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Literatur

Die Jungs, in die ich mich in diesem Sommer verguckte

In seinem Essay-Band "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" thematisiert der Schriftsteller Alexander Chee sein Aufwachsen als schwuler Halb-Koreaner in den Vereinigten Staaten. Eine Leseprobe.


Alexander Chee 1990 in San Francisco (Bild: cheemobile / instagram)
  • 10. April 2020, 10:41h - 18 Min.

Den Sommer meines fünfzehnten Geburtstags verbrachte ich als Austauschschüler in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Chiapas, etwa dreihundert Meilen nördlich der Grenze zu Guatemala. Meine Gastfamilie hieß Gutiérrez, und ich habe sie nie gefragt, ob die Stadt ihren Namen von ihren Vorfahren hatte, aber falls doch, hängten sie es nicht an die große Glocke, so mächtig und wohlhabend sie waren. Der Vater, Fernando, war Hafenarbeiter gewesen, einer wie die, die jetzt für ihn schufteten, und die Mutter, Cela (ausgesprochen Tsche-la), war Tanzlehrerin. Ich erlebte sie als Menschen, die das Leben lieben, und liebte sie vom ersten Augenblick an.

Ihr Sohn, Miguel Ángel, hatte das letzte Schuljahr bei mir und meiner Familie in Cape Elizabeth, Maine verbracht. Er hatte seinen Eltern viel von mir erzählt, und so empfingen sie mich wie ein Kind, das sie immer schon gekannt, aber nie kennengelernt hatten. Sie hatten ein schönes, modernes Haus mit viel glänzendem Holz, Glas und Stuck, umgeben von hohen, mit Stacheldraht gespickten Mauern und Bäumen mit weit ausladenden Kronen und sternförmig angeordneten Blättern, von denen ich später erfahren sollte, dass es Mangobäume waren.

Bei unserem ersten, so heiteren wie herzlichen Abendessen erklärte mir die Familie, dass sie während dieses Sommers kein Englisch mit mir sprechen wollte, ganz gleich, wie sehr mich das verwirren würde. Und dass ich so Spanisch lernen sollte. Ich lachte, als ich – auf Spanisch – mein Einverständnis erklärte, etwas eingeschüchtert vielleicht, aber wild entschlossen und schon jetzt eifrig darum bemüht, ihnen zu gefallen.

In jener Nacht, ich lag wach und fand lange keinen Schlaf, fielen von den Bäumen, die rings um das Haus und die ganze Straße entlang standen, die reifen Mangos herab. Das Geräusch, das sie beim Aufprall machten, schwankte je nach Reifegrad zwischen dem Ploppen eines Tennisballs und einem saftigen Klatschen, und vereinzelt war ein lautes Klirren zu hören, wenn sie eine Windschutzscheibe durchbrachen.

Wir müssen den Baum fällen, sagte meine Gastmutter am nächsten Morgen. Das sagte sie immer, wenn wieder eine Scheibe zu Bruch gegangen war, aber kein einziger Baum wurde je gefällt – als wären kaputte Windschutzscheiben der Preis, den man für die Mangos zahlen musste, die wir Tag für Tag in uns hineinschlangen. Stattdessen ließen sie den Gärtner die Früchte aufsammeln und ersetzten die Windschutzscheibe, wie man eine Tischdecke wechselt. Und das war eine meiner ersten Lektionen über das Leben der Superreichen.
Erst Jahre später, als ich von der bitteren Armut in Chiapas erfuhr – daher die mit Stacheldraht gespickten Mauern -, begann ich mich zu fragen, ob es wirklich Mangos waren, was ihre Windschutzscheiben zerstört hatte – ob den ganzen Sommer Mangosaison war.


"Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" ist im Albino Verlag erschienen

