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- 21. September 2005 6 Min.
Der Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Martin Dannecker fordert neue Wege in der Aids-Prävention. Zentrales Thema: die Verantwortung beim Sex
Von Prof. Dr, Martin Dannecker
Den Menschen fällt es zunehmend schwer, ihr sexuelles Handeln an den Erfordernissen der HIV-Prävention auszurichten und bei einem sexuellen Kontakt, der möglicherweise ein Risiko darstellt, ein Kondom zu benutzen. Die von Aids in Schach gehaltene und von der Prävention kanalisierte Sexualität meldet sich zurück und verlässt den vorgegebenen Rahmen. Zahlreiche empirische Studien belegen die Zunahme ungeschützter sexueller Kontakte. Die Erfolge der Prävention in der Vergangenheit sind jedoch nicht nur auf den Erfolg der Verwendung des Kondoms zurück zu führen. Erfolgreich war die Prävention auch deswegen, weil im beträchtlichen Ausmaß auf riskante Sexualität verzichtet wurde.
Die Motive für den Widerstand der Nutzung eines Kondoms sind vielfältig. Zentral ist, dass das Kondom für viele die Wünsche nach Nähe und Verschmelzung stranguliert. Deshalb verschwindet zum Beispiel in der Regel das Kondom in Liebesbeziehungen. Auch aggressive, als lustvoll empfundene Vorstellungen nach einem Eindringen werden dadurch beeinträchtigt. Nicht wenige Männer verfügen zudem über eine fragile erektile Potenz, die durch das Kondom zusätzlich geschwächt wird.
Eine "neue Sorglosigkeit" gibt es nicht
Vorwürfen, es gäbe eine "neue Sorglosigkeit", muss allerdings widersprochen werden. Der zeitweise oder situative Verzicht auf das Kondom wird in den betroffenen Gruppen nach wie vor als Konflikt erlebt. Mit der Zunahme ungeschützter Sexualkontakte wird nicht zugleich das Risiko verneint. Aber Prävention muss stärker als bisher die Kontexte, in denen ungeschützte sexuelle Kontakte geschehen, in ihr Kalkül mit einbeziehen. Aufgegeben werden muss auch die Vorstellung, dass Risiken bei sexuellen Handlungen auszuschließen wären. Diese Idee, die durch den Erfolg der Aids-Prävention entstanden sein mag, hat sich zu einer Zeit entwickelt, als die Bedrohung durch Aids etwas ganz anderes darstellte als heute.
Man kann zugespitzt sagen, dass es Aids heute nicht mehr gibt: Die Unterschiede zwischen gestern und heute sind so grundsätzlich, dass man es mit zwei unterschiedlichen Phänomenen zu tun hat. Diese Umkonstruktion hat auch das Risiko umgeschrieben. Die Antwort auf die Frage, was riskiere ich, wenn ich mich riskiere, ist nun eine völlig andere.
Diese neue Bedeutung haben nicht alle Akteure im Aids-Bereich zur Grundlage ihres Handelns und Sprechens gemacht. Weil Aids inzwischen als chronische Krankheit gilt, prallt die an das alte tödliche Aids anschließende Rhetorik folgenlos an den Adressaten ab. Sie erzeugt Abwehr und ist kontraproduktiv bei dem, worum es in der Prävention jetzt geht: Die Gesundheit zu erhalten. Die neuen Präventionsbotschaften, die sich an Infizierte und Nichtinfizierte richten, haben sich an dieser Prämisse auszurichten.
Aus der bisherigen Praxis ist bekannt: Prävention lässt sich nicht gegen die Lebenserfahrung der Menschen durchsetzen. Deswegen täte die Prävention gut daran, den Betroffenen zuzuhören. Homosexuelle Männer bedienen sich immer mehr einer Strategie, die als "negotiated safety" (ausgehandelte Sicherheit) bezeichnet wird. Also das gemeinsame Abschätzen möglicher Risiken bei sexuellen Kontakten und der damit verbundenen Entscheidung, wie safe der jeweilige Kontakt ausgeübt wird. Bei "negotiated safety" geht es nicht nur darum, das Infektionsrisiko auf ein individuell akzeptables Level zu reduzieren, sondern es geht immer zugleich darum, die mit der Risikoeinschränkung einhergehende Einschränkung der Sexualität auf ein individuell akzeptables Level zu bringen. Das bedeute allerdings, dass dieser Strategie ein mehr oder weniger großes Infektionsrisiko inhärent ist. Doch die Prävention muss sich diesen Strategien anschließen, um die Sexualität safer zu machen. Dazu gehört auch, die Grenzen dieser Strategie aufzuzeigen (bei flüchtigen Kontakten oder in Liebesbeziehungen).
Eine Safe-Sex-Kultur hat sich in Deutschland nicht entwickelt
Zwischen dem ungeschützten Analverkehr beim Barebacking und dem ungeschützten Analverkehr in anderen Situationen, wie z.B. der Partnerschaft, gibt es auch für die Prävention wichtige Differenzen: Das Barebacking ist vor allem durch die hohe psychische Besetzung von im Körper deponiertem Sperma charakterisiert. Es ist nicht nur der bloße Widerstand gegen das Kondom. Es ist die von der Prävention als gefährlichst bezeichnete Körperflüssigkeit, die beim Barebacking triumphierend in Szene gesetzt wird. Barebacking ist eine paradoxe Reaktion auf die von der Prävention formulierte Notwendigkeit, und deshalb ist diesem Phänomen auch so schlecht beizukommen. Es ist allerdings nicht unmöglich. Die Tatsache, dass es bei einer möglichen Infektion nur eine eingeschränkte Möglichkeit der Behandelbarkeit gibt, lässt sich auch hier vermitteln.
Die Aids-Hilfen haben zu Recht in den vergangenen Jahren auf das Modell der strukturellen Prävention gesetzt. Mit diesem Konzept einhergegangen ist aber eine Idealisierung der schwulen Subkultur. Die schwule Subkultur war jedoch in der Vergangenheit nicht gerade ein Hort der Solidarität mit den HIV-Infizierten. Wäre das so gewesen, hätte man nicht Aids-Hilfen gründen müssen, um diese Solidarität zu organisieren. Es ist auch fraglich, ob die Szene dazu beigetragen hat, die individuellen Absichten, Safer Sex anzuwenden, wirklich zu verstärken. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Aids-Krise hat sich so etwas wie eine Safe-Sex-Kultur entwickelt. Gekennzeichnet war diese Phase von weitgehender Abwesenheit von unsafen Kontakten in subkulturellen Räumen. Aber das ist etwas völlig anderes, als eine Safe-Sex-Kultur.
In den vergangenen Jahren haben sich die Bereiche, an denen es schwieriger geworden ist, seine individuellen Safer-Sex-Absichten umzusetzen, ausgeweitet. Manche Events und Orte sind so konstruiert, dass sich an ihnen Infektionsrisiken konstituieren. An solchen Orten hilft aber eine "Prävention zweiten Grades". Damit ist eine Prävention gemeint, die Risiken an den Orten, wo sie gehäuft auftreten, minimieren möchte: "risk reduction in risk taking" Eine solche Prävention rechnet von vorn herein nur mit einem relativen Erfolg. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass man jemandem, der über die Risiken des ungeschützten Analverkehrs aufgeklärt ist, aber auf diesen nicht verzichten will, empfiehlt, wenigstens nicht in den Anus zu ejakulieren. Mit der Thematisierung des Scheiterns soll die Selbstreflexion angeregt werden.
Prävention sollte die Verantwortung beim sexuellen Handeln thematisieren
Die scharfe Trennungslinie, die unsere moralische Intuition zwischen den positiv Getesteten und zu einem bestimmten Zeitpunkt negativ Getesteten bzw. nicht Getesteten im Hinblick auf deren Verantwortung beim sexuellen Handeln zieht, hat keine ausreichende rationale Basis. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Infizierte der moralischen Verantwortung für ihr Handeln enthoben sind. Diese Verantwortung sollte die Prävention deutlicher, als es bislang der Fall gewesen ist, thematisieren. Und so zum Beispiel das Tabu durchbrechen, darüber zu reden, dass Infizierte sich tendenziell eher unsafer verhalten als vermeintlich oder tatsächlich Nichtinfizierte. Bislang stehen eher die Nichtinfizierten im Zentrum der Prävention. Hier würde sich eine deutliche Akzentverschiebung als sinnvoll erweisen.
Prof. Dr. Martin Dannecker ist stellvertretender Direktor am Institut für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt. Der Text ist die (gekürzte) Mitschrift einer Rede Danneckers auf der Fachtagung "zusammenkunft 2005" der Aids-Hilfe NRW am 1. Februar in Köln.
21. September 2005
Links zum Thema:
» Zum Thema: Dannecker-Interview auf etuxx.com














