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Interview
Warum die Morgenlatte ein gutes Zeichen ist
Schlafforscher Albrecht Vorster über sein Buch "Warum wir schlafen", nächtliche Erektionen, feuchte Träume, Pyjama versus Nacktschlafen und die Frage, ob Heterosexuelle anders träumen als Homosexuelle.
1. Januar 2020, 17:16h 9 Min. Von
Er will mit Schnecken dem Schlaf auf die Spur kommen. Derzeit promoviert Albrecht Vorster, 34, am Institut für medizinische Psychologie der Uni Tübingen über Gedächtnisbildung im Schlaf der Meeresschnecke Aplysia. Den Elfenbeinturm der Forschung hat er zeitweilig verlassen und präsentiert nun mit seinem gut 400 Seiten starken Buch "Warum wir schlafen (Amazon-Affiliate-Link )" ein umfangreiches Kompendium zum Thema Schlaf. Kein üblicher Ratgeber zum Einschlafen, wissenschaftlich und unterhaltsam gleichermaßen. Es geht es um die biologischen Grundlagen, um Träume, um Schlafwandler. Aber auch im die Morgenlatte und Sexsomnie. Eine Reise in den unbekannten Teil des Lebens, womit der Forscher bei etlichen Science-Slams sein Publikum bereits begeisterte. Wir haben mit Vorster über sein Buch gesprochen.

Albrecht Vorster (Bild: Random House / Kay Blaschke)
Herr Vorster, Sie schreiben im Buch von einem Traumerlebnis, wo Sie Ihren Partner beim Schlaf heftig gestört haben. Ist solche Offenheit mittlerweile selbstverständlich im Wissenschaftsbetrieb?
Bei uns im Institut ja – und auch in meiner Generation. Ich wünsche mir, dass noch häufiger in einem Kontext, in dem die geschlechtliche Orientierung nicht im Vordergrund steht, gleichgeschlechtliche Lebensformen en passant erwähnt werden. Gerade, weil es einfach normal ist. Genauso wie Linkshändigkeit auch nicht der Rede wert ist.
Im Buch widmen Sie sich auch kurz der Morgenlatte – was hat es damit auf sich?
Während des REM-Schlafes – dem Schlafstadium mit den meisten Träumen – kommt es auf natürliche Weise zu Erektionen. Sie dienen dazu die Sauerstoffversorgung des Penisgewebe optimal zu stärken. Ein nächtliches Jogging für das beste Stück sozusagen. Passend dazu steigen während der Zeit Puls und Atmung an. Es handelt sich aber mitnichten um ein rein männliches Phänomen, die geschwollene Klitoris der Frauen ist nur ungleich besser zu verstecken. Die Messung der Zahl der Erektionen während der Nacht mittels einer speziellen Ringelektrode ist ein hilfreicher Test bei der Ursachenerkundung einer Impotenz: Treten Erektionen nachts weiterhin auf, handelt es sich nicht um ein rein körperliches Problem.
Wie steht es um nächtliche Erektionen? Deren Ursache sind eher banal als durch die berühmten feuchten Träume provoziert?
Mit erotischen Träumen oder gar verdrängten Sehnsüchten haben die Erektionen während des REM-Schlafes nichts zu tun. Da wir in den Morgenstunden wesentlich mehr Zeit im REM-Schlaf verbringen als zu Beginn der Nacht, ist die Morgenlatte nur ein Zeugnis von dem Schlafstadium, das noch wenige Minuten zuvor Besitz von unserem Körper ergriffen hatte. Sie sagen uns vielmehr: Mit dir ist alles voll in Ordnung!
Träumen Frauen anders als Männer? Und träumen heterosexuelle anders als homosexuelle Menschen?
Da Träume immer das widerspiegeln, was jeder von uns individuell tagtäglich erlebt und ihn bewegt, sind sie von Person zu Person je nach Vorlieben und Neigungen unterschiedlich. Das nach Geschlechtlichkeit und sexueller Vorliebe aufzutrennen, wäre platt, denn Neigungen und Vorlieben überlappen sich. Bekannt ist, dass Frauen und Männer anders darauf reagieren, ob ein Partner neben ihnen liegt oder nicht, ganz gleich, welchem Geschlecht dieser angehört. Männer schlafen mit Partner tiefer und erholsamer. Frauen geben zwar an, auch gerne neben ihrem Partner zu schlafen, schlafen aber nach objektiven Kriterien schlechter. Möglicherweise aufgrund eines Urzeitinstinks, der noch in unseren Genen schlummert und sagt: Auch nachts hat sich die Frau um die Familie zu kümmern. So tendieren Frauen neben Partnern dazu, auch nachts Wache zu schieben und weniger tief zu schlafen und häufiger aufzuwachen.
Laut einer US-Studie im Auftrag eines Baumwollproduzenten sollen Paare, die nackt schlafen, glücklicher sein als jene, die Nachthemd oder Pyjama tragen. Können Sie das bestätigen?