Ich war einer von zwölf Schülern meiner Highschool, die den Sommer in Chiapas verbrachten, im Rahmen eines, wenn ich heute darüber nachdenke, eher seltsamen Austauschprogramms: Wir wohnten bei den mexikanischen Schülern, die ein Jahr lang bei uns gewohnt hatten, aber im Gegensatz zu ihnen mussten wir nicht zur Schule. Der Sommer an sich sollte unsere Schule sein. Wenn meine Gastfamilie mich nicht darauf eingeschworen hätte, kein Englisch zu sprechen, glaube ich kaum, dass ich viel gelernt hätte. Unser Lehrer war zur Aufsicht mitgekommen, aber Unterricht hatten wir auch bei ihm nicht. Was immer er ansonsten trieb, er begleitete uns immerhin auf die gelegentlichen Gruppenexkursionen, die uns meist zu gut besuchten Ruinen führten, und auf Einkaufsexpeditionen in Orte wie das nahe gelegene San Cristóbal de las Casas, eine stille, sonnendurchflutete Stadt, der man noch ihren früheren Glanz als ehemaliger Hauptstadt von Chiapas ansehen konnte. Für mich waren diese Ausflüge so etwas wie Fixpunkte, die sich von den ungezählten, ununterscheidbaren Tagen dazwischen abhoben, an denen ich nichts anderes tat, als durch das leere, weitläufige Haus zu geistern, während die Mitglieder der Familie Gutiérrez entweder in der Schule oder bei der Arbeit waren. Ich war fasziniert von den vielen Toupets meines Gastvaters, die in seinem Ankleidezimmer auf Plastikköpfen saßen, und dem Leben, auf das sie hindeuteten, einem mir völlig fremden, in dem es öffentliches und privates Haar gab.

Das war nur eine von vielen Beobachtungen, die ich in diesem Sommer machte, und wenn es wirkt, als hätte ich herumgeschnüffelt, dann stimmt das. Meine Inspirationsquelle waren die Bücher, die ich mitgebracht hatte, die Dune-Romane Frank Herberts – die Geschichte eines kleinen Jungen ohne Freunde, der als neuer Messias gilt und von den Bene Gesserit ausgebildet wird, einem geheimnisvollen Orden von Frauen mit übernatürlichen Kräften, die sie unter anderem durch das obsessive Registrieren kleinster Details erwerben. Der Junge war mein Held und nach Encyclopedia Brown, Sherlock Holmes und Batman nur die jüngste Inkarnation eines Heldentypus, der vom Durchschnitts- zum Übermenschen wird, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben. Um herauszufinden, ob auch ich solche Superkräfte entwickeln konnte, musste ich als Erstes meine Beobachtungsgabe schulen.

Und wenn ich nicht gerade in die Lektüre jener Romane versunken war, schrieb ich meine eigenen Geschichten, Geschichten, die bis heute niemand zu sehen bekommen hat, über Mutanten mit übersinnlichen Kräften, die vor einer Regierung fliehen, deren erstes Anliegen es naturgemäß ist, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Im Grunde X-Men-Fanfiction, lange bevor ich wusste, dass es so etwas gibt.

Mein größter Traum war es, genau so eine Geschichte selbst zu erleben, übersinnliche Kräfte zu besitzen, die mir entweder angeboren waren oder dank meiner eifrigen Bemühungen zuwachsen würden und obwohl ich das damals so nicht hätte sagen können, hätte die Erfüllung dieses Traumes bedeutet, dass die Kämpfe, die ich auszustehen hatte, nicht umsonst gewesen waren.

Das Einzige, was in diesem Sommer für so etwas wie einen geregelten Tagesablauf sorgte, war die Stunde, die ich mit der Köchin Panchita vor dem Küchenfernseher verbrachte. Während ich mein Mittagessen verdrückte – gebratene Tortillas, bestrichen mit einer frischen, leichten Tomatensoße und mit weißem Käse bestreut -, schauten wir gemeinsam El maleficio, eine Telenovela über eine Familie wohlhabender Hexen in Oaxaca und die zahlreichen Konflikte, in die sie sich verstricken. Mir gefiel der Look dieser Seifenoper, all diese Männer und Frauen, die Dallas oder Falcon Crest entsprungen schienen und sich ständig anschrien, um dann Zaubersprüche zu murmeln und blutige Rache zu schwören, und das alles garniert mit kitschigen Videoeffekten, die ihr unwirkliches Aussehen noch unwirklicher machten. Anfangs bekam ich von den Dialogen kaum etwas mit, da ich an der Highschool erst zwei Jahre Spanisch gehabt hatte. Aber nach etwa einem Monat wurde mir beim Zuschauen plötzlich bewusst, dass ich alles verstand, was die Hexen sagten. Dann folgte Werbung, und wieder verstand ich alles. Dann die Nachrichten, und ich verstand alles. Es war, als hätte mich die Serie verhext.

Von einem Tag auf den anderen konnte ich fließend Spanisch. Ich sagte irgendwas in diesem Sinne zu Panchita, und sie hörte mir lächelnd zu, lachte und gratulierte mir. Tatsächlich, sie könne selbst kaum besser Spanisch als ich, meinte sie scherzhaft, und zur Belohnung bekam ich an diesem Tag eine Tortilla extra.



