Das Jahr 2019 hat eindrucksvoll gezeigt, dass internationale Solidarität das Kennzeichen der queeren Bewegung ist und sein muss. Der WorldPride in New York City war neben seiner historischen Rückbesinnung auf die Stonewall-Riots auch ein klares Statement gegen den ausgrenzenden Nationalismus von US-Präsident Donald Trump. Der EuroPride in Wien rückte den inhaltlichen Fokus ebenfalls deutlich über den Tellerrand der Alpenrepublik hinaus. Man muss sich nur die Abschlusskundgebung vor dem Wiener Rathaus mit ihren internationalen Gästen in Erinnerung rufen. Auch der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen kam dort in seiner berührenden Rede ohne patriotisches Pathos aus, das dem Auftritt eines Staatsoberhauptes hätte innewohnen können.
Dass die European Pride Organizers Association (EPOA) auf ihrer letzten Generalversammlung den EuroPride 2022 nach Belgrad vergab und eben nicht nach Barcelona oder in eine vergleichbare Stadt, ist ebenfalls der politischen Notwendigkeit geschuldet und ein Bekenntnis zu europaweiter Solidarität, derer auch andere Prides weltweit bedürfen; man muss nur nach Afrika schauen, um die Größe der Aufgabe zu ermessen. Die Unterstützung beispielsweise polnischer CSDs in diesem Jahr hat gezeigt, dass der Gedanke mit Leben gefüllt wird. Er ist größer als das Regenbogenkirchturmdenken, dass hierzulande aktuell in die Debatte dringt und das in Markus Kowalskis Aufforderung gipfelt, man möge die deutsche Nationalhymne gemeinsam mit den Straight Allies auf dem CSD singen.
In Verse gegossene, schwülstige Deutschtümelei
Einigkeit, Recht, Freiheit: Diese Begriffe stehen nicht für sich. Der KLuST e.V. selbst stellt den Bezug zur Nationalhymne in den Mittelpunkt seiner Begründung des Kölner CSD-Mottos 2020. Wer sich dieser zentralen Begriffe der Nationalhymne bedient, kann sie nicht aus ihrem Kontext lösen. Das wäre geschichtsvergessen. Das Lied der Deutschen wurde von einem Judenhasser geschrieben, dessen Forderung nach bürgerlichen Freiheitsrechten in krassem Widerspruch zu seinem Antisemitismus und seiner Fremdenfeindlichkeit steht, insbesondere gegenüber Frankreich. Dies mag zeittypisch gewesen sein, besser wird es dadurch nicht.
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben kann man nicht vorwerfen, dass die Nationalsozialisten sein Lied für ihre propagandistischen Zwecke nutzten. Dass diese in Verse gegossene, schwülstige Deutschtümelei hierzu dienlich war, aber schon. Zwei Bundeskanzler hatten es in der Hand, Deutschland von der Last dieser Hymne zu befreien und etwas Neues zu wagen, das dem jeweiligen historischen Augenblick angemessen gewesen wäre. Daran hatten die Konservativen kein Interesse. Konrad Adenauer drückte das Deutschlandlied durch, Helmut Kohl hielt in der Stunde der Wiedervereinigung stur daran fest. Bedenken und Alternativen, die es durchaus gab, wurden ignoriert. Bis heute ist es nicht verboten, alle drei Strophen des Deutschlandliedes zu singen.
Bestandteil unserer Verfassung ist die Nationalhymne nicht. Doch es ist allein die Verfassung, die die Rechte auch queerer Menschen schützen kann, nicht die Hymne. Es ist das Grundgesetz, das die Lehren aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zieht, das die Werte und die unverrückbaren Grundrechte formuliert, die wir heute genießen. Wenn sich ein CSD-Motto symbolisch-staatstragend auf etwas beziehen sollte, dann auf die Verfassung. Wer die Deutungshoheit über unsere Grundwerte nicht den Rechten überlassen will, sollte Grundgesetz-Artikel 1ff zitieren, nicht Hoffmann von Fallersleben. Es ist die freiheitliche Grundordnung, es ist unsere Demokratie, die von Rechtsextremisten und Nazis gehasst und bekämpft wird, nicht die Hymne. Auch wenn man über Wunsch und Wirklichkeit dieser Freiheit an vielen Stellen diskutieren kann.
