Um eines gleich mal klarzustellen: Joe Exotic ist kein Held. Und schon gar kein schwuler Held. Was er allerdings ist: eine Möglichkeit für Heteros, Schwule mal wieder als "schillernd", "crazy" und "völlig durch geknallt" wahrzunehmen.
Und das kommt so: Die Netflix-Serie "Großkatzen und ihre Raubtiere", im Original "Tiger King: Murder, Mayhem and Madness", deren Hauptfigur eben jener Joe Exotic ist, zeigt in sieben Teilen Joes jahrelange Streitigkeiten mit der Tierrechtsaktivistin Carole Baskin. Die eskalieren, bis Joe wohl ihren Mord in Auftrag gibt. Dafür, und für eine Reihe anderer Vergehen gegen Tierrechte, wurde Joseph Maldonado-Passage – wie Joe Exotic mit bürgerlichem Namen heißt – letztes Jahr jedenfalls rechtskräftig verurteilt. Zu 22 Jahren hinter Gittern.
Man glaubt Rebecca Chaiklin und Eric Goode, den Produzent*innen und Regisseur*innen der Serie, sofort, dass sie die Geschichte erzählen wollten. Denn was auf dem Papier wie die Vorlage für einen mittelmäßigen Tierschutz-Krimi daherkommt, lebt vor allem von den unglaublichen Charakteren. Hätte sich Joe, Carole und die anderen Mitwirkenden jemand ausgedacht, jeder Sender hätte gesagt: Das glaubt kein Mensch. Mach mal halblang!
Das Schlimme ist: Es ist alles wahr
Joe Exotic am Tag seiner Verhaftung (Bild: Tampa Bay Police Department)
Das Problem: Es ist alles wahr. Ja, Joe Exotic ist ein schwuler Mann Mitte 50, der nach seinem jugendlichen Coming-out in selbstmörderischer Absicht von einer Brücke fuhr, sich dabei das Rückgrat brach und seitdem an einer Krücke geht. Ja, Joe Exotic hatte fast zwei Jahrzehnte einen Privatzoo, in dem er Hunderte Tiger, Löwen und andere Wildtiere hielt. Ja, Joe Exotic hat einen Hang zu deutlich jüngeren Männern, von denen er gleich mehrere heiratete, auch mal zwei gleichzeitig. Ja, Joe Exotic trägt gern Fransen-Jacken, hat einen teilweise blondierten Vokuhila, benutzt zu viel Selbstbräuner und hat ein Prinz Albert-Piercing. Ja, Joe Exotic besitzt ein ganzes Arsenal an Feuerwaffen, mit dem er gerne und ausgiebig herumballert. Ja, Joe Exotic hat Freunde, Ehemänner, Intimfeinde und Geschäftspartner, die wie aus einem schlechten Roman geklaut daherkommen: Drogendealer, Crystal-Meth-Abhängige, Männer, die auf Elefanten zu Meetings einreiten, eine Frau die nur Klamotten mit Tierfellmustern trägt. Und ja, Joe Exotic wollte erst Präsident der USA, dann Gouverneur von Oklahoma werden und hat zwischendurch Countryalben aufgenommen. Es ist alles wahr.
Zusammengefasst: "Großkatzen und ihre Raubtiere" erzählt von einem psychisch schwer gestörten, schwulen, und – glaubt man der Regisseurin – rassistischen Waffennarr, der mit ausgewachsenen Tigern kuschelt, bevor er sie erschießt, wenn sie zu alt werden, um mit ihnen Geld zu verdienen. Wie könnte man diese Geschichte nicht erzählen wollen? Oder ansehen.
Indem man sich zusammenreißt und kurz mal über die Folgen nachdenkt. Ja, ich weiß, wir leben in Zeiten, in denen es als Unterhaltung gilt, wenn D-Promis sich unter Palmen anschreien, in denen es "doch lustig" ist, wenn Menschen in Camps gesperrt und mit Kakerlaken überschüttet werden, in denen Twitter als Nachrichtenkanal gehandelt wird und Kim Kardashian den Präsidenten der USA in Fragen des Waffenrechts berät. Die Frage ist ja nicht, ob das alles so ist, sondern ob es gut ist, dass es so ist. Ist es nicht.
Sieben Stunden lange Lawine aus Klamauk und Voyeurismus
Die Macher*innen von "Großkatzen und ihre Raubtiere" hatten zu Beginn der Dreharbeiten eigentlich vor, einen Film darüber zu drehen, dass es in den Privatzoos und -haushalten der USA inzwischen mehr Tiger gibt als in freier Wildbahn. Und warum das keine gute Sache ist. Die Hauptfiguren sind eine Tierschützerin und der Mann, dessen Privatzoo sie verbieten lassen will. Allerdings passiert Chaiklin und Goode beim Erzählen ihrer unglaublichen Geschichte innerhalb weniger Minuten das Gleiche, was auch ihrer Hauptfigur und dem sie betrachtenden Publikum passiert: Die positive Message versinkt in einer riesigen, sieben Stunden langen Lawine aus Klamauk und Voyeurismus. Und Joes Privat- und Liebesleben wird davon einfach mitgerissen.
Wäre es super gewesen, sich damit auseinanderzusetzen, wie schwierig ein Coming-out im tiefsten Süden der USA vor 30 Jahren war? Wäre es. Hätte es spannend werden können, sich damit zu beschäftigen, wie fließend die Identität von Männern sein kann, die Sex mit anderen Männern haben und wie der aussieht? Sehr. Könnte es eine tolle Fernsehserie abgeben, sich über erfolgreiche Polyamorie unter Schwulen zu unterhalten? Yup. Sollte man sich Gedanken darüber machen, warum Männer sich mit Tigern, Löwen und fetten Autos ihr Ego aufblasen müssen, um "echte Männer" zu sein? Sollte man.
"Großkatzen und ihre Raubtiere" streift diese Themen auch alle. Allerdings nur, um daraus komödiantischen Gewinn zu schlagen und nicht nur ihre schwulen Hauptfiguren, sondern auch die Tierschutzmessage den Zuschauer*innen zum Fraß vorzuwerfen. Das alles führt dazu, dass die Serie das derzeit erfolgreichste Format auf Netflix ist.
Mit uns lachen, nicht über uns
Resultat: Der derzeit bekannteste schwule Mann des Planeten ist eine mörderische Witzfigur. Heterosexuelle Hollywood-Stars können es gar nicht abwarten, ihn als komplette Karikatur zu spielen, Trump überlegt, ihn zu begnadigen. Und das heterosexuelle Publikum – und wahrscheinlich auch viele LGBTI – lechzen nach einer eventuellen Zusatzfolge von dem "crazy shit".
Dabei gäbe es für Dokumentarfilmer*innen spannende, berührende und lustige Geschichten aus der queeren Community zu entdecken und zu erzählen. In denen man nicht über, sondern mit uns lacht. Aber, wer würde sowas schon sehen wollen, richtig?
PRO: Unfassbar unterhaltsame Ablenkung in Corona-Zeiten
Behauptet auch niemand.
"in denen es "doch lustig" ist, wenn Menschen in Camps gesperrt und mit Kakerlaken überschüttet werden"
Was haben Menschen, die sich daran ergötzen, andere Menschen leiden und vorgeführt zu sehen, zu tun mit Menschen, die eine spannende, skurille Geschichte feiern? Nichts.
"in denen Twitter als Nachrichtenkanal gehandelt wird und Kim Kardashian den Präsidenten der USA in Fragen des Waffenrechts berät."
Hat alles nichts mit der Doku zu tun.
"Wäre es super gewesen, sich damit auseinanderzusetzen, wie schwierig ein Coming-out im tiefsten Süden der USA vor 30 Jahren war? Wäre es. Hätte es spannend werden können, sich damit zu beschäftigen, wie fließend die Identität von Männern sein kann, die Sex mit anderen Männern haben und wie der aussieht? Sehr. Könnte es eine tolle Fernsehserie abgeben, sich über erfolgreiche Polyamorie unter Schwulen zu unterhalten? Yup. Sollte man sich Gedanken darüber machen, warum Männer sich mit Tigern, Löwen und fetten Autos ihr Ego aufblasen müssen, um "echte Männer" zu sein? Sollte man."
Eine Serie muss nicht zwingend moralisch belehren, sie kann auch einfach nur der Unterhaltung dienen, solange sie zumindest keine falschen Morallehren vermittelt und ich sehe nicht, wo die Doku dies tun würde. Abgesehen davon ist es aus meiner Sicht Unsinn, zu behaupten, dass Joe sich die Großkatzen zugelegt hat, um irgendwelche Männlichkeitsideale zu erfüllen. Er wirkt, als könnten Männlichkeitsideale ihn gar nicht weniger interessieren.
Und was ist bitte gemeint damit, wie "fließend die Identität von Männern sein kann, die Sex mit anderen Männern haben"? Ist das eine Anspielung auf Joes nicht-schwule Ehemänner, die er mit Drogen und Tieren gefügig gemacht hat? Diese Männer hatten keine fließende Sexualität/Identität, sie waren stockhetero und wurden einfach nur ausgenutzt.
"In denen man nicht über, sondern mit uns lacht."
Niemand, der die Doku schaut lacht über "uns". Man lacht über die groteske Geschichte und evetl. über Joe als Person. Steckt der Autor dieses Text wirklich schon so tief in Identitätspolitik drin, dass er denkt, über einen Schwulen zu lachen wäre gleichbedeutend mit über die Community zu lachen?