Mein Gastbruder Miguel Ángel schnaubte fast täglich über die Ungerechtigkeit unseres Austauschprogramms, wenn er wie immer spät von der Sommerschule heimkam und mich sah, wie ich sonnengebräunt dalag und las. Er war ein hoch aufgeschossener, schlaksiger Siebzehnjähriger, ein zuckersüßes Teenageridol mit leichten Schönheitsfehlern, die ihn nur noch liebenswerter machten. Er hatte große, herzzerreißend schiefe Schneidezähne, engere, dünnere Jeans als alle anderen und eine Leif-Garrett-Mähne. Irgendwann nach Rückkehr aus der Schule begann Miguel immer, sich für den allabendlichen Discobesuch herauszuputzen, er duschte und stellte dann sorgfältig sein Outfit zusammen. Ich fand diese Vorbereitungen fremd und faszinierend zugleich – ihm beim Auflegen von Parfüm zuzusehen, hatte etwas beinahe Mystisches.

Und ich durfte ihm bei allem zusehen.

Manchmal wurde ich so sehr zur Kamera, dass ich zusammenfuhr, wenn man mich ansprach. Ich war ein bisschen verknallt in ihn und seine Freunde, junge Männer, ausnahmslos Schönheiten, die mit ihren sechzehn oder siebzehn Jahren etwa ein oder zwei Jahre älter waren als ich und über die ich alles wissen wollte, als würde mir dieses Wissen, wie in den Dune-Romanen, Macht über die Objekte meiner Begierde verschaffen. Alles folgte einer geheimen Logik, die, wie mir schien, unter dem sanften Rhythmus von Tag und Nacht verborgen lag, und diesen Code wollte ich knacken.

Miguel und ich trafen seine Freunde an einem Aussichtspunkt über der städtischen Müllhalde, wir parkten am Hang und tranken aus dem Kofferraum Brandy mit Coca-Cola, ein klebrig-süßes Mischgetränk, wie gemacht für heiße Sommernächte, bevor alle weiterzogen in die Discos. Wenn ich mit diesen jungen Männern getrunken hatte, war ich immer etwas schläfrig vom Alkohol und besonders empfänglich für die sinnliche Atmosphäre, das fast körperlich greifbare Vorgefühl von etwas, das ganz gewiss bald kommen musste.

Die Jungs warteten alle auf ihre Mädchen, die länger brauchten, bis sie ausgehfertig waren, und wir tranken, während sie sich ankleideten und schminkten. Ich konzentrierte mich auf den Moment ihrer Ankunft, darauf, was in diesem Moment mit der Jungsgruppe am Aussichtspunkt geschehen würde. Ich wusste damals bereits, dass ich schwul bin, und suchte die Landschaft ständig nach weiteren Anzeichen dafür ab. Wonach ich suchte, war das, was in diesem Moment verschwand. Die Mädchen kamen in ihren Autos, die Scheinwerfer schwenkten über die Szenerie und tauchten uns in helles Weiß. Dann stiegen sie aus, selbstbewusst, glamourös in ihrem Make-up, die Beine glänzend, die Lippen schimmernd vor Lipgloss, die manikürten Finger- und Fußnägel funkensprühende Lichtpunkte im Dunkel der Nacht. Die Jungs knurrten ihre Hallos und grinsten dazu wie Cartoon-Wölfe.

Vor allem zwei von Miguels Freunden fesselten meine Aufmerksamkeit. Sie schienen innig ineinander verliebt, eine Art Protektorat ungezwungener Männlichkeit, dessen Existenz von allen respektiert wurde, ohne dass man es sich so ganz eingestand. Sie waren nicht das, was ich mir unter typischen Machos vorstellte, wirkten aber männlicher, als ich es je hätte sein können, und suchten stets die Nähe des anderen. Vor Ankunft der Mädchen saßen sie immer beisammen, die Arme umeinandergelegt, lässig und schön, und von dort, wo ich saß, spürte ich jeden Flecken Haut, an dem sich ihre warmen Körper berührten, als könnte ich sie mit meinen Augen abtasten. Manchmal, wenn der Abend schon etwas fortgeschritten war, legte einer den Kopf auf die Schulter des anderen, und das Bild verfolgte mich bis in die Träume. Aber sobald sie die Autos der Mädchen kommen sahen, lösten sie sich voneinander, als ob das, was war, nie gewesen wäre.