Nationaler Pathos macht LSBTIQ unsichtbarer
Das Grundgesetz kennt bis heute kein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität. "Wir" kommen in Artikel 3 einfach nicht vor. Die queere Bewegung als Teil der Identität der Bundesrepublik zu bezeichnen, wie Markus Kowalski es tut, beschreibt eine Idealvorstellung, nicht die politische oder gesellschaftliche Realität. Der schwule weiße Cis-Mann mag in der Mitte der Gesellschaft angekommen sein. Ein schwuler Asylbewerber gehört schon nicht mehr dazu. Von vielen anderen ganz zu schweigen. Nationaler Pathos macht Lesben, Trans* oder intergeschlechtliche Menschen nicht sichtbarer, ganz im Gegenteil.
"Dieses Land ist unser Land! Unser Grundgesetz, unsere Nationalhymne und unsere Einheit!", heißt es in der Begründung des Kölner Mottos. Damit wird, möglicherweise aus Unbedachtheit, der inklusive Geist, der die Pride-Bewegung trägt oder tragen sollte, zu einem Geist der Ausgrenzung: Wir – und die Anderen. In einer Einwanderungsgesellschaft wie der deutschen, in einer Community zumal, die sich an vielen Stellen mit hohem persönlichen Engagement zahlreicher queerer Geflüchteter angenommen hat, klingt das alles andere als einladend. Schlimmer noch: Eine solche Passage würde in einem rechten Pamphlet nicht einmal auffallen.
Die vermeintliche Toleranz der Mehrheitsgesellschaft
Die queere Bewegung ist bis heute darauf angewiesen, sich widerständig zu zeigen, um Fortschritte zu erreichen. Emanzipation entsteht durch Reibung, nicht durch Anpassung. Die endgültige Abschaffung des Pararaphen 175 war 1994 der notwendig gewordenen Rechtsangleichung im Zuge der Wiedervereinigung geschuldet, nicht dem Willen der Regierung Kohl. Die Entschädigung der Opfer musste langwierig erkämpft werden. Die Ehe für alle verdanken wir einer Laune der Kanzlerin; für die volle rechtliche Gleichstellung lesbischer Elternpaare reicht es bis heute nicht. Die Rechte von trans und intergeschlechtlichen Menschen sind ein Nischenthema aufrechter Aktivist*innen, kein politischer oder gesellschaftlicher Mainstream. Man muss nur lautstark genderneutrale Toiletten fordern und weiß, wo unser Land heute steht.
"Wir" sind Konsens, so lange wir bunte Bilder produzieren und die Folie bieten, auf der sich die Mehrheitsgesellschaft ihrer vermeintlichen Toleranz versichern kann. Sobald der Rahmen gesellschaftlicher Konvention überschritten wird, ist Schluss mit lustig. Einigkeit, Recht, Freiheit: Was soll ein virtueller Kampf um die Deutungshoheit von Begriffen, die für LSBTIQ auch in Deutschland nur mit Einschränkung gelten?
Gerade Politiker*innen sind gut darin, sich bei den CSD-Märschen an die Spitze zu stellen und deren öffentliche Aufmerksamkeit für sich zu nutzen. Ich unterstelle einigen, es dabei ehrlich zu meinen, kenne aber genug, die ihr Regenbogenfähnchen nur einen Tag lang in den Wind hängen, und sich für den Rest des Jahres in die Büsche schlagen, weil sie sich für die inhaltlichen Anliegen queerer Menschen in Wahrheit nicht interessieren. Lassen wir sie nicht so einfach davonkommen, indem wir auch noch ihr Lied singen.
Wer ist "Ihr"? Die Deutschen? Die Europäer?
Gehen wir einmal weiter und sprechen nicht von der deutschen, sondern von der Europa-Hymne.
Ist das die Hymne irgendwelcher Politiker, oder unsere, die unsere Ideale der Zusammenarbeit, des Friedens und des Humanismus verkörpert?