Am Sonntag ist nach fast 35 Jahren Schluss mit der "Lindenstraße". Wie geht es dir damit?
Ich bin ein bisschen melancholisch, zugegeben. Dabei bin ich kein sentimentaler Mensch, der viel nach hinten schaut. Alles im Leben hat seine Zeit. Aber, die "Lindenstraße" war ein sehr langer Lebensabschnitt für mich, der mich sehr geprägt hat, nicht nur beruflich. Zusammen mit der Covid-19-Situation kann einen das schon melancholisch machen.
Was wird dir am meisten fehlen?
Die enge Zusammenarbeit mit den Kollegen. Das wird es so in meinem Leben nie wieder geben. Und, ich glaube, nirgendwo, für niemanden im deutschen Fernsehen. Ich bin jetzt nicht der Opa, der sagt, "früher war alles besser", aber wir waren schon so etwas wie das letzte gallische Dorf der ARD. Was nicht heißt, dass man sich immer gemocht hat. Es gab Kontroversen, und es hat auch mal gekracht. Aber insgesamt waren wir ein Ensemble, mit Autoren und Produzenten, das über Jahrzehnte in engem Austausch stand. Die Fragen waren immer: Was wollen wir erzählen, wie geht das, wofür stehen wir? Wo wollen wir langfristig hin? Das war mir immer extrem wichtig. Ich habe nur kurzfristige Verträge unterschrieben, weil ich immer überprüfen wollte, ob ich noch Lust habe und die Produktion noch gute Ideen hat. Dieses Miteinander, das Dinge-gemeinsam-Entwickeln, das werde ich sehr vermissen.
Georg Ueckers Rolle des Carsten Flöter war in den Achtzigerjahren einer von sehr wenigen offen schwulen Figuren im deutschen Fernsehen (Bild: ARD)
Auch den ersten schwulen Kuss im deutschen TV-Mainstream, bei dem du 1990 einer der Küssenden warst, habt ihr hinter den Kulissen lange entwickelt, oder?
Wir sind dabei viele Umwege gegangen, das ist richtig. Es war ja aber auch schwierig. Als die "Lindenstraße" 1984 entwickelt wurde, war die Idee, eine offen schwule Figur in einer deutschen Mainstream-Serie unterzubringen, eine riesige Sache. Es gab ja nur drei öffentlich-rechtliche Sender. Und alle ARD-Sendeanstalten plus ORF diskutierten mit. Natürlich hatte es vorher im Nachtprogramm, auf obskuren Sendeplätzen, schon schwule Figuren in Filmen, die im Fernsehen liefen, gegeben. Damit erreichtest du das schwule Publikum, aber nicht die Hausfrau von nebenan. Ein Schwuler zur besten Sendezeit, das war man nicht gewohnt. Der erste Skandal dieser Art war "Die Konsequenz" gewesen, ein Film über einen schwulen Mann, der 1977 um 20 Uhr gelaufen war und ein riesiges Tohuwabohu auslöste. Der Bayerische Rundfunk machte nicht mit und zeigte stattdessen einen Film von Hans W. Geissendörfer, was er immer idiotisch fand. Als Geissendörfer acht Jahre später die "Lindenstraße" und mit ihr Carsten Flöter erfand, habe ich das auch als späte, aber süße Rache gesehen.
Die Figur selbst wurde schon so geschrieben, dass Carsten erst mal als der nette, etwas schüchterne, freundliche und charmante Mann von nebenan gelesen werden konnte, ohne sichtbare Sexualität. Das war Absicht. Mütter sollten schon denken "Der wäre doch auch was für meine Tochter." Damit das Coming-out am Ende des ersten Jahres dann auch eine Wirkung hat und dem bürgerlichen Publikum Schwule als Menschen zeigt, die man mag und kennt. Das war pädagogisch notwendig, wenn du so willst. Aus heutiger Sicht ist das natürlich extrem bigott. Damals war es nötig.
Wie waren die Reaktionen auf Carstens Coming-out?
Es gab da schon heftigere Reaktionen. Aber all das war nichts im Vergleich zu dem, was passierte, als die Figur drei Jahre später endlich mal einen Mann küsste. Da war die Hölle los.
Der Kuss zwischen Robert Engel (Martin Armknecht) und Carsten Flöter (Georg Uecker) erhitzte damals die Gemüter (Bild: WDR)
Du bekamst Morddrohungen, musstest für Monate unter Personenschutz gestellt werden und warst wochenlang Futter für die "Bild". Hattet ihr damit gerechnet?
Ich hatte null damit gerechnet, im Ernst. Und die Produktion auch nicht. Es war ein heilsamer Schock. Man muss bedenken: Ich komme aus einem sehr offenen und komplett liberalen Elternhaus, hatte ein frühes, gutes Coming-out, schon als Teenager angefangen mich politisch und dabei auch in der Schwulenbewegung zu engagieren. Und ich lebte in Köln, einer weltgewandten Metropole und arbeitete in einem Berufsumfeld, wo meine Sexualität kein Problem war. Und damit in einer Blase, wie sich herausstellte, die geplatzt ist, als Carsten seinen ersten Kerl küsste. Da brach die deutsche Wirklichkeit in mein Leben ein, der Toleranzspiegel war sehr niedrig und es gab ja außer mir damals keine anderen offen schwulen Schauspieler, oder Rollen, an denen der Volkszorn sich hätte entladen können.
