Kommentare
Noch keine Kommentare.
In dem halbautobiografischen Werk findet Alexander Chee eine kraftvoll-metaphorische Sprache für schreckliche Taten – und schreibt als schwuler Halbkoreaner vom Aufwachsen zwischen den Identitäten.
Aphias, alle nennen ihn Phi, ist ein Außenseiter. Kaum Freunde in der Schule, Halbkoreaner noch dazu und einer, der gerne liest. Ein Junge, den die anderen eher meiden. Aber ein Junge mit einer außergewöhnlichen Stimme. Der Leiter des Knabenchors ist begeistert von seinem Stimmumfang. Und Phi fühlt sich im Chor wohl, er kommt mit den anderen Jungs gut klar, findet Freunde. Das freut auch Phis Eltern.
Big Eric, so nennen die Jungs ihren Chorleiter, um ihn nicht mit Little Eric, einem von ihnen, zu verwechseln. Big Eric sieht aus wie eine "aufgescheuchte Eule", findet Phi. Er ist streng, hat hohe Ansprüche an seinen Chor. Big Eric fährt mit seinem Chor zum Proben auf ein Sommercamp in der Natur, redet auf der Fahrt von Kinderrechten, von FKK. Gerade angekommen, zieht er sich aus, geht im See schwimmen, die Kinder folgen unbekümmert. Big Eric macht Fotos von ihnen, die Jungs denken sich nichts dabei.
Eine zunächst wahnsinnig traurige Geschichte
Der Chor teilt sich nachts auf zwei Hütten auf. Die "goldenen Knaben" sind mit dem Chorleiter in Hütte eins. Natürlich ist das kein Zufall, Phi merkt das bald, und er findet auch schon früh Worte dafür. "Ich wusste, dass Eric pädophil war." Phi wird selbst Opfer des sexuellen Missbrauchs. Und schweigt. Weil er sich schämt. Er kann nicht verhindern, dass weitere Freunde aus dem Chor zu Opfern werden. Er macht sich Vorwürfe, weil er sie nicht schützen konnte, und die Schweigespirale beginnt.
Alexander Chee erzählt in seinem ersten Roman "Edinburgh" (Amazon-Affiliate-Link ) eine wahnsinnig traurige Geschichte. Er schildert die Ereignisse kraftvoll, eindrücklich und schonungslos. Er schafft es, die Gedanken von Phi, die zwischen Scham, Selbstzweifeln, Vorwürfen und Suizidgedanken kreisen, genau so darzustellen wie sie sind: Schwer zu ertragen, hart, komplex, reif und doch verletzlich. Kein unnötiges Psychologisieren, von übertriebener Tragik in den Worten keine Spur. Die Betroffenheit entsteht einzig durch die anfangs oft elliptische und staccatohafte Schilderung.
Ein unerwarteter Plot-Twist
"Edinburgh" ist deshalb besonders, weil er kein reiner Missbrauchs-Roman ist. Als Big Eric verhaftet wird, haben wir noch etwa zwei Drittel des Textes vor uns. Der Fokus liegt nicht auf dem Täter oder seinen Taten. Vielmehr geht es um Phis Aufwachsen: Zwischen den Identitäten – halbkoreanisch, schwul – und auf der Suche nach sich selbst, das Trauma stets im Hinterkopf. Es lässt ihn nie los.
Es folgt später ein erzählerisch ungemein geschickter Perspektivwechsel, der zu einem plötzlichen Plot-Twist führt. Eine Wendung der Geschichte, die "Edinburgh" einen unerwarteten Spannungsbogen verleiht und mit ethischen Fragen aufwartet. Die Sprache wird dann noch kosmologischer, es gibt viele Vergleiche und Metaphern rund um Sonne, Licht, Mond, Schatten, Wind.
Manche sorgen für eine stimmungsvolle und sinnlich erfahrbare Schilderung, andere wirken, auch aufgrund ihrer Dichte, etwas beliebig und aufgebläht: "Um uns der schwache Atem der Rosen. Die Dämmerung wie ein Nebel aus Nacht, als würde die Nacht bei Sonnenaufgang verdunsten, kondensieren und dann herabregnen, wenn es wieder Nacht werden will." Ein Stil, der nicht allen gefallen wird.
Ein Coming-of-Age-Roman von gewaltiger Schlagkraft
Alexander Chee hat sieben Jahre lang an diesem Roman gearbeitet, schreibt er in seinem Essay-Band "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt". "Edinburgh" wurde 24 Mal abgelehnt, bevor er 2001 in einem Kleinverlag veröffentlicht wurde – und dann von der Kritik überschwänglich aufgenommen und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Erst knapp 20 Jahre später wird er ins Deutsche übersetzt.
Alexander Chee lässt sich von seinen eigenen Erlebnissen inspirieren und überträgt sie lose auf die Donizetti-Oper "Lucia di Lammermoor". Er habe sich, so schreibt er, in eine Romanfigur verwandelt, eine Handlung erfunden und aus der Vergangenheit Fiktion gemacht – was für eine Form der Vergangenheitsbewältigung! Wer seine Essays gelesen hat, der erkennt hier und da eindeutige Verweise auf sein Leben, etwa die Vorliebe für Rosen oder Tarot.
So entsteht ein semiautobiografischer Coming-of-Age-Roman von einer gewaltigen Schlagkraft. Ein Roman über Schuld und Strafe, Traumata und Träume, Vergebung und Vergessen. Gleichsam mitreißend und mittrauernd, eine Geschichte, wie sie selten geschrieben wird.
Links zum Thema:
» Mehr Infos zum Buch und Bestellmöglichkeit bei amazon
Mehr zum Thema:
» Rezension von Chees Essayband "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt": Tiefe Einblicke in Leben und Werk einer wichtigen queeren Stimme (10.03.2020)
Mehr queere Kultur:
» auf sissymag.de
Informationen zu Amazon-Affiliate-Links:
Dieser Artikel enthält Links zu amazon. Mit diesen sogenannten Affiliate-Links kannst du queer.de unterstützen: Kommt über einen Klick auf den Link ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision. Der Kaufpreis erhöht sich dadurch nicht.
Noch keine Kommentare.