Die Kleidung spielt keine Rolle für den Schlaf. Wenn man glücklich ist, nackt zu schlafen, kann man das tun. Bis vor 200 Jahren war das gang und gäbe bei den Menschen. Nachtwäsche hat den hygienischen Vorteil, dass sie die Feuchtigkeit aufnimmt. Wir schwitzen jede Nacht rund 1,5 Liter Flüssigkeit aus, und das Waschen eines Pyjamas ist praktischer als das häufige Wechseln von Bettlaken.

Das Buch "Warum wir schlafen" ist im Heyne-Verlag erschienen
Wird man mit diesem Beruf zum Small-Talk-König auf jeder Party?
Schlaf ist ein ganz unverfängliches Thema und damit geradezu ideal für Small-Talk. Jeder kann etwas beitragen, alle sind davon täglich persönlich betroffen. Wenn Menschen über ihre Träume sprechen, sind das meist recht interessante Geschichten. Auch im Alltag ist das ständig Thema: "Hast du gut geschlafen?" ist bei vielen die erste Frage des Tages.
Oft lautet die Antwort "Schlecht geschlafen". Ist das bereits bedenklich?
Es besteht ein großer Unterschied zwischen bisweilen schlecht zu schlafen und einer veritablen Schlafstörung. Gelegentlich schlecht zu schlafen, auch über zwei Wochen, ist vollkommen normal und nicht behandlungsbedürftig. Behandlungsbedürftig sind Schlafstörungen erst, wenn Menschen länger als einen Monat häufiger als dreimal in der Woche Schlafprobleme haben. Diese Menschen fühlen sich gerädert, das ist extrem zermürbend. Nicht umsonst zählt Schlafentzug zu den gängigsten Foltermethoden.
Was genau passiert dabei?
Wer nicht genügend Schlaf bekommt, wird unglaublich dünnhäutig und emotional unausgeglichen. Der ganze Körperstoffwechsel gerät aus dem Gleichgewicht. Nach einigen Tagen dreht der Körper richtig am Rad.
Albert Einstein soll 14 Stunden pro Tag geschlafen haben. Napoleon brauchte angeblich vier Stunden Schlaf. Was raten Sie?
Wie viel Schlaf der Mensch braucht, ist eine ganz müßige Frage. Es gibt welche, die sehr viel Schlaf benötigen, andere kommen mit wenig aus. 90 Prozent der Menschen brauchen zwischen sechs und neun Stunden Schlaf. Eine generelle Empfehlung lässt sich daraus nicht ableiten, weil das so individuell ausfällt wie bei einem T-Shirt. Den meisten passt die Größe M oder L, einige wenige brauchen S oder XXL.
Schlafstörungen gelten als Volkskrankheit. Warum ist das so? War früher alles besser?
Schlaf gehört zu den wenigen Dingen, die wir nicht willentlich steuern können. Schlafen kann man nicht wollen, im Gegenteil: Er überkommt uns. Wenn wir den ganzen Tag ständig alles kontrollieren, haben wir nachts das Problem, loszulassen und zu entspannen. Generell ist es allerdings nicht so, dass sich unser Schlafverhalten in den letzten hundert Jahren so dramatisch verändert hat, wie es häufig dargestellt wird. Bei einer Studie über drei Naturvölker wurde festgestellt, dass alle weniger und zudem nach objektiven Kriterien sogar schlechter schliefen als der durchschnittliche Deutsche. Dennoch existierte in deren Sprachen gar kein Ausdruck für Schlafstörung, nächtliches Aufwachen gilt als ganz normal und das ist es auch! Unser Schlafstruktur ist sogar darauf angelegt, dass wir mehrmals nachts aufwachen. Wir machen uns nur zu viele Gedanken darüber!
Gleichwohl hat der Mangel an Schlaf gesundheitliche Folgen.
Problematisch wird es, wenn der Schlaf über längere Zeit massiv verkürzt wird. Wer acht Stunden Schlaf benötigt, aber nur fünf Stunden schläft, bekommt die Folgen zu spüren. Schichtarbeit ist nachweislich extrem gesundheitsschädlich. Übergewicht, Diabetes Typ 2 oder Alzheimer können die Folge sein. 40 Jahre Schichtarbeit kosten sechs bis acht Lebensjahre.
Was sind die gängigsten Mythen über den Schlaf? Vor Mitternacht ist es am besten?
Es ist richtig, dass in den ersten drei Stunden der wichtigste Schlaf stattfindet. Da haben wir den meisten Tiefschlaf, der für die Erholungsfunktion des Körpers zum Beispiel durch die Ausschüttung von Wachstumshormone, aber auch für das Immunsystems entscheidend ist. Ob diese ersten drei Stunden vor oder nach Mitternacht stattfinden, ist allerdings völlig gleichgültig.
Mit vollem Bauch träumt man schlecht?
