Stellt euch vor: West-Berlin, circa 1983. Es ist mitten in der Nacht. Marianne Rosenberg, Mitte 20 und die größte Ikone des deutschen Schlagergeschäfts, und Annette Humpe, Anfang 30 und die angepunkte Verkörperung der Neuen Deutschen Welle, stehen Arm in Arm im "Dschungel", dem Berghain dieser Jahre, und träumen Rio Reiser, Sänger von Ton, Steine, Scherben, hinterher, der auf dem Weg zur Bar und Fan und Freund von sowohl Marianne wie Annette ist. Da seufzt Humpe mit Blick auf Rios Kehrseite: "Ach Marianne, immer sind die besten Männer schwul."
Rosenberg ist davon, wie sie heute in der größten deutschen Boulevardzeitung erzählt, "wie vor den Kopf gestoßen." Denn sie ist damals bis über beide Ohren in Reiser verknallt. "Warum wussten das alle, nur ich nicht? Ich war wirklich naiv." Ein bisschen. "Ich glaube, jede Frau hat sich schon mal in einen schwulen Mann verliebt. Wenn eine Frau so was erlebt, sollte sie den Mann so akzeptieren wie er ist. Lieb haben kann man ihn ja trotzdem." Zumal, wenn sie so sehr zurück geliebhabt wird, wie Reiser das mit Rosenberg tat. Er wollte unbedingt für sie schreiben und war furchtbar aufgeregt, als er sie zum ersten Mal traf.
Seit einem halben Jahrhundert auf der Bühne
Aktuelles Pressefoto von Marianne Rosenberg (Bild: Sandra Ludewig)
Reiser ist damit ein Paradebeispiel für das Verhältnis von vielen, vielen schwulen Männern zu Marianne Rosenberg in Deutschland in den letzten 50 Jahren. Kein Scheiß, unser aller Marianne feiert 2020 ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum. Und wird heute 65. Happy Birthday!
"Erst?", werden jetzt einige überrascht, aber immer respektvoll murmeln. Yup. Kommt uns auch länger vor. Was daran liegt, dass Mariannes Karriere eine so lange, vielfältige und tolle ist. Was ging, weil Rosenberg so früh angefangen hat wie kaum jemand anderer.
Mit 14 gewinnt sie einen lokalen Gesangswettbewerb im Berliner Europacenter und hat mit 15 ihren ersten Hit "Mr. Paul McCartney". Kein ganzes Jahr später tritt das "Berliner Nachwuchstalent" mit ihrer Single "Fremder Mann" bei einer schwulen Party am Kurfüstendamm auf, weil ihr Management herausfinden will, ob der Song zündet. Tut er. 1.500 Besucher rasten komplett aus und schließen Marianne für jetzt und alle Zeiten in ihr großes, warmes Herz.
Ob sich ihr Kanon von "Liebe kann so weh tun, doch sie gibt auch viel" über "Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür" bis "Marleen, eine von uns beiden muss nun gehen" ab da ein bisschen anhört, als wäre er mit der schwulen Zielgruppe im Hinterkopf getextet worden, oder ob ihre Hunderttausend schwulen Fans das über die nächsten fünf Jahrzehnte da hineinhören, lässt sich 2020 nicht mehr wirklich sagen. "Lieder der Nacht, für uns gemacht. Aha. Sie können oft soviel bedeuten." Sehr richtig.
Eine der Wilden und Guten im deutschen Musikgeschäft
Wahr ist: Rosenberg ist schon Anfang der Achtziger, da ist sie noch nicht ansatzweise 30, ein alter Hase im Geschäft und weiß, nach anderthalb Jahrzehnten Schlager sehr genau, was sie will: Raus da. Was sie auch tut. Sie arbeitet in den nächsten Jahren nicht nur mit Reiser und Humpe, sondern mit jedem spannenden, interessanten Produzenten und Komponisten, auf den sie Lust hat, von Alex Christensen über die Söhne Mannheims bis Peter Plate. Sie macht Jazzplatten, steht auf Musicalbühnen, macht großartigen Pop und wird dabei immer als eine der Wilden und Guten im deutschen Musikgeschäft erkannt. Besonders von den anderen wilden Guten. Judith Holofernes, Sängerin von Wir sind Helden, holt Rosenberg für die "Ballade von Wolfgang und Brigitte" vors Mikro und sagt danach: Als ich das fertige Ergebnis das erste Mal gehört habe, bin ich fast ausgeflippt: "Marianne! Rosenberg! Singt! Mein! Lied!"
Das Rosenberg gerade bei den Musikern der deutschen Alternativ-Szene solche Fans hat, liegt erstens daran, dass sie eine fantastische Sängerin und Handwerkerin ist. Und zweitens daran, dass sie sich selber nie als zum Mainstream zugehörig betrachtet hat. Ihr Vater schärfte ihr am Anfang ihrer Karriere ein, jedem, der sie auf ihr Aussehen ansprach, zu sagen, sie käme aus Ungarn. Was nicht stimmte. Otto Rosenberg war Sinto und hatte in dem Alter, in dem seine Tochter ein Star wurde, Auschwitz überlebt. Aber davon wollte im immer noch wirtschaftswunderlichen, aber inzwischen studentenbewegten Westdeutschland der Siebzigerjahre niemand etwas hören.
Vereint im Gefühl der Fremde
Heute sind Rosenberg und ihre Familie stolze Sinti-und-Roma-Repräsentantinnen und engagieren sich politisch vielfältig und immer fortschrittlich. Dass sie ihre Herkunft lange verstecken musste, hat sie trotzdem geprägt. In einem Interview mit der "Zeit" sagte sie vor einigen Jahren, sie hätte sich dadurch oft "fremd" und "nie zugehörig" im deutschen Schlagergeschäft gefühlt. Auch das hat sie mit vielen ihrer schwulen Fans gemeinsam. Vielleicht sind die gegenseitige Liebe und der Respekt deswegen so groß.
Heute Abend wird es in Berlin wieder eine Party geben, vielleicht sogar bis mitten in die Nacht. Marianne Rosenberg wird ihren Geburtstag ordentlich feiern. Ob Annette Humpe kommt, wissen wir nicht, es ist aber wahrscheinlich. Der Geist von Rio Reiser ist sicher dabei, wenn Marianne es krachen lässt und dabei den nächsten Abschnitt ihrer Karriere einleutet: Freitag erscheint ihr neues Album "Im Namen der Liebe". Eine große Tour ist geplant. Wir sind dabei und haben sie einfach weiter lieb.