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Drag-Pioniere
Zwei Crossdresser schockieren das viktorianische England
Heute vor 150 Jahren – am 28. April 1870 – wurden die Crossdresser Fanny und Stella in London verhaftet. Im Prozess vor einem der höchsten Gerichte Englands wurden ihre "klaffenden Anusse" zum Thema gemacht.

Fanny und Stella in liebevoller Umarmung
28. April 2020, 05:16h 18 Min. Von
Fanny und Stella waren die bekanntesten Künstlernamen von zwei (vermutlich schwulen) Crossdressern, die 1870 wegen homosexueller Handlungen angeklagt und im darauffolgenden Prozess freigesprochen wurden. Eine kleine Bildergalerie auf Youtube vermittelt einen guten Eindruck von den beiden jungen Männern, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung Anfang zwanzig waren. Ihr Skandal erinnert an den Prozess von Oscar Wilde, der ein Vierteljahrhundert später ebenfalls in London und ebenfalls wegen homosexueller Handlungen vor Gericht stand.
Die Biografien

Eine Plakette in der Londoner Wakefield Street erinnert an "Stella & Fanny"
(Thomas) Ernest Boulton (1847-1904) trug schon in seiner Kindheit gerne Frauenkleider und wurde von seiner Mutter bei seinen Nachahmungen von Dienstmädchen und anderen Frauen sogar noch ermutigt. Von seinem Vater wurde er zwar gedrängt, einen Job bei einer Bank anzunehmen. Stattdessen bildete er jedoch seine außergewöhnliche Sopranstimme aus und startete als "Stella" eine Bühnenkarriere. Mit Arthur Clinton, auf den ich später noch zu sprechen kommen werde, lebte er zeitweise wie ein Ehepaar zusammen.
Frederick William Park (1846-1881) war das Kind eines Rechtsanwalts und arbeitete zunächst bei einem Londoner Anwalt, aber auch seine große Leidenschaft galt dem Theater. Boulton und Park freundeten sich schnell an – auch aufgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft, sich als Frauen zu kleiden. Unter ihren Künstlernamen "Fanny und Stella" traten sie gemeinsam auf und genossen die so erreichte Aufmerksamkeit. Mehrere Jahre lang nahmen sie sowohl in Damen- als auch in Herrenkleidung am gesellschaftlichen Leben Londons teil. Es kam allerdings auch manchmal vor, dass sie – wie im Alhambra Theatre – rausgeworfen wurden, wenn sie Frauenkleidung trugen. Es erscheint möglich, dass der Künstlername "Fanny" an die literarische Figur "Fanny Hill" angelehnt ist. Boulton und Park lebten in der Wakefield Street zwei Jahre lang zusammen, woran heute eine Plakette erinnert.
Die Verhaftung am 28. April 1870
Am Abend des 28. April 1870 hatten sich Boulton und Park mit anderen Männern im Londoner "Strand Theatre" verabredet. Schon vor dem Theater wurden sie von einem Polizisten beobachtet. Als sie später das Theater wieder verließen, wurden sie und einer ihrer Bekannten, Hugh Alexander Mundell, festgenommen. Andere Männer konnten fliehen.
Am nächsten Tag wurden sie vor den "Magistrates' Court" (Amtsgericht bzw. Polizeigericht) in die Bow Street gebracht. Es ist bis heute eines der bekanntesten Gerichte in England, weil in seiner 266-jährigen Geschichte (1740-2006) dort viele berühmte Angeklagte wie Oscar Wilde erscheinen mussten, bevor ihre Fälle dann vor anderen bzw. höheren Gerichten verhandelt wurden.
Als Boulton und Park am 29. April vor diesem Gericht erschienen, trugen sie noch die Frauenkleider vom Vortag, was in Zeitungsberichten ausführlich beschrieben wurde: Stella trug ein sehr tief ausgeschnittenes scharlachrotes Satin-Kleid mit einem sehr voll gepolsterten Busen ("very full padded bosom"), dazu einen weißen Schal, Armbänder, eine Halskette, weiße Handschuhe und einen Fächer. Vor Gericht stellte sich heraus, dass beide Männer ein Jahr lang unter polizeilicher Überwachung gestanden hatten und dass auch ihre Wohnung zwei Wochen lang observiert worden war. Vor dem Gericht in der Bow Street sollen sich fast 1.000 Menschen versammelt haben und die Zeitungen berichteten ausführlich über diesen Skandal, der nun seinen Anfang nahm.

