, schlägt er Claggart nieder, der an den Folgen dieses Schlages stirbt. Der Kapitän Vere muss Billy Budd daraufhin vor ein Militärgericht stellen, das ihn zum Tode verurteilt.
"Billy Budd" als Film

Die einzige direkte Verfilmung von "Billy Budd" (1962), hier mit einem homoerotischen Blick auf den schönen Matrosen
Der Film "Billy Budd" (OF) bzw. "Die Verdammten der Meere" (1962) ist die einzige direkte Verfilmung von Melvilles Novelle. Im "Filmlexikon zweitausendeins" wird der Film in Grenzen gelobt: "Ohne den Rang der Vorlage zu erreichen, entwickelt sich doch ein überdurchschnittlicher Abenteuerfilm von hoher darstellerischer und inszenatorischer Intensität." Die homoerotischen Bezüge sind, wie in einem Film von 1962 nicht anders zu erwarten, so dezent, dass sie ohne Kenntnis des Romans kaum zu erkennen sind. Die Keywords "Homo Subtext" und "Gay Interest" in der "Internet Movie Database" (IMDB) verweisen darauf, dass der Subtext aber grundsätzlich bekannt ist.
Vor 20 Jahren versuchte ein französischer Film, dem Stoff durch eine sehr freie Adaption gerecht zu werden. In der Form, wie "Der Fremdenlegionär" (Originaltitel: "Beau Travail", 1999) Kampfszenen mit homoerotischen Szenen verbindet, verdeutlicht er einen Zwiespalt, auf den auch Hannah McGill in ihrer Rezension aufmerksam macht: Weil sich das Militär in seiner "Überhöhung von Kameradschaft, Solidarität und Liebe unter Männern ständig von dem Tabu der Homosexualität loslösen" muss, schafft es "gleichzeitig einen homoerotischen wie homophoben Kontext."

Eine Filmszene aus der freien Filmadaption "Der Fremdenlegionär" von 1999
"Billy Budd" als Oper
Bedeutender als die Novelle ist mittlerweile die Bearbeitung als Oper, wobei aus schwuler Perspektive schon ihre Entstehung beachtenswert ist. Der berühmte britische Komponist, Pianist und Dirigent Benjamin Britten komponierte das Werk. Sein Lebenspartner Peter Pears war der führende Sänger bei vielen Aufführungen. Das Libretto stammt von Edward Morgan Forster, der in den Jahren 1913/1914 den schwulen Roman "Maurice" schrieb, der 1971 (posthum) publiziert und 1984 verfilmt wurde.
Rezensionen sagen nicht nur etwas über das Werk, sondern auch über die Rezensenten aus. Bernd Stopka beginnt seine Rezension zu einer Inszenierung an der Bayrischen Staatsoper in München im Online-Musik-Magazin (2004) mit den Worten: "Billy Budd ist keine 'schwule' Oper." Diese Inszenierung lobt er nicht nur für die Kunstfertigkeit, sondern auch für die Dezenz, mit der "homoerotische Elemente gezeigt [werden], die heutzutage klare Assoziationen wecken". Den Regisseur Peter Mussbach habe die "Kraft", der Versuchung einer zu großen homoerotischen Deutlichkeit zu widerstehen, "nur momentweise verlassen."
Breit rezipiert wurde die Aufführung in der Deutschen Oper in Berlin (2014). Während Kevin Clarke auf queer.de meinte, dass in dieser Aufführung Billy Budd "entschwult" werde, war Peter Pachl in der "Neuen Musikzeitung" (2014) über die gleiche Inszenierung fast entsetzt, denn schließlich hatte er dort einen Knabenchor gesehen. Dieser war ihm wichtig, was auch die Überschrift: "Ein Hohelied auf die Päderastie?" zum Ausdruck bringt. Die Knaben machten auf Pachl "einen gemischten Eindruck", denn deren Präsenz habe schließlich "nicht nur klangliche Gründe", sondern liege darin begründet, dass der berühmte Komponist und sein Freund früher Jungen sexuell missbraucht hätten. "Die homosexuell konnotierten Handlungen der Opern Benjamin Brittens, inklusive deren inhaltlich fixierter Faszination für Päderastie", wurden allerdings zu Lebzeiten von Britten und Pears in szenischen Aufführungen "dezent nivelliert".
