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Literatur
Zwischen "Rothaut-Jägern auf Grindr" und queerphobem Reservat
Joshua Whiteheads Debüt "Jonny Appleseed" über einen "Two-Spirit-Femmeboy", der seine indigene Verwandtschaft besucht, ist ein frecher wie expliziter Roman über eine Kultur, die wir kaum kennen.

Joshua Whitehead, kanadischer Oji-Cree aus Manitoba, forscht als Doktorand über indigene Literatur an der Universität von Calgari (Bild: Promo)
20. März 2020, 10:45h - 4 Min. Von
Wer noch irgendwelche romantisch-verklärten Vorstellungen übers beschaulich-ursprüngliche Leben im "Indianerreservat" hatte: Bitte abgeben und von Joshua Whitehead eines Besseren belehren lassen. Es ist eine erschreckend traurige Welt, die der junge queere Autor in "Jonny Appleseed" (Amazon-Affiliate-Link ) schildert.
Eine Welt, in der schon Zehnjährige rauchen, saufen, sich mit Süßigkeiten berauschen, weil Rausch das ist, was sie von ihren älteren Geschwistern und Eltern vorgelebt bekommen, wenig später fangen sie an zu kiffen. Es ist eine sich ständig betäubende Parallelgesellschaft, voller Schmerzen, Schulden und Tränen. Weil ihnen, den First Nations, als an Selbstgefälligkeit kaum zu überbietender Akt Reservate gegeben wurden, in denen sie jetzt klarkommen sollen.
Bittersüße Erinnerungen an starke Frauen

Der Roman "Jonny Appleseed" ist Anfang des Monats im Albino Verlag erschienen
Doch, und das ist wichtig: "Jonny Appleseed" ist keine Mitglieds- oder Anklageschrift. Überhaupt gibt es für Jonny, der vor Jahren das Reservat verlassen hat und seitdem in Winnipeg lebt, und sich als "Two-Spirit-Femmeboy" bezeichnet, kein Schwarz-Weiß-Denken. Selbst für seinen verhassten Stiefvater Roger hat er noch liebevolle Erinnerungen übrig. Roger, der ihn als Kind verprügelt hat, weil er mit einem anderen Jungen getanzt wird.
Für Rogers Beerdigung kehrt er jetzt ins Reservat zurück. Diese, zugegeben relativ dürftige Rahmenhandlung, wird angefüllt durch Jonnys Erinnerungen. Er denkt zurück an die Zeit, als seine Kokum (Großmutter) noch am Leben war, und ihn mit ihrer Weisheit versorgt hat, von der er immer noch zehrt. Wie er sich mit ihr im Zehn-Dollar-Schönheitssalon im Acht-Geschäfte-Einkaufszentrum verwöhnen ließ, wie sie ihm drei Tage lang einen Stachelschweineintopf vorgesetzt hat, nachdem er in dem toten Tier rumgestochert hat und keinen Respekt gezeigt hat. Es sind bittersüße Erinnerungen, aus denen ewige und bedingungslose Liebe sprechen. Seine Kokum ist es schließlich auch, die Jonny als das, was er ist – ein Two-Spirit – akzeptiert und ermutigt.
Zwischen den Identitäten: Im Reservat hetero, in Winnipeg weiß
Two-Spirit ist der heute verbreitetste Sammelbegriff für eine Geschlechtsidentität jenseits des binären männlich-weiblich-Schemas in vielen nordamerikanischen indigenen Völkern. Fast alle indigenen Gruppen kannten eigene Begriffe und eigene Geschlechterrollen, die durch die europäische Kolonisation allerdings vielfach verschwunden sind. Was blieb, ist aus Europa importierte und mittlerweile verinnerlichte Queerfeindlichkeit.
Jonny erfährt deshalb Beleidigungen, Drohungen und körperliche Angriffe innerhalb der Oji-Cree-Community. "Draußen", in Winnipeg, ist er Rassismus ausgesetzt. "Ich spielte im Reservat die Hetero-Rolle, um ein NDN zu sein, und hier mimte ich den Weißen, um schwul zu sein", sagt er, NDN englisch ausgesprochen als Slang-Eigenbezeichnung vieler Indigener. Eine Verschränkung von Identitäten und Diskriminierungserfahrungen, ein Paradebeispiel, weshalb intersektionelles Denken wichtig ist.
Überleben mit Camsex-Shows
Jonny geht damit meist pragmatisch um: Von den "Rothaut-Jägern auf Grindr" profitiert er, wenn er sich mit privaten Camsex-Shows über Wasser hält. Für seinen Job hat er sich extra Karnevalskostüme angeschafft, Pocahontas zum Beispiel. "Ich bin wie eine Schablone – du kannst jede Faser meines Körpers nach Belieben definieren." Sex ist für ihn ohnehin etwas, was man von ihm als Dienstleistung erwarte, und was er selten nüchtern erlebe. Seinen ersten Freier hatte er, wenn auch noch unfreiwillig, mit 16.
Es ist dieser freche, selbstbewusste Ton, der aber fast immer auch eine Spur Traurigkeit in sich trägt, der Jonny so zugänglich, so menschlich macht. Ein Typ, der an der Liebe zu Tias fast verzweifelt ist, spätestens, als sich eine Dreiecks-Beziehung entwickelt. Ein junger Mensch, der seine Mutter, die "immer nach Alkohol, Zigaretten, Tränen und Schweiß riecht", gleichzeitig als die zäheste NDN bezeichnet und sie, wie viele andere Frauen im Reservat auch, anhimmelt.
Ein Roman, der uns eine fremde Gegenwart und Vergangenheit näherbringt, in einen anderen Alltag entführt – mit all seinem Schmerz, und doch auch allen Freuden. Mit "Jonny Appleseed" ist Joshua Whitehead ein kleines Wunder gelungen.
Joshua Whitehead: Jonny Appleseed. Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel. 256 Seiten. Albino Verlag. Berlin 2020. Taschenbuch: 18 € (JSBN 978-3-86300-293-0). E-Book: 12,99 € (ISBN 978-3-86300-303-6)

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