Das Outing kam zu einer Zeit, die nicht gerade von sexueller Toleranz geprägt war. So manchen Angehörigen des deutschen Bildungsbürgertums dürften die Gesichtszüge entglitten sein, als sie davon hörten. Ausgerechnet Beethoven soll ihm nahestehende Männer erotisch begehrt haben? Das roch nicht nur nach einem Skandal, das war ein schamloser Angriff auf eine der Galionsfiguren des nationalen Kulturguts! Nicht zuletzt, weil Homosexualität damals noch geächtet war und strafrechtlich verfolgt wurde.
Dabei hatte das Ehepaar Editha und Richard Sterba mit seiner 1964 in Deutschland erschienenen Beethoven-Monografie keineswegs im Sinn, den Jahrtausendkomponisten zu denunzieren. Die beiden österreichisch-amerikanischen Psychoanalytiker beabsichtigten lediglich, Unstimmigkeiten in dessen Biografie aufzuklären und sein Image als Frauenheld zu hinterfragen.
Mehrere Generationen nach Beethovens Tod war es freilich nicht mehr möglich, stichfeste Beweise für etwas zu liefern, das derart mit Tabus belegt war. Das galt besonders für die Methoden der ohnehin umstrittenen Psychoanalyse. Darum blieben die Annahmen nicht mehr als ein spekulatives Konstrukt – allerdings eines, das es nach wie vor in sich hat.
Mehr als brüderliche Gefühle für Karl
Plausibel sind die Thesen zu Beethovens zwischenmenschlichen Beziehungen nämlich allemal, besonders jene zu seinen männlichen Familienangehörigen. So schreiben die Sterbas den Gefühlen Ludwigs für seinen Bruder Karl eine "unbewußte homosexuelle Komponente" zu, die man nicht blauäugig als brüderlich bezeichnen dürfe. Dafür sei seine Zuneigung nämlich "zu nahe, zu blind, zu nachsichtig, zu emotionell im allgemeinen" gewesen. Ähnlich habe sich nach dem Zerwürfnis mit Karl auch das Verhältnis zu seinem Bruder Johann entwickelt. Als dieser mit der Haushälterin Therese anbandelte, wurde Ludwig von einer derart obsessiven Eifersucht getrieben, wie sie gewöhnlich nur in einem Liebesdrama vorkommt. Vergeblich versuchte er die Liaison zu unterbinden.
Am stärksten bekam seine Raserei die Schwägerin Johanna zu spüren. Nachdem Karl an einer Tuberkulose verstorben war, warf Ludwig ihr vor, sie habe seinen Bruder zugrunde gerichtet. Am Ende eines zermürbenden Prozesses von fünfjähriger Dauer hatte er erreicht, dass ihr die Vormundschaft für seinen inzwischen 14-jährigen Neffen Karl entzogen wurde und er diesen unter seine Fittiche nehmen konnte.
Das stellte sich als verhängnisvoll heraus: Ludwigs übergriffige Erziehung ließ dem Adoptivsohn keinen Raum zur Selbstentfaltung. In einem dramatischen Verzweiflungsakt versuchte Karl, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, um der erzwungenen Symbiose zu entrinnen. Doch es wurde nicht mehr als ein Streifschuss. Kaum dass er sich davon erholt hatte, wagte der inzwischen 19-Jährige den Bruch mit seinem Onkel. Damit stürzte für Ludwig eine Lebenslüge zusammen, in die er sich aus Einsamkeit geflüchtet hatte – nicht zuletzt aufgrund seiner widersprüchlichen Gefühle gegenüber Frauen.
Ein Leben der romantischen Illusionen
Ludwig van Beethoven auf einem idealisierenden Gemälde von Joseph Karl Stieler, ca. 1820 (Bild: PD-Art photographs / wikipedia)
Beethoven galt als Herzensbrecher. Zwar pflegte er Affären mit unzähligen Damen der Gesellschaft, die dem bereits zu Lebzeiten gefeierten Künstler zu Füßen lagen, doch kam er über das Stadium romantischer Illusionen und Sehnsüchte nie hinaus. Die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung schien Beethoven geradewegs heraufzubeschwören. Seine Auserwählten waren entweder verheiratet oder aufgrund ihres Standes unerreichbar.