Alle waren nett zu mir, aber meines Wissens versuchte niemand, mit mir zu flirten. Ich war zu jung. Ich hatte kein Flair. Ich trug kein Goldkettchen. An mir war nichts bemerkenswert, abgesehen von meinen Augen, auf die ich stolz war und von denen mir öfter gesagt wurde, dass sie schön seien. Und die ich einsetzte, in der sicheren Gewissheit, dass sie meine Machtträume wahr machen würden. Um ehrlich zu sein, war ich wahrscheinlich ein ziemlicher Glotzer. Ich war aus Maine, hatte die üblichen braunen Haare, den üblichen Seitenscheitel und trug, wie üblich, Jeans und Poloshirts.

In den meisten meiner Notizbücher findet sich die Zeichnung eines Auges, das den Betrachter anstarrt. Manchmal starrte ich mich an, während ich es zeichnete. Manchmal hatte ich nach Fertigstellung der Zeichnung das Gefühl, dass mein Auge jetzt mich anstarrte. Ich zeichne solche Augen immer noch. Das Auge war der perfekte Talisman für einen Jungen, der glaubte, dass er im Beobachten zugleich mächtig und verborgen war.


Alexander Chee 2018 in Texas (Bild: Larry D. Moore / wikipedia)

Etwas tat sich oder hatte sich, wenn man so sagen kann, bereits getan. Ich fühlte mich in Mexiko zu Hause, wie ich mich noch nirgends zu Hause gefühlt hatte.

Dazu trugen auch meine neu erworbenen Sprachkenntnisse bei. Von den zwölf Schülerinnen und Schülern unserer Highschool-Gruppe war ich der einzige, der sich fließend auf Spanisch verständigen konnte – zweifellos der Hauptzweck unseres Aufenthaltes in Chiapas. Ich war außerdem der einzige asiatische, nichtweiße Schüler der Gruppe. Auf Exkursionen begannen die anderen Kinder mich zu fragen, was "die" denn gerade gesagt hätten, oder baten mich, für sie zu sprechen. Das Einzige, was sie bisher gemeistert hatten, waren einfachste Alltagssituationen – ¿Cuánto cuesta? Wie viel kostet das? -, und so verspürte ich immer ein klitzekleines Fünkchen Verachtung, wenn ich nachgab und ihnen half.

Da wir, wenn wir nicht gerade einen Ausflug machten, vollkommen auf uns selbst gestellt waren, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich allein und wusste deshalb nie, was die anderen Amerikaner gerade machten. Nick Stark war der einzige, mit dem ich mich regelmäßig traf. Er hatte, wie sie alle, große Probleme mit der Aussprache und konnte sich keine Vokabeln merken, aber ich hatte mich vor allem deswegen mit ihm angefreundet, weil ich fand, dass er sehr ansprechend aussah. Von den amerikanischen Schülern war er mein bester Freund, aus Mangel an Alternativen. Nachmittags, nach meiner Fernsehstunde, gingen wir oft zusammen schwimmen, im Freibad des Tuxtla Country Club, in dem unsere Gastfamilien beide Mitglied waren, und waren infolgedessen bald vollkommen braun gebrannt, bis auf die Stellen, die unsere Badehosen notdürftig bedeckten. Ich machte mit, weil Nick mich nie auslachte und weil ich seinen Anblick sehr genoss. Wenn er seine Speedo an- oder auszog, blitzte die ungebräunte Stelle in der Umkleidekabine weiß auf, hell wie ein Kamerablitz.

Wie ich hatte auch Nick dunkle Haare und Augen, und mit geschlossenem Mund sah er aus wie viele der mexikanischen Clubmitglieder, von denen die meisten europäische Vorfahren hatten. Wenn wir schwimmen gingen, erregten wir keinerlei Aufsehen, jedenfalls nicht, solange wir schwiegen. Aber sobald Nick den Mund aufmachte, zeigte er seine riesigen, perlweißen, vollkommen geraden amerikanischen Zähne, das Ergebnis penibel eingehaltener Termine beim Kieferorthopäden. Meine waren ebenfalls groß und weiß, aber ein bisschen schief, genau wie die meiner Mutter: nicht so schief, dass ein Eingriff nötig gewesen wäre, aber schief genug, dass ich, auch dank meines unauffälligeren Akzents, als Mexikaner durchgehen konnte. Mir war bereits aufgefallen, dass die Mexikaner hier in Tuxtla nicht ganz so besessen von Zahnspangen waren wie wir in Amerika, und das galt selbst für Reiche, zumindest für die, die ich hier kennengelernt hatte. In den Siebzigerjahren war Kieferorthopädie noch eine sehr amerikanische Manie. Und das, worauf mich Nick jetzt hinweisen sollte, war mir ebenfalls schon aufgefallen: Inzwischen sah ich auch aus wie ein Mexikaner. Das heißt, eigentlich ging es sogar noch darüber hinaus.

