Statistisch gibt es weit mehr LGBTI-Übergriffe als noch vor einem Jahr – unklar ist, ob dies auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft oder eine Verrohung der Gesellschaft zurückzuführen ist
Im Rahmen der Verleihung des Respektpreises durch das Bündnis gegen Homophobie im Scandic-Hotel am Potstamer Platz hat die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik am Montag die aktuelle Kriminalitätsstatistik homophober und transphober Übergriffe im Jahr 2019 vorgestellt. Im Bereich der Hasskriminalität gegen die sexuelle Orientierung beziehungsweise gegen die geschlechtliche Identität wurden demnach für Berlin in den ersten drei Quartalen 2019 insgesamt 261 Fälle (2018: 184) polizeilich erfasst. Das entspricht einem Anstieg von 42 Prozent.
Allerdings wurden letztes Jahr viele Übergriffe erst später berücksichtigt und nachgetragen. Als die Polizei vergangenes Jahr ebenfalls Anfang November ihre Hasskriminalitätsstatistik vorstellte, hatte sie von nur 105 Fällen berichtet (queer.de berichtete).
Slowik erklärte, sie habe die Zahlen "mit Erschütterung" zur Kenntnis genommen. Weiter sagte die erste weibliche Berliner Polizeipräsidentin der Bundeshauptstadt, dass es bei LGBTI-feindlichen Taten ein sehr großes Dunkelfeld gebe. Viele Taten würden nie angezeigt oder bekannt werden. Gründe für den Anstieg seien eine "zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft". Außerdem seien queere Opfer von Straftaten heutzutage viel eher bereit, zur Polizei zu gehen.
Unter den Straftaten waren 63 Körperverletzungen sowie einige wenige Raubtaten und eine Erpressung. Fünf wurden als sogenannte Propagandadelikte eingestuft. 188 ordnete die Polizei dem Bereich "sonstige Delikte" zu. Dazu zählten 113 Beleidigungen, 46 Sachbeschädigungen, zwölf Nötigungen oder Bedrohungen und elf Volksverhetzungen.
Die große Mehrheit der Opfer bildeten schwule Männer, es folgten Transsexuelle und weit seltener lesbische Frauen. Die Tatorte lagen demnach vorwiegend in den Bezirken Mitte, Tempelhof-Schöneberg, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln. Die Aufklärungsquote der angezeigten Taten liegt im Moment bei 38 Prozent – das sind neun Prozentpunkte weniger als im selben Zeitraum des Vorjahrs. Darüber hinaus stellte Generalstaatsanwältin Margarete Koppers die Arbeit der Ansprechpersonen für LSBTI bei der Staatsanwaltschaft Berlin vor.
Türkischer Bund fordert mehr Selbstkritik
Safter Cinar, der Sprecher des mit dem Respektpreis ausgezeichneten Türkischen Bundes, sprach auf der Veranstaltung auch über LGBTI-feindliche Einstellungen unter Türken und anderen Migranten: "Man muss zugeben, dass in unserer Community noch mehr Aufklärungsbedarf besteht als in der Mehrheitsgesellschaft." Es sei eine Herausforderung, hier etwas zu verändern, weil sich viele Türken von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen fühlten und daher die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht immer ausgeprägt sei. Der Türkische Bund wolle dieser Entwicklung aber entschieden entgegentreten.
LSVD-Landesgeschäftsführer Jörg Steinert verwies angesichts der steigenden Zahlen darauf, dass viel Homo- und Transsexuellenfeindlichkeit in sozialen Netzwerken geschürt würde und der Gesetzgeber in diesem Bereich etwas unternehmen sollte: "Auch die sozialen Medien sind kein rechtsfreier Raum. Strafbare Handlungen sollten niemals toleriert und immer zur Anzeige gebracht werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen benötigen zudem eine nachhaltige staatliche Förderung in den Bereichen Opferschutz und Prävention", so Steinert.
Bereits im Mai hatte das Antigewaltprojekt Maneo einen Anstieg der LGBTI-feindlichen Straftaten in Berlin um 18 Prozent gemessen (queer.de berichtete).
In der Bundeshauptstadt wird das Thema LGBTI-feindliche Gewalt wichtiger als anderswo genommen: Die Berliner Polizei macht seit Jahren mögliche Hassverbrechen aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität gezielt in Polizeimeldungen publik und meldet diese daher regelmäßig und vergleichsweise häufig der Öffentlichkeit. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt haben eigene Ansprechpartner für LGBTI. In Bundesstatistiken machen Berliner Fälle die relative Mehrheit aus, während aus anderen – auch nicht LGBTI-freundlicheren – Regionen offiziell kaum Übergriffe gemeldet werden (queer.de berichtete). (dk)