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Urteil
Straßburg: Staaten müssen homofeindliche Online-Hetze ernst nehmen und verfolgen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab einem schwulen Paar aus Litauen Recht, das wegen eines Kuss-Fotos Todesdrohungen erhielt. Behörden sahen keinen Grund zu Ermittlungen und hatten das Paar der Provokation beschuldigt.

CherryX / wikipedia) Das Private ist politisch: Dieses harmlose Kussbild zweier Teenager aus Litauen beschäftigt die Politik in Vilnius und die Justiz in Straßburg (Bild: Montage privat,
- 14. Januar 2020, 12:24h 5 Min.
Unzureichende Strafverfolgung von homofeindlicher Hetze kann einen schweren Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer am Dienstag verkündeten Entscheidung auf die Beschwerde eines schwulen Paares aus Litauen, das nach der Veröffentlichung eines Kussbildes zur Zielscheibe von Online-Hetze geworden war.
In dem Kammer-Urteil (41288/15, PDF, PM), das noch angefochten werden kann, entschieden die sieben Richterinnen und Richter aus Island, Slowenien, Litauen, Montenegro, Norwegen, Albanien und der Türkei einstimmig, dass die Behandlung von Strafanzeigen des Paares durch litauische Behörden und Gerichte unzureichend und diskriminierend gewesen sei. Aufgrund von Verstößen gegen Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Konvention sprach es den Männern jeweils 5.000 Euro Schmerzensgeld und 5.000 Euro Erstattung von Prozesskosten zu.
Die Kläger Pijus Beizaras und Mingirdas Levickas hatten im Dezember 2014 ein Foto bei Facebook öffentlich gepostet, auf dem sich die beiden 1995 und 1996 geborenen Aktivisten der LGBTI-Organisation LGL küssen – als Ausdruck der frischen Liebe ebenso wie als ein gesellschaftliches Zeichen. Das Bild verbreitete sich viral und erzielte binnen Stunden über 800 Kommentare, nach Angaben des Paares in der Mehrheit negativ: Viele Kommentare zielten generell gegen LGBTI und ihre Rechte, einige griffen das Paar direkt an.
In seiner Zusammenfassung des Rechtsstreits zitiert das Gericht unter anderem die folgenden Kommentare: "Schwuchteln sollten getötet werden", "Ihr solltet beide in die Gaskammern geworfen werden", "Ihr seid verfickte Schwuchteln – ihr solltet vernichtet werden", "Ihr Schwuchteln solltet nicht solche Fotos posten, solche Schwuchteln sollte man treten" oder schlicht: "Tötet sie!"
Gericht beklagte "exzentrisches Verhalten" des Paares
Das Paar wandte sich an die Lithuanian Gay League (LGL), um sich gegen die Kommentare zur Wehr zu setzen. Die Organisation reichte eine Strafanzeige zu 31 Kommentaren von 27 Personen ein, nach zwei Paragrafen zu Volksverhetzung, die auch "sexuelle Orientierung" als Merkmal für eine angegriffene Personengruppe beinhalten.
Ein lokaler Staatsanwalt in Klaipeda lehnte allerdings bereits Vorermittlungen ab: Für den Vorwurf der Volksverhetzung fehlten belegbarer Vorsatz und ein systematisches Vorgehen der einzelnen Beteiligten. Er verwies auf ein Urteil des Verfassungsgerichts, dass ein einzelner Kommentar, Schwule seien "Perverse", die in die Psychiatrie gehörten, keine Volksverhetzung sei.
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Auf eine Rechtsbeschwerde von LGL entschied auch das örtliche Gericht, die Kommentare zeigten zwar eine "ungeeignete Wortwahl", "Obszönitäten" reichten aber für eine Volksverhetzung nicht aus. Das Gericht ging zugleich noch einen Schritt weiter und betonte, dass der junge Schwule, der das Bild online stellte, damit hätte rechnen müssen, durch die Nicht-Begrenzung auf Freunde auch ihm völlig Unbekannte zu erreichen und mit der Darstellung von "exzentrischem Verhalten" nicht zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Förderung von Toleranz beizutragen.