Kam ihm dennoch eine Frau zu nahe – wie im Falle seiner Klavierschülerin Eleonore von Breuning, die ihn aufs Heftigste umwarb -, geriet Beethoven in Panik und tat alles, um die Leidenschaft auf ein geistig-seelisches Niveau zurechtzustutzen. Dabei wurde Eleonore die Ehre zuteil, als Heldin seiner einzigen Oper "Fidelio" verklärt zu werden. Das Textbuch sieht für ihre Rolle allerdings vor, dass sie sich durch entsprechende Verkleidung in ein Mannsbild verwandelt.
Der schwerhörige Workaholic
Ausschlaggebend für Beethovens Weg in die soziale Isolation dürfte seine Schwerhörigkeit gewesen sein, die sich bereits im Alter von 27 Jahren bemerkbar machte. Sie verschlechterte sich ab diesem Zeitpunkt stetig. Beethovens ausgeprägtes Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen sowie seine berüchtigte Neigung zu Wutausbrüchen lassen sich als mögliche Begleitsymptome der Krankheit erklären. Mit 48 war er vollkommen taub. Aus Verunsicherung hatte er längst größere und kleinere Gesellschaften gemieden. Er stürzte sich in die Arbeit und suchte Trost in seiner Berufung als grandioser Komponist.
Die Inspiration zu seiner Musik schöpfte er ohnehin nicht aus dem Alltäglichen und dem Zwischenmenschlichen. Vielmehr waren es heroische Erzählungen, die Beethoven seit jeher faszinierten – wie jene der Französischen Revolution. Von deren Idealen hatte er sich schon in jungen Jahren mitreißen lassen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – von nun an sollte dieser Grundsatz im Übrigen auch für jene Franzosen gelten, die man in der Vergangenheit aufgrund von homosexuellen Handlungen hingerichtet hatte. 1791 wurde der entsprechende Paragraph ersatzlos gestrichen, und es wäre ein Wunder, wenn Beethoven in seiner Revolutionsbegeisterung nie davon gehört hätte.
Doch allein die Vorstellung vom Lebensentwurf einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lag nach wie vor in weiter Ferne, zumal in Preußen und Österreich die Todesstrafe lediglich durch Verbannung, Prügelstrafe und Zuchthaus ersetzt worden war. Für Beethoven schien das zumindest kein Thema zu sein – sein Interesse an der Revolution galt eher dem Heldenhaften des Einzelnen und dem Pathos der Massen, die sich gegen ihre Tyrannen zur Wehr setzten. Er war ein glühender Anhänger Napoleons, der bei der Entstehung der 3. Sinfonie ("Eroica", 1802/03) Pate gestanden hatte – bevor Beethoven sich von dessen Selbstkrönung zum Kaiser maßlos enttäuscht zeigte.
Ein Wegbereiter der Romantik
In seinen letzten Lebensjahren schuf Beethoven trotz seiner völligen Taubheit noch großartige Meisterwerke. Dazu zählen die "Missa Solemnis" (1822/23) und die 9. Sinfonie (1824) mit dem von einem Chor gesungenen Finalsatz über Schillers "Ode an die Freude", die seinen weltweiten Ruf als Jahrtausendkomponist mitbegründeten.
Beethoven ist neben Haydn und Mozart nicht nur ein Hauptvertreter der Wiener Klassik, sondern auch ein Wegbereiter der Romantik. Neben Mozart kein wurde anderer Komponist von der Popkultur des 20. Jh. so vereinnahmt wie Beethoven. Die Groove-Version seiner 5. Sinfonie ("Schicksalssinfonie", 1808) für den Film "Saturday Night Fever" mit John Travolta trug 1976 entscheidend zum weltweiten Disco-Kult bei. Andy Warhol peppte 1987 das berühmte Beethoven-Porträt von Karl Stieler mit bunten Farben auf und legte die Noten der Mondscheinsonate darüber. Und in Stanley Kubricks Film "A Clockwork Orange" spielt die 9. Sinfonie eine zentrale Rolle.
Der Text entstammt dem schwulen Opernführer "Casta Diva" aus dem Querverlag. Darin werden mehr als 90 Komponisten aus 400 Jahren Operngeschichte porträtiert, u.a. die schwulen Komponisten Modest Mussorgski, Pjotr Tschaikowski und Francis Poulenc. Vorgestellt werden aber auch Komponisten wie Mozart, der sich als 14-Jähriger zunächst in einen gleichaltrigen Violinisten verliebte, oder Alban Berg, dessen offen lesbische Schwester Smaragda im Wien des Fin de Siècle versucht hatte, ihm seine Frau auszuspannen. Ausführlich werden auch über 150 Opern behandelt, darunter Beethovens einzige Oper "Fidelio".