"Du wirst immer mehr wie die", sagte er eines Tages zu mir, als wir uns nach dem Schwimmen umzogen. Ein durchdringender Geruch von Chlor und Rost hing in den kalten grünen Spinden des Country Club, und so schloss ich meinen, was den Geruch allerdings nur wenig abmilderte. Was er gesagt hatte, freute mich, und ich hätte gern mehr davon gehört, war aber abgelenkt, weil es so anregend war, ihm beim Umziehen zuzusehen. Inzwischen war mir klar geworden, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, und ich hatte gelernt, ihn nicht allzu auffällig anzuglotzen, damit der Anschein gewahrt blieb, dass seine Schönheit mir ungefähr so gleichgültig war wie alles sonst um uns herum. Doch an diesem Tag wippte, während er sprach, sein Penis auf und ab, als ob seine Stimmbänder daran befestigt wären, ein rosiges Pink auf dem blendend weißen Streifen, der die obere Hälfte seines makellos gebräunten Körpers von der unteren trennte. Er sah aus wie ein appetitlicher Becher Fürst-Pückler-Eis.

Er hielt die marineblaue Badehose vor sich, um hineinzusteigen, und wartete offenbar darauf, dass ich mich zu ihm umdrehte.

"Was meinst du denn mit 'wie die'?", fragte ich ihn.

Nick brauchte ein bisschen, um die Frage zu verarbeiten. Wahrscheinlich hatte er angenommen, ich wüsste schon, wie er das meinte. "Na ja, du weißt schon, du könntest dich echt als Mexikaner ausgeben. Dein Spanisch ist echt gut, du klingst original wie die."

"Echt?" Ich setzte mich auf die Bank vor dem Spind. Nick stand da, als würde er seine Badehose nicht eher anziehen, bis er von diesem Gespräch erlöst wäre.

Oder er flirtete mit mir.

"Ja", sagte er, "ganz sicher, die würden dir das glauben, also alle, die würden dir den Mexikaner voll abnehmen." Sein Penis wippte wieder auf und ab, und da ich jetzt saß, war er direkt auf Augenhöhe. Ich blickte hoch zu seinem Gesicht, um seine Aufmerksamkeit nicht auf das zu lenken, was meine Aufmerksamkeit fesselte, aber ich konnte ihn immer noch sehen, wie er lockend in mein Gesichtsfeld hinein- und wieder hinauswippte. Und ich hatte noch so viele Fragen: "Langweilst du dich gar nicht? Ist das nicht seltsam, dass wir keine Schule haben? Ist doch verrückt, oder? Was sich Pablo wohl dabei gedacht hat, bei der Planung unseres Sommers?" Pablo, das war unser Spanischlehrer, Mr. Castellanos, den wir immer nur Pablo nannten, nie Mr. Castellanos.

"Nein", sagte er, "ich hab hier 'ne echt tolle Zeit." Immerhin, es wippte wieder. Schließlich zog er die Badehose dann doch hoch, und als er den Kordelzug nach innen geschoben hatte, grinste er mich an, als hätte er ein kleines Kunststück vollbracht. Dann stand ich auf, und wir gingen hinaus zum Pool.

An diesem Abend, beim Abendessen, konnte ich meiner Gastfamilie endlich von meinen neu erworbenen sprachlichen Fähigkeiten berichten, und sie überboten sich mit Bemerkungen darüber, dass ich ja wirklich der beste von allen Austauschschülern wäre und wie stolz sie das machen würde. Die anderen Amerikaner wurden der Reihe nach durchgemustert, aber keiner konnte sich mit mir messen. "Lo más bueno", sagte mein Gastvater und zeigte dabei auf mich. Cela strahlte, als sie sich gegenseitig zu ihrem Plan beglückwünschten, kein Englisch mit mir zu sprechen, und noch einmal betonten, dass ich tatsächlich genau wie ein mexicano klang. Und noch während sie das sagten, schien mir, als würden sie mich plötzlich mit anderen Augen sehen, als hätte sich ihnen plötzlich offenbart, dass ich in Wirklichkeit einer von ihnen war.



Der Reichtum der Familie Gutiérrez verwirrte mich. Miguels jüngste Schwester zum Beispiel besuchte ein Mädcheninternat in der Schweiz, dasselbe Internat, auf dem schon Miguels ältere Schwester gewesen war. Niemand, den ich kannte, hätte sich solche Familientraditionen leisten können. Ich hatte schon verstanden, dass Herr Gutiérrez im Fernhandel tätig war, aber wenn ich versuchte, mir vorzustellen, was das eigentlich bedeutete, sah ich vor mir nur Berge verschnürter Geldballen, die von Lastenkränen aus riesigen Schiffen gehievt wurden.

Bis dahin hatte ich keine Familie gekannt, die einen Hausboy beschäftigte. Sein Name war Uriel, er kümmerte sich um die Grünanlagen im Innenhof, wusch jeden zweiten Tag die drei Autos, sammelte die herabgefallenen Mangos ein und hatte sicherlich noch viele andere Aufgaben, bei denen ich ihn nur nicht beobachten konnte. Aufgrund der Hitze arbeitete Uriel mit freiem Oberkörper, sodass sich, wenn er die Autos abspritzte, seine Haut mit einer Glasur aus Wasser und Schweiß überzog, und in gewisser Weise war er von allen Jungs, in die ich mich in diesem Sommer verguckte, der wichtigste.

Ich hatte ihn wochenlang von meinem Fenster aus beobachtet, zu schüchtern, um mich ihm zu nähern, zu unsicher auch über meine Sprachkenntnisse, aber jetzt, da ich fließend Spanisch sprach – soweit das denn der Fall war -, lief ich schließlich doch hinunter und stellte mich ihm ein zweites Mal vor. Das erste Mal war ich ihm bei meiner Ankunft vorgestellt worden, aber wir hatten seitdem kaum ein Wort miteinander gewechselt, uns nur gelegentlich zugenickt oder grüßend zugelächelt. Er war ebenfalls schüchtern, und wenn er lächelte, war es immer, als wären wir in einem Film und plötzlich würde der Soundtrack wechseln. Er war braun gebrannt, da er Tag für Tag in der prallen Sonne arbeitete. Ich wusste, dass er den Namen eines Engels trug, eines Erzengels sogar, und umso strahlender erschien er mir.

Ich war jung und naiv genug, mir einzubilden, dass wir Freunde werden könnten, und schrieb sogar eine kurze Geschichte über einen Jungen wie mich, Austauschschüler wie ich, in der wir ein Liebespaar waren. Aber das war reines Wunschdenken. Mit der Zeit wurde mir klar, dass eine Kluft zwischen uns lag, die sich auch durch noch so gute Spanischkenntnisse nicht überbrücken lassen würde. Wie sehr ich auch versuchte, mit meiner neuen Umwelt zu verschmelzen, ich war der amerikanische Gast, und daran hatte er sich zu halten, was immer er für mich empfinden mochte. Im Umgang mit mir beschränkte er sich auf höfliches Alltagsgeplänkel. Vielleicht wusste er, dass ich in ihn verknallt war, aber anmerken ließ er sich das nicht. Ich hatte damals noch nicht begriffen, dass der Klassenunterschied eine größere Barriere war als die Sprache. Er musste höflich zu mir sein, seine Gefühle spielten keine Rolle.
Ich wünschte, ich hätte mehr Fragen gestellt. Nachts in der Disco oder danach, in meinem Zimmer, dachte ich oft an Uriel. Schlief er ebenfalls im Haus, und wenn nicht, wo dann? Wo war er zu Hause und wie sah sein Leben aus? Und natürlich: Woran dachte er eigentlich die ganze Zeit? Wobei ich natürlich hoffte, dass er an mich dachte.

Infos zum Buch

Alexander Chee: Wie man einen autobiografischen Roman schreibt. Essays. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nicola Heine & Timm Strafe. 384 Seiten Albino Verlag. Berlin 2020. Taschenbuch: 20 € (ISBN 978-3-86300-283-1). E-Book: 13,99 € (ISBN 978-3-86300-296-1)

Hörtipp
Alexander Chee liest am Samstag, den 11 April und 19.04 Uhr im Rahmen der Radiosendung "weiter lesen" auf rbb kultur in Kooperation mit dem Literarischen Colloquium Berlin. Die Sendung ist danach als Podcast abrufbar. Weitere Infos hier.

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