Es ist richtig, sich bei begründetem Verdacht von Pädosexualität an die Polizei zu wenden. Die Vorwürfe gegenüber einem 1976 verstorbenen Komponisten zu verwenden, um damit den Auftritt eines Kinderchors im Jahre 2014 zu diskreditieren (ohne die gesungenen Texte kritisieren zu können), sind jedoch ziemlich absurd. In dieser Musikzeitschrift hätte Pachl mehr über die Musik und weniger von sexuellem Missbrauch schreiben sollen.
Anhand von Youtube kann man sich heute über die unterschiedlichen Opern-Inszenierungen leicht ein eigenes Urteil bilden. Hier sind Inszenierungen aus den USA (NBC Opera Theatre, 1952), England (BBC, 1966) und Norwegen (Norwegian National Opera, 2019) abrufbar. Von der oben genannten Inszenierung in der Deutschen Oper (2014) gibt es ein "Making Of", in dem sich der Regisseur David Alden (bei 1:35 Min.) auch kurz über die Liebe zwischen Männern äußert.
Wer diese Oper kennt, kann bestimmt die Begeisterung nachvollziehen, die in einer aktuellen Rezension von David Belcher in der "New York Times" (2019) deutlich wird, wo er "Billy Budd" als Wendepunkt in der schwulen Geschichte ansieht. "Billy Budd" ist schließlich mehr als eine alte Geschichte, in der der schwule Protagonist am Ende getötet wird, sondern gerade die neueren Inszenierungen können gut seine immer noch gültige Aktualität beweisen. "Billy Budd" hat Literatur, Theater und Film beinflusst und bringt als Tragödie eine tief empfundene Trauer zum Ausdruck. Die Figur "Billy Budd" ist dabei ein Charakter, der weder schwul noch heterosexuell ist und den unsere heutige Zeit immer mehr anzunehmen scheint.
Melvilles Männer und der Matrosen-Mythos
Alle Hinweise des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Popp in seinem Buch "Männerliebe" (1992, S. 95-100) zu "Billy Budd" – Melvilles deutlichstem homoerotischem Werk – lassen sich leicht auf Melvilles andere Werke übertragen. Melville hat für die "latent homosexuelle Lebenswelt der Matrosen" zwei an sich recht typische literarische Mittel eingesetzt: zum einen "die humorvoll-ironische, metaphorische Übertragung des männlichen Bereichs in den weiblichen" und zum anderen Anspielungen auf Griechenland, das "für die gesamte abendländische Literatur als das Land schlechthin [gilt], in dem Homosexualität nicht nur geduldet wurde, sondern geradezu ein gesellschaftserhaltendes Prinzip war".
Sehr gut verdeutlicht Popp, wie der Matrose zur literarischen "Chiffre der homosexuellen Phantasie" wurde: Dabei geht es nicht nur um körperliche Männerschönheit, maskuline Kameraderie und um eine Gemeinschaft mit Männern, die Frauen ausschließt. Der englische Dichter W. H. Auden wird hier mit dem Hinweis zitiert: "Es ist kein Zufall, daß viele Homosexuelle den Matrosen so sehr lieben, denn der Seemann an Land symbolisiert den unschuldigen Gott auf dem Meer, den die Gesetze des Festlandes nicht binden und der deshalb frei von Schuld handeln kann."
Insofern erscheint es nachvollziehbar, wenn Schwule bei Melvilles Matrosen Bilder von "Querelle" vor Augen haben, also jenen Roman von Jean Genet (1947), den Rainer Werner Fassbinder 1982 kongenial verfilmte. Vielleicht denken auch einige an den Matrosen der Band "Village People", der eines von mehreren maskulinen Stereotypen verkörperte. Es ist dasselbe Thema und eine historische Linie.
Tipps zum Weiterlesen
Es ist erstaunlich, wie viele – auch schwule – Autoren sich ausführlich mit der Homosexualität im Leben und Werk Melvilles beschäftigen. Auf Alexander Pechmanns ("Herman Melville, Leben & Werk", 2003) und auf James Creech ("Closet Writing / Gay Reading: The Case of Melvilles Pierre", 1993) bin ich bereits eingegangen. Auch Ken Schellenberg mit seiner schwulen Anthologie "The gay Herman Melville Reader" (2002) ist zu erwähnen, der kommentierend auf offene und verdeckte Textstellen verweist und Melville so auch für moderne Leser wieder zugänglich macht.