Das ist nicht eitel gemeint, aber der Preis für den Kuss war schon hoch. Ich habe es mit Kampfgeist genommen, aber was blieb mir auch übrig? Unter Personenschutz zu leben, ist nicht wirklich lustig und macht dir ziemliche Angst. Ich hatte die ja auch nicht bestellt, sondern sie wurden mir einfach schon aus versicherungstechnischen Gründen an die Seite gegeben. Glücklicherweise bewegten wir uns auf die drehfreie Sommerpause zu, in der ich bei meinem Freund in London abtauchte. Als ich im Spätsommer zurück kam, ging es wieder einigermaßen. Aber es hat mich lange beschäftigt, und ich habe Jahre später gemerkt, wie die Ereignisse von damals immer noch nachwirkten.
Bist du stolz auf den Kuss, gerade wegen all dem, was folgte?
Ich hab's ja nicht so mit Stolz und wundere mich manchmal ein bisschen, worauf Menschen heute alles so stolz sind. Ich würde es vorsichtiger formulieren und sagen: Wir haben damit eine Menge erreicht. Und das war gut.
War Carstens Figur und die Reaktionen auf sie auch die Grundlage für die generelle politische Offenheit der "Lindenstraße" für LGBTI-Themen und solchen Figuren in den nächsten 25 Jahren? Man hätte ja nach dem Kuss und diesen Ereignissen auch sagen können: Das machen wir nie wieder…
Es war nicht monokausal, aber die Reaktionen auf den Kuss zeigten Geissendörfer und uns allen schon: Da gibt es noch viel zu tun, viel nachzuholen. Im Rückblick hat die Serie extrem zur Sichtbarkeit von schwulen Männern, lesbischen Frauen, bisexuellen und trans Menschen in Deutschland beigetragen. Die "Lindenstraße" hatte im Lauf der Jahre 15 queere Hauptcharaktere und noch mehr in Neben- oder Gastrollen. Im letzten Jahr hatten wir einen trans Mann, eine polysexuelle lesbische Frau und drei schwule Männer gleichzeitig als Hauptrollen. Das ist schon schön.
Aktion Standesamt in der "Lindenstraße": 1997 gaben sich Carsten Flöter (Georg Uecker) und Theo Klage (David Wilms) nach einer symbolischen Trauung im "Akropolis" einen Kuss (Bild: ARD)
Das letzte Coming-out iin der "Lindenstraße" ist ein bisschen mehr als ein Jahr her: Das war Pauls, der von Ole Dahl gespielt wird. Hast du den Kollegen mal gefragt, wie es 30 Jahre nach dir so ist, 2019 sein Rollen-Coming-out im deutschen Fernsehen zu haben?
Habe ich. Es gab keinerlei negative Reaktionen. Und das ist doch super. Allerdings ist Oles Figur auch eine, um die es mir echt leid tut. Denn wir hatten gerade erst begonnen, dieses junge, schwule Leben, das in der Schule stattfindet, zu erzählen. Würde die "Lindenstraße" weitergehen, hätten wir die Chance gehabt, einem schwulen Teenager beim Erwachsenwerden und einem erwachsenen schwulen Mann, meiner Figur, bei Altwerden zuzusehen. Es ist schade, dass das nun nicht passiert. Denn: Die älteren Schwulen sind im Fernsehen ja doch unsichtbar. Junge, hübsche gibt es inzwischen reichlich. Aber alte schwule Männer scheint niemand zeigen zu wollen. Das wäre ein interessantes Projekt gewesen.
Carsten Flöter (Georg Uecker) mit Ehemann Georg "Käthe" Eschweiler (Claus Vinçon) in der "Lindenstraße" (Bild: ARD)
Wirst du dir die letzte Folge denn ansehen?
Aber selbstverständlich! Aber, den Umständen geschuldet, leider allein zu Hause auf meinem Sofa. Wir hatten eine riesige Abschlussparty geplant, mit vielen Überraschungen, alle Ehemaligen sollten kommen, Reden, Champagner, viel Spaß. Das ist wegen Covid-19 jetzt natürlich alles abgesagt. Die "Lindenstraße" geht also im Stillen. Wenn ich in den letzten Tagen mit Kollegen telefoniert habe, waren wir deswegen schon ein bisschen wehmütig. Aber, die letzte Folge so zu gucken wie alle anderen Zuschauer, macht nach 35 Jahren auch irgendwie Sinn.
Ein Wort in eigener Sache
Hinter gutem Journalismus stecken viel Zeit und harte Arbeit – doch allein aus den Werbeeinnahmen lässt sich ein Onlineportal wie queer.de nicht finanzieren. Mit einer Spende, u.a. per
Paypal oder Überweisung, kannst Du unsere wichtige Arbeit für die LGBTI-Community sichern und stärken.
Abonnent*innen bieten wir ein werbefreies Angebot.
Jetzt queer.de unterstützen!