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Österreich
LGBTI-Aktivisten: Türkis-grüner Koalitionsvertrag eine "herbe Enttäuschung"
Erstmals regieren in Österreich die Grünen mit, die von LGBTI-Aktivisten oft als Verbündete angesehen werden. Im Regierungsprogramm schlug sich die queerfreundliche Haltung der Ökopartei allerdings nicht nieder.

ORF-Chef Sebastian Kurz (li., künftig Bundeskanzler) und Grünenchef Werner Kogler (re., künftig Vizekanzler) stellten am Donnerstag den Koalitionsvertrag vor (Bild: Screenshot ORF2)
- 3. Januar 2020, 14:21h 3 Min.
"Das nun vorliegende Regierungsprogramm ist für Lesben, Schwule, Bisexuelle, transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen eine herbe Enttäuschung." Das erklärte die österreichische LGBTI-Organisation HOSI Wien am Freitag als Reaktion auf den am Donnerstagnachmittag vorgestellten Koalitionsvertrag (PDF) zwischen christsozialer ÖVP und den Grünen.
HOSI-Wien-Chef Moritz Yvon zeigte sich insbesondere enttäuscht von der Ökopartei, die sich auf Bundesebene erstmals in Regierungsverantwortung befindet: "Die Grünen haben kein Verbot von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung erreicht. Keine Rehabilitation und Entschädigung der Opfer der Strafrechts-Verfolgung bis 2002. Kein Verbot von medizinisch unnötigen Operationen an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen. Kein freies Namensrecht für Transgender-Personen. Kein umfassendes Paket gegen Hassverbrechen."
Die Grünen seien "einst" ein treuer Bündnispartner gewesen, hätten aber "die Anliegen der LGBTIQ-Bewegung auf dem Altar der Koalition mit der ganz alten ÖVP geopfert". "Absolut gar nichts wurde erreicht, das konkret das Leben von LGBTIQ-Personen relevant besser macht", so Yvon. "Die Reden grüner Politiker*innen auf der vergangenen EuroPride Vienna haben sich im Realitätscheck als bloßes Gerede erwiesen, und die LGBTIQ-Community fühlt sich zurecht verhöhnt."
Auch das Rechtskomitee Lambda zeigte sich auf seiner Website empört über die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen. "Danke, Grüne: für Nichts!", so die Überschrift. Das RKL bemängelte etwa, dass im Regierungsprogramm nicht einmal das Verbot der Homo-"Heilung" für unter 18-Jährige erwähnt werde, obwohl das österreichische Parlament im Juni eine entsprechende Initiative unterstützt hatte – und zwar mit den Stimmen von sowohl ÖVP als auch den Grünen (queer.de berichtete). "Stattdessen werden wir mit Krümel abgespeist, frei nach dem Motto 'Hobts eh scho gessen, gö?'", so das RKL.
Twitter / soho_or_at | Die queere SPÖ-Gruppe SoHo beklagt auf Twitter, dass der Koalitionsvertrag falsche Prioritäten setzt#WasFehlt bei #schwarzgruen
SoHo Österreich (@soho_or_at) January 3, 2020
die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes (Levelling-Up)
die Rechte von Trans*-Personen
ein echtes Paket gegen Hate-Crimes
Operationsverbot an intergeschlechtlichen Kindern
… und vieles mehr!
Unser Statement:https://t.co/sG4pkvAogI pic.twitter.com/CDUwFIH7P8
LGBTI-Rechte nur am Rande erwähnt
Im "Regierungsprogramm 2020-2024" (Motto: "Aus Verantwortung für Österreich") werden LGBTI-Rechte nur am Rande erwähnt. In dem über 300-seitigen Dokument kommen Worte wie Regenbogenfamilie oder Homosexualität überhaupt nicht vor. Die Abkürzung LGBTI wird nur einmal erwähnt – im Bereich Außenpolitik. Die Bundesregierung verpflichtet sich darin, sich international "für die Umsetzung der LGBTI-Guidelines" einzusetzen (Seite 181). Das Wort "Homophobie" kommt ebenfalls einmal vor – man wolle "Homophobie sowohl im Spitzen- wie im Breitensport" bekämpfen (Seite 58).
Als "einzigen echten Lichtblick" bezeichnete die HOSI Wien, dass mit der Grünenpolitikerin und LGBTI-Aktivistin Ulrike Lunacek "eine große, langjährige Vorkämpferin" Staatssekretärin im Außenministerium wird (queer.de berichtete). "Darüber freuen wir uns sehr. Darüber, dass sich die grüne LGBTIQ-Politik offenbar darin erschöpft, weniger", so Yvon.
Der Koalitionsvertrag setzt Schwerpunkte insbesondere in den Bereichen Umwelt- und Steuerpolitik. So will Österreich ab 2040 klimaneutral sein – und damit zehn Jahre früher als Deutschland. Außerdem sollen Einkommens- und Körperschaftssteuer massiv gesenkt werden.
Bei der Nationalratswahl im September 2019 hatte die ÖVP um Spitzenkandidat Sebastian Kurz mit 37,5 Prozent ihr stärkstes Ergebnis seit 2002 geholt. Die Grünen konnten mit 13,9 Prozent das stärkste Ergebnis ihrer Geschichte einfahren. Die Neuwahl wurde notwendig, nachdem die Koalition aus ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ im Frühjahr 2019 im Rahmen des Ibiza-Skandals auseinandergebrochen war. (dk)