Schon sehr früh beschäftigte sich auch der homosexuelle Literaturwissenschaftler Newton Arvin (1900-1963) in seinem Buch "Herman Melville" (1950, 1957) mit der Homosexualität in Leben und Werk. (Arvin war Professor am Smith College, bis er 1960 wegen des Besitzes von homosexueller Pornographie entlassen wurde). Robert K. Martin befasst sich in "Hero, Captain and Stranger" (1986, 2010) vor allem mit der zentralen Bedeutung von Männerbindung und gleichgeschlechtlicher Liebe in Melvilles Werk.
Auf Elizabeth Hardwick mit ihrem Buch "Herman Melville" (2000, 2002) bin ich aufmerksam geworden, weil Friedhelm Rathjen in "Nennt mich Ishmael" (2019. S. 94), einer Sammlung von Aufsätzen über Melville, betont, dass Hardwick viel auf "ihrem speziellen Steckenpferd, der Vermutung einer latenten Homosexualität bei Melville", herumreite. Das macht sie wirklich – in lesenswerter Form.
Der Historiker Rictor Norton findet vor allem Melvilles Briefe spannend. "The Gay Love Letters of Herman Melville to Nathaniel Hawthorne" sind ein Teil der Briefe, die er in seinem Buch "My Dear Boy: Gay Love Letters through the Centuries" (1998) auch als Buchform publizierte. (Um Norton besser einschätzen zu können, sei auf seinen breit rezipierten Aufsatz "A Critique of Social Constructionism and Postmodern Queer Theory – Queer Subcultures" (2002, Update 2008) verwiesen.)
Was bleibt
Selbst diese ausführliche Übersicht von Textstellen zum Thema Homosexualität in Melvilles Werk ist bei weitem nicht vollständig. Zu nennen wäre noch sein Gedicht "Clarel", in dem Melville unterschiedliche Formen sexueller Orientierungen betrachtet. Dazu passen auch Melvilles Hinweise auf den antiken Mythos der Kugelmenschen (wie in dem Gedicht "After the Pleasure Party"), weil dieser ebenfalls einen Erklärungsversuch für sexuelle Orientierungen darstellt. Für John Updike ist der Roman "The Confidence Man" (dt. "Ein sehr vertrauenswürdiger Herr") das "homosexuellste von Melvilles Werken". Auch in den rund 60 Melville-Verfilmungen lässt sich vermutlich noch viel Spannendes entdecken. Was wir heute von Melville wissen, ist mehr als ausreichend, um sich über Homosexualität in Leben und Werk Gedanken zu machen. Es bleibt ärgerlich, dass Melvilles Tagebücher von seiner Witwe bearbeitet herausgegeben wurden.
Thematisch wiederholt sich einiges bei Melville – wie z.B. seine lustige und lustvolle Übertragung des männlichen Bereichs in den weiblichen und seine Anspielungen auf die Antike. Dies lässt seine Bücher aber nicht langweilig erscheinen, sondern verdeutlicht nur die Meinung und klare Linie Melvilles. Natürlich sind seine Texte sexuell "unschuldig" – eine deutlichere und positive Darstellung wäre zu dieser Zeit auch gar nicht möglich gewesen. Viel wichtiger als Deutlichkeit ist das Fehlen von Homophobie. Auch sein Humor ist beachtenswert: Wenn in "Moby Dick" der kultivierte Ishmael und der grunzende und liebenswürdige Macho Queequeg im Bett zusammenfinden, ist zur Typendarstellung in Ralf-König-Comics kein großer Unterscheid zu erkennen.
Das Stottern von Billy Budd ist für mich ein starkes Symbol für das Unaussprechbare. Wie das Kryptonit bei Superman macht das Stottern Billy Budd zwar verwundbar und angreifbar, aber vor allem menschlich. Auch Melville hat zwar viel, aber in seiner Zeit bestimmt nicht alles ausdrücken können, was ihn innerlich bewegte.

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Für mich ist jemand ein schwuler Autor, der schwule/homosexuelle Geschichten erzählt. Und die Geschichten Melvilles spielen alle in einer Männerwelt (Seeleute), aber das bedeutet nicht notwendigerweise, dass es schwule Geschichten sind.