Wer sein Recht auf Meinungsfreiheit entsprechend nutze, müsse auch berücksichtigen, dass diese Freiheit die Pflicht umfasse, die Meinungen und Traditionen anderer zu akzeptieren, urteilte das Gericht weiter. So befürworte die Mehrheit der Bevölkerung die "sehr geschätzten Werte der traditionellen Familie", wie sie sich auch in der Verfassung widerspiegelten, die die Familie als Basis von Gesellschaft und Staat definiert und die Ehe als Verbindung aus Mann und Frau.
Auf erneute Beschwerde machte sich in letzter Instanz ein regionales Gericht die Argumentation des vorherigen zu eigen und betonte ebenfalls, das Bild mit dem dargestellten "exzentrischem Verhalten" sei als Versuch zu werten, "bewusst Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu reizen oder zu schockieren und das Veröffentlichen negativer Kommentare zu provozieren".
"Klima der Straflosigkeit"
"Beschimpfende und bedrohende Kommentare über LGBTI-Personen sind zu einer alltäglichen Norm geworden", hatte der Anwalt Tomas Vytautas Raskevicius, der das Paar in Straßburg vertritt, zur Einreichung der Beschwerde gesagt. "Litauische Behörden haben jahrelang bewusst Hass gegen die Mitglieder unserer Community nicht verfolgt und damit ein Klima der Straflosigkeit geschaffen und zu Homophobie in Litauen beigetragen", so Raskevicius. Man hoffe, dass eine Entscheidung des Straßburger Gerichts zu einem Umdenken führe.
Das Gericht wog die Umstände des Falles ab. Zwar verlange nicht grundsätzlich jede Hetze eine strikte Verfolgung durch das Strafrecht als "Ultima Ratio" und das litauische Strafrecht sehe im Prinzip die Verfolgung auch homofeindlicher Volksverhetzung vor. Doch in der Praxis sei es zu keiner effektiven Rechtsverfolgung gekommen.
Pijaus ir Mangirdo triumfas Strasb?re! E?TT nustat? E?TK 8-ojo (Teis? ? privataus gyvenimo gerbim?) kartu su 14-uoju…
Gepostet von LGL am Dienstag, 14. Januar 2020
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So könnten entgegen der vorgetragenen Auffassung Litauens auch Kommentare in Online-Netzwerken eine ernste Gefahr darstellen. "Hate Speech" müsse zudem keine konkrete Androhung von Gewalt oder Straftaten enthalten, um eine schädliche Wirkung für die Gesellschaft oder betroffene Minderheitengruppen zu entfalten, so das Gericht. Im vorliegenden Fall habe es sich um "unverhohlene Aufrufe zur Gewalt" gegenüber dem Klägerpaar und die homosexuelle Community im Allgemeinen gehandelt und habe diese in ihrer Würde und psychischen Gesundheit beeinträchtigt.
Die Behörden hätten eine bigotte und diskriminierende Haltung gegenüber Homosexuellen, wie sich sich in den Kommentaren zeigten, durch ihre Handlungen und missbilligenden Aussagen über das Foto selbst gezeigt und durch die "Herabstufung der Gefahr" signalisiert, entsprechende Äußerungen zu tolerieren. Die Kläger seien somit wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert worden. Das Gericht wies auch die Argumentation, das Paar habe "provoziert", zurück: Nach ständiger europäischer Rechtsprechung müssten Staaten das Recht von LGBTI anerkennen, sich als solche zu identifizieren und ihre Rechte und Freiheiten öffentlich einzufordern. Gleichgeschlechtliche Paare stünden zudem nicht Familienwerten entgegen, sondern stellten selbst diese Werte dar. (nb)