Am 29. April 1870 beobachtet eine Menschenmenge, wie Boulton und Park am Morgen nach ihrer Festnahme das Gericht in der Bow Street verlassen (Bild: "The Illustrated Police News", o.D.)
Nach vier Monaten wurden Boulton und Park vorläufig auf freien Fuß gesetzt – bis zum Prozess, der einige Monate später stattfinden sollte. Es ist überraschend, dass sie diese Zeit nicht für eine Flucht nutzten, weil schließlich eine mehrjährige Haftstrafe drohte. Dies lässt sich – ähnlich wie bei Oscar Wilde 25 Jahre später – als Zeichen von besonderem Mut oder besonderer Naivität interpretieren.
Das Hauptverfahren ab dem 9. Mai 1871
Am 9. Mai 1871 begann der Prozess vor dem "High Court of Justice" (im berühmten "Palace of Westminster"). Die Anklage wurde vom Attorney-General (Generalstaatsanwalt) geführt, was ebenfalls die große Bedeutung des Prozesses widerspiegelt. Die Anklage richtete sich zunächst gegen acht Beschuldigte. Dazu zählten neben Boulton und Park auch Lord Arthur Clinton, Louis Hurt und John Fisk. Drei weitere Angeklagte waren vor Prozessbeginn geflohen. Vor allem der Lebensstil von Boulton und Park stieß in den Zeitungen auf großes Interesse; ihre beschlagnahmten Frauenkleider wurden als Beweismittel vor Gericht herangezogen.
In England war – ähnlich wie in Deutschland zu dieser Zeit – die Strafbarkeit von Homosexualität weitgehend auf den Tatbestand des Analverkehrs eingeengt, was eine Beweisführung äußerst erschwerte. Seit 1861 war das Strafmaß dafür zwar nicht mehr wie vorher die Todesstrafe, aber eine lebenslange Haftstrafe (zum "Offences against the Person Act 1861" s. Buggery Act). Um eine Verurteilung von Fanny und Stella zu erreichen, musste ihnen also Analverkehr nachgewiesen werden, weil auch das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts nicht per se verboten war.
Schon am Morgen nach ihrer Festnahme, am 29. April 1870, waren die beiden Männer vom Polizeiarzt Dr. Paul untersucht worden. Dieser war schockiert und entsetzt über ihre angeblich klaffenden Anusse und ihre deformierten und langgestreckten Penisse ("by the gaping anuses and the deformed and elongated penises"), die er als Anzeichen für häufigen Analverkehr bzw. für "sodomitischen Genuss" ("sodomitic indulgence") wertete (s. Neil McKenna: Fanny and Stella. The Young Men Who Shocked Victorian England, 2013, S. 310-315, hier S. 310). Im Prozess gab Dr. Paul an, dass er sein Wissen über die Nachweismöglichkeit von Analverkehr aus dem Buch des französischen Rechtsmediziners Ambroise Tardieu "Etude médico-légale sur les attentats aux mœurs" (1858; Kapitel "Pédérastie" S. 111-174) erlangt habe. Unter dem Titel "Die Vergehen gegen die Sittlichkeit in staatsärztlicher Beziehung" (1860; Kapitel "Päderastie" S. 121-186) ist Tardieus Buch auch in deutscher Sprache erschienen und online verfügbar.

Die beschlagnahmten Frauenkleider als Beweismittel vor Gericht
Boultons Verhältnis zu Lord Arthur Clinton
Im Prozess wurde auch Boultons Verhältnis zu Lord Arthur Clinton (1840-1870) näher beleuchtet, der Abgeordneter der "Liberal Party", Sohn des Herzogs von Newcastle und Patensohn von Premierminister William Gladstone war. Nach Boultons Verhaftung am 28. April 1870 wurde nicht nur Boulton, sondern auch Clinton beschuldigt, homosexuelle Handlungen begangen zu haben. Im Prozess wurde deutlich, dass er und Boulton als Liebespaar angesehen wurden und dass Boulton sogar Visitenkarten mit dem Aufdruck "Mrs. Clinton" besaß. Die Briefe zwischen Clinton und Boulton wurden als Beweismittel im Prozess herangezogen.
Mittlerweile sind einige dieser Liebesbriefe in dem Buch "My Dear Boy. Gay love letters through the centuries" (1998) publiziert worden. Der Herausgeber Rictor Norton zitiert einige dieser Briefe auch auf seiner Homepage und berichtet davon, dass während des Prozesses ein ganzer Tag dafür verwendet wurde, mehr als 1.000 Briefe vorzulesen, von denen die meisten noch in Archiven aufbewahrt werden. Lord Arthur Clinton starb am 18. Juni 1870, einen Tag nach Erhalt seiner Vorladung. Als offizielle Todesursache wurde Scharlach angegeben, heute wird Suizid angenommen. Weil das Verfahren gegen Boulton und Park mit einem Freispruch endete, wäre vermutlich auch Clinton freigesprochen worden. Später gab es Spekulationen darüber, dass er gar nicht tot sei, sondern sich mit Hilfe seiner politischen Verbindungen ins Ausland abgesetzt habe. Jedoch hatte sich eine Frau als Lord Arthur Clinton ausgegeben und auf diese Weise sehr viel Geld erschwindelt, was als Crossdressing-Betrugsfall bezeichnet wurde.

Clinton (sitzend) mit Boulton und Park
Zwei Urteile und zwei Freisprüche
Die Staatsanwaltschaft konnte letztendlich nicht nachweisen, dass Boulton, Park und die anderen Männer Analverkehr und damit eine nach damaligem Recht strafbare Handlung begangen hatten. Auch die Unzuverlässigkeit einiger Zeugen wirkte sich zu Gunsten der Angeklagten aus. Das Gericht schloss sich daher der Strategie der Verteidigung an, alles für eine harmlose Verkleidung und einen Scherz zu halten. Die beiden Männer waren ja nicht in flagranti beim Sex beobachtet worden, sondern an einem öffentlichen Ort, wo sie als Frauen gekleidet waren. Das passe nicht zum üblichen Bild von Homosexualität, die das Licht des Tages scheue, hatten die Verteidiger erklärt. Homosexualität sei schließlich mit Scham verbunden, geschehe heimlich und sei überhaupt eine hässliche Sache. Nach einer mehrtägigen Verhandlung wurden die beiden Männer (vermutlich am 12. Mai 1871) freigesprochen.
Das zweite Gerichtsverfahren – wo es "nur noch" um das Tragen von Frauenkleidung und nicht mehr um homosexuelle Handlungen ging (vermutlich am 12. Juni 1871) – soll nur 53 Minuten gedauert haben und führte ebenfalls zu Freisprüchen.

Ausschnitt aus dem Polizeibericht mit der Mitteilung über die Entscheidung des Gerichts
Die österreichischen Zeitungen über die Verhaftung und das Verhör (1870)
Aus der österreichischen Presse habe ich rund 70 Artikel über Boulton und Park ausgewertet. Die hier in Auswahl wiedergegebenen Artikel gehören zu den ersten Versuchen aus der Zeit der k u. k. Monarchie, gleichzeitig mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches, Homosexualität in der Presse zu thematisieren, und sind daher auch wegen der verwendeten Sprache interessant. Darüber hinaus können sie auch besser als die vorhandene Sekundärliteratur nicht nur die zeitlichen Abläufe, sondern auch die Stimmungen in der Gesellschaft und vor Gericht wiedergeben. Um beide Absätze übersichtlich zu gestalten, habe ich nur die jeweiligen Erscheinungsdaten verlinkt, die mit einem Klick zu den jeweiligen Zeitungen führen. Viele Artikel sind wortgleich in mehreren Zeitungen abgedruckt worden.
Die Zeitungen berichteten, dass Boulton und Park vor dem "Polizeigericht" in der Bow Street wegen "betrügerischer Absicht" verhört worden seien. Vor dem Gericht sei eine Menschenmenge zusammengelaufen, die wohl gehofft habe, dass beide "in Weiberkleidern vorgeführt werden", und sich daher "enttäuscht" gezeigt habe (10. Mai 1870). (Diese Angabe widerspricht der oben wiedergegebenen Zeichnung, die in "The Illustrated Police News" publiziert wurde). Beide Männer hätten zunächst freikommen sollen, weil der Polizeirichter "keine criminellen Anschuldigungen" habe erkennen können, trotzdem seien sie erst einmal in Haft geblieben (17. Mai 1870).
Dann nahm die Voruntersuchung laut den Zeitungsmeldungen einen "ernsteren Charakter" an, es ging nun um ein "Vergehen von kriminellen Handlungen schlimmster Natur" (24. Mai 1870). In einem großen Artikel wird auf den Skandal verwiesen, der nun schon vier Wochen diskutiert werde. Ein Geheimpolizist habe die beiden Angeklagten seit neun Monaten beobachtet und festgestellt, dass sie ein Hotelzimmer bewohnten, wo sie "zahlreiche Männer als Besucher empfingen". Kurz vor ihrer Verhaftung hