Die Volksrepublik China hat unlängst ihr 70-jähriges Bestehen gefeiert und in den vergangenen Jahrzehnten so tiefgreifende Veränderungen erlebt wie kaum ein anderes Land. Doch im Umgang mit Transgendern hinkt China nach einem aktuellen Bericht von Amnesty International deutlich hinterher. Die Folgen reichen von illegalen Hormonpräparaten bis zu lebensbedrohlichen Selbst-OPs. Und die meisten Betroffenen leiden still.
Die heute 23-jährige Alice erinnert sich, wie sie als 16-Jährige in einem Akt der Verzweiflung im ländlichen Osten Chinas versuchte, ihre Genitalien mit einem Skalpell selbst abzuschneiden – angeleitet von Online-Tutorials. Nach dem ersten schmerzhaften Schnitt hörte sie auf, hielt den Eingriff aber geheim, statt ins Krankenhaus zu gehen.
"Ich war verzweifelt und verängstigt", sagt sie heute. "Ich hatte das Bauchgefühl, dass ich es hinter mich bringen müsste."
Offizielle Zahlen über Transgender gibt es in China nicht. Nur wenige medizinische Einrichtungen bieten Geschlechtsanpassungen oder professionelle Beratung über Hormonbehandlungen an. So sehen sich viele Betroffene gezwungen, auf dem Schwarzmarkt oder im Internet nach einem Ausweg zu suchen.
OP bedarf Zustimmung der Familie
Auch darf in China ohne die Zustimmung der Familie keine Geschlechtsanpassung vorgenommen werden. Doch aus Angst, verstoßen zu werden, trauen sich viele nicht, ein solches Gespräch mit ihren Angehörigen zu führen. "Es war eine große Sorge, hat mich von innen aufgefressen", erinnert sich Alice.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kämpfen Transgender in China mit weit verbreiteter Diskriminierung, eingeschränktem Zugang zu Behandlungen und einem Mangel an Information. Auch die hohen Kosten trieben viele Transgender zu unkontrollierten, riskanten Behandlungen oder gefährlicher Selbstverstümmelung.
"Diskriminierende Politik und Gesetze haben vielen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie keine andere Wahl haben, als mit extrem gefährlichen Selbstoperationen ihr Leben zu riskieren und unsichere Hormonpräparate auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen", erklärt die China-Expertin von Amnesty International, Doriane Lau.
Auch Jiatu spürte, dass etwas mit seinem Körper nicht stimmt. Er begann vor drei Jahren, sich Testosteron zu spritzen, das er illegal aus Thailand geliefert bekam. "Es gibt keinen anderen Weg, das zu beschaffen", sagt er. Erfahren habe er davon durch andere Transmänner in Online-Foren. Laut Amnesty International informieren sich Transgender im Internet oder bei Freunden. Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen sind demnach kaum eine Hilfe.
Transpersonen gelten weiter als "psychisch krank"
Im März akzeptierte China immerhin Empfehlungen des UN-Menschenrechtsrates, die Diskriminierung von Homosexuellen und Transgendern zu verbieten. Doch auch wenn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai offiziell "Geschlechtsidentitätsstörung" als Diagnose aus ihrem weltweiten Handbuch entfernte, gelten in China Transgender in China weiterhin als "psychisch krank".
Alice macht die konservative Haltung der chinesischen Gesellschaft verantwortlich dafür, dass die Regierung ihre Politik bezüglich Homosexuellen und Transgendern nur langsam ändert. "Was die Regierung tun kann, wird beschränkt durch die aktuellen Ansichten der Gesellschaft. Wir müssen warten, für die nächste Generation wird es besser."
Alice ließ sich bei einer Operation 2018 die männlichen Sexualorgane entfernen. Um nicht die Einwilligung der Familie vorweisen zu müssen, ging sie dafür nach Thailand. Die Kosten von umgerechnet 11.400 Euro übernahm ihre Freundin. "Es fühlt sich natürlicher an", sagt Alice. "Mir geht es viel besser im Kopf."