Zweieinhalb Minuten. Länger dauert es nicht, bis der erste steife Schwanz auf der Leinwand auftaucht. Jonathan Agassi und ein Kollege quatschen vor einem Auftritt in einem Berliner Sexclub. "Bist du noch in Barcelona?", "Meine Schwester ist an Krebs gestorben." Dann geht's auf die Bühne, die Show beginnt.
Dann, etwas später, ist Yonatan, so die hebräische Version seines Namens, bei seiner Familie in Tel Aviv. Das Verhältnis zu seiner Mutter ist hervorragend, "sie ist immer an meiner Seite", erzählt der 29-Jährige. Er hat ein Paket mit Filmen bekommen. Seinen Filmen. Er packt aus, und plötzlich liegen "Urine Fist Fest", "Piss On Me", "Hard & Wet" auf dem Küchentisch. Yonatans Mutter backt währenddessen.
Sie schauen seinen neuesten Film. "Das bist du!", freut sie sich, als würde sie ihren Sohn im Lokalfernsehen sehen. Sie schauen gebannt auf den Laptop. "Jetzt gehen wir hoch und ficken. Das ist nichts für dich", sagt er. "Bis hierher war es echt gut", antwortet die stolze Mama.
"Atmest du noch?"
Poster zum Film: "Jonathan Agassi Saved My Life" läuft im Januar 2020 in der Queerfilmnacht
Es ist eine faszinierende Mutter-Sohn-Beziehung, faszinierend in all ihren Facetten. Es ist süß, wie Jonathan Agassi sie ständig anruft, wenn er in Berlin ist. Egal, ob er sich für den Hustla Ball fertig macht oder in Griechenland dreht: Er ruft sie an – oder nimmt sie gleich mit an den griechischen Strand. Aber es ist auch skurril befremdlich, wie er mit ihr skypt, während er sich eine Pfeife mit Crystal Meth anzündet.
Überhaupt, die Drogen. Er macht sich für eine Show fertig, zeigt seiner Mutter das neueste Outfit über Videochat, ein schwarz-gelber Leder-Harness, passende Lederhandschuhe, gelbes Spitzenhöschen. "Du siehst so attraktiv aus. Du bist mein Star! Aber ziehst du dir etwas Warmes an?" Er legt auf, ruft ein Taxi, und tröpfelt sich noch ein paar Tropfen Liquid Ecstasy in seine Cola-light-Plastikflasche, als wäre es Zucker für den Tee. Eine Spritze oder Pfeife Tina hier, eine Line Koks da. In "Jonathan Agassi Saved My Life" sind fast so viele Drogen wie Schwänze auf der Leinwand. Aber nur fast.
Die sind es schließlich auch, die den Darsteller zugrunde richten. Der israelische Regisseur Tomer Heymann muss mehrfach eingreifen, wenn Jonathan einfach einschläft oder kaum mehr reagiert. "Atmest du noch?", frag er einmal.
Eine erschreckende, ungeschönt-brutale Geschichte
Dabei, sagt Jonathan Agassi, "ist die Karriere ein Geschenk. Das Beste, was mir je passiert ist." Ja, die Pornoindustrie hat ihn rausgeholt aus dem konservativen Umfeld, wo der feminine Junge gemobbt wurde. Aber sie hat ihn in eine Welt voller Drogen gebracht, ein Umfeld, das ihn anfleht, Bareback-Pornos zu drehen. Von der einen Hölle in die andere.
Tomer Heymann kommt dem damals 29-Jährigen erstaunlich nahe. Jonathan redet, genau wie seine Mutter, komplett offen. Die Kamera ist auch bei einer Aussprache zwischen Vater und Sohn dabei, Jonathan wird völlig in die Trennung der Eltern reingezogen.
Es ist ein authentisches Bild, das der Dokumentarfilm präsentiert, auch wenn es eine fast zu perfekte, klischeehafte Geschichte von Aufstieg und Fall ist, die auch in seiner zeitlichen Abfolge teilweise verwirrend ist. Eine erschreckende, ungeschönt-brutale Geschichte. So selbstzerstörerisch, wie Jonathan mit sich umgeht, löst der Film den Reflex aus zu googlen, ob er überhaupt noch am Leben ist. (Ja, ist er.)
Wer "Jonathan Agassi Saved My Life" gesehen hat, wird Pornos mit anderen Augen schauen.
Infos zum Film
Jonathan Agassi Saved My Life. Dokumentarfilm. Israel, Deutschland 2019. Regie: Tomer Heymann. Laufzeit: 106 Minuten. Sprache: Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Im Januar 2020 in der Queerfilmnacht
Und dann wäre da noch immer folgende Möglichkeit: Ab in die Entzugsklinik und dann einen neuen Job suchen. Warum wird immer so getan, als wäre Selbstzerstörung der einzige Weg?