Für den Körper ist es sicher nicht optimal, vor dem Schlafen sich den Bauch vollzuschlagen. Allerdings kenne ich keine Studien, die belegen, dass man mit vollem Bauch weniger Tiefschlaf hätte. Wenn jemand gut schläft, dann kann er meiner Meinung nach machen, was er möchte. Erst wenn Schlafprobleme auftauchen, sollte man anfangen, Schlafhygiene zu betreiben.
Im Buch erzählen Sie, dass Erfindungen wie Benzol den Entdeckern im Schlaf gekommen sind. Sollte man vor dem Einschlafen öfter an ein Perpetuum Mobile oder die eierlegende Wollmilchsau denken?
Das Beispiel der Erfindungen dient dazu, generell darzustellen, welche Rolle der Schlaf für die Generierung von Wissen und Denken spielt. Der Schlaf ist dazu prädestiniert, Querverbindungen zu ziehen zwischen dem Gelernten, um das Neugelernte des Tages in das bestehende Wissen zu integrieren. Erfindungen entstehen aus bekannten Wissen und freigeistiger Verknüpfung. Wer sich viel mit einem Thema beschäftigt, wird das auch im Schlaf unweigerlich tun. Ob ich dadurch plötzlich die großartige Idee bekomme, ist offen. Nicht alle besten Einfälle entstehen im Schlaf. Ich kann jedoch jedem empfehlen, wenn er klüger werden will, ausreichend auf seinen Schlaf zu achten. Schlafen wir zu wenig, werden wir dumm und unkonzentriert.
Kann man seine eigene Traumfabrik produzieren?
Es gibt Techniken, das Auftreten von luziden Träumen wahrscheinlicher zu machen. Also von Träumen, in denen man sich zum einen bewusst ist, dass man träumt. Und zum anderen, die Träumen nach eigenen Wünschen gestalten kann. Wer gut trainiert, schafft es auf drei bis sieben solcher Träume im Monat. Dazu gebe ich im Buch einige Tipps, wer Spaß hat, kann das ausprobieren. Die Erfahrung mit meinen Studenten zeigt allerdings, dass es vielen zu aufwändig ist. Das kann eine schöne Spielwiese sein, ob sie einen praktischen Nutzen hat, würde ich bezweifeln.
Wie lassen sich Albträume besiegen?
Albträume sind für die Betroffenen sehr belastend, das spiegelt sich in einer deutlich höheren Selbstmordrate. Eine sehr gute Behandlungsmethode bietet die "image rehersal therapy". Dabei schreibt man zunächst den Traum so detailliert wie möglich auf. Danach überlegt man, was einem in der Horrorsituation helfen könnte. Sollte ich zum Beispiel meinen Verfolger ansprechen und ihm eine Blume schenken? Sollte mir jemand zu Hilfe eilen? Man entwirft also ein Happy-End für diesen Albtraum, schreibt es auf und liest das über zwei Wochen vor dem Einschlafen mehrmals durch. Was wir häufig lesen, brennt sich ein. Bislang hat sich der Albtraum eingebrannt, was sich durchbrechen lässt, indem wir diese Gedanken bewusst in eine neue Richtung lenken.
"Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen. Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen" – hat Kant recht? Ist Schlaf das beste Drittel im Leben?
Mir macht das Leben tagsüber am meisten Spaß. Im Schlaf bekomme ich nicht so viel vom Leben mit. Womit Kant recht hat: Wenn wir gut geschlafen haben, sind wir emotional ausgeglichener und nehmen die Welt positiver wahr. Wer sein Leben verschönern will, sollte auf seinen Schlaf achten – dann fühlt man sich einfach glücklicher und besser.
Was ist Ihr bester Einschlaftipp – vielleicht gerade die Lektüre Ihres Buches?
Ich hoffe, das Buch ist nicht so langweilig, dass man nach einer Seite gleich einschläft. (lacht) Das Wichtigste ist, mit einem entspannten Grundzustand ins Bett zu gehen. Wie man diesen Zustand erreicht, ist jedem selbst überlassen. Das kann ein heißes Bad, autogenes Training oder ein gutes Buch sein. Ich empfehle Handy und Laptop eine Stunde vor dem Einschlafen auszuschalten und damit Arbeit und emotionale Facebook-Unterhaltungen aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Schlafen ist aktives Loslassen. Je entspannter wir sind, desto besser, tiefer und glücklicher schlafen wir ein.
Schlafforscher klingt wie ein Traumjob im mehrfachen Sinn. Was träumt man da selbst so?
Ein Schlafforscher träumt nicht anders als jeder andere Mensch auch. Die allermeisten Träume sind sehr banal, wahrscheinlich deswegen erinnert man sich nur an die wenigsten.
Albrecht Vorster. Warum wir schlafen. Sachbuch. Mit Illustrationen von Nadine Roßa, 416 Seiten, Heyne-Verlag. München 2019. Taschenbuch: 18 € (ISBN:978-3-453-20609-0). E-Book: 13,99 €. Audio-CD: 12,99 €

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