In diesem Jahr war beim ESC in Tel Aviv eine Kiss-Cam zu sehen, die auch gleichgeschlechtliche Paare zeigte – und wohl einige Homo-Hasser erregte
Erst vor zwei Wochen hatte die Europäische Rundfunkunion bekannt gegeben, dass Ungarn – neben Montenegro – im kommenden Jahr nicht mehr am Eurovision Song Contest teilnehmen wird (queer.de berichtete). Der staatliche ungarische Sender MTVA gab für den Rückzug keinen Grund an. Nun gibt es Medienberichte, wonach das Musikfestival "zu homosexuell", sei, wie ein Informant aus dem Sender dem populären ungarischen Nachrichtenportal index.hu gesagt haben soll. Demnach sei es sehr unwahrscheinlich, dass finanzielle Erwägungen zur Absage geführt hätten.
Die linksliberale britische Tageszeitung "Guardian" zitierte einen Insider, der als Grund für den Rückzug die Nähe des ESC zur queeren Kultur nannte. Innerhalb von MTVA werde positive Berichterstattung zu LGBTI-Rechten nicht gern gesehen, so der Informant.
Regierung weist Berichte empört zurück
Die rechtspopulistische und LGBTI-feindliche Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán stritt die Berichte ebenso ab wie die Leitung von MTVA. Staatssekretär Zoltán Kovács reagierte etwa am Mittwochabend auf Kritik des LGBTI-freundlichen Europaabgeordneten Guy Verhofstad auf Englisch. Er bezichtigte den ehemaligen belgischen Premierminister, Fake News zu verbreiten: "Von was sprechen Sie? Das ist schamlose Sensationsmacherei und Tratsch von Ihren liberalen Presseorganen. Niemand in der ungarischen Regierung hat je gesagt, dass der Eurovision, in Ihren Worten, 'zu gay' sei. Aber lassen Sie sich nicht mit Fakten von Ihrem reißerischen, liberalen Handlungsstrang ablenken."
In der mit absoluter Mehrheit regierenden Regierungspartei Fidesz gilt "liberal" als Schimpfwort; die Partei will Ungarn in eine "illiberale Demokratie" umwandeln, also in eine Staatsform mit Wahlen, die aber viele Elemente einer Demokratie wie Presse- und Versammlungsfreiheit einschränkt und keine oder kaum Gewaltenteilung kennt.
MTVA erklärte in einer Stellungnahme gegenüber dem "Guardian" schlicht: "Anstatt am Eurovision Song Contest 2020 teilzunehmen, werden wir dieses Jahr die wertvollen Produktionen, die von Talenten der ungarischen Popmusik geschaffen worden sind, direkt fördern." Gegenüber weiteren Medien betonte der Sender am Donnerstag, dass man "im Zusammenhang mit keinerlei Produktion, Ereignis oder Veranstaltung auf irgendjemandes sexuelle Orientierung achte". Anfang Jahres hatte der zu der staatlichen Medienholding gehörende Sender M5 allerdings eine Sendung ausgestrahlt, in der "Experten" die "Heilung" Homosexueller besprachen (queer.de berichtete).
Zu den Spekulationen über einen ESC-Rückzug aus Homophobie trug auch eine Aussage des regierungsnahen Journalisten Andras Bencsik bei. Der Song Contest sei eine "homosexuelle Flottendemonstration", sagte er Ende Oktober in einer Talkshow des regierungsnahen Privatsenders HirTV. Ungarn dürfe "aus mentalhygienischen Gründen" daran nicht teilnehmen. "Kreischende Transvestiten und bärtige Frauen" hätten beim ESC "den Geschmack des Publikums verwüstet", sagte Bencsik weiter. "Vergessen wir doch dieses mit Conchita Wursts belastete, geschmacklose, forcierte, propagandistische Festival des Andersseins."
Ungarn setzte zuletzt 2010 aus
Ungarn nahm erstmals 1993 am ESC teil. Das Land hatte bereits mehrfach auf eine Teilnahme verzichtet, zuletzt 2010. Damals gab das Land finanzielle Gründe für den Ausstieg an. Zwischen 2011 und 2019 nahm Ungarn jedoch jedes Jahr teil. Im vergangenen Jahr konnte sich der Beitrag des Sängers Joci Pápai nicht für das Finale qualifizieren.
Immer wieder hatte es in den letzten Jahren Spekulationen gegeben, dass Länder im Osten Europas aus Homophobie auf eine Teilnahme verzichten könnten. Vergangenes Jahr nannte zudem der Chef des türkischen Staatssenders TRT Auftritte wie den von Conchita Wurst als Grund, warum das Land seit 2013 nicht mehr am Songfestival teilnimmt (queer.de berichtete).
Der Eurovision Song Contest 2020 wird nach dem Sieg der Niederlande vom 12. bis 16. Mai in Rotterdam ausgetragen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto "Open Up", zu Deutsch: "Öffne dich" (queer.de berichtete). (dk)
Aber wars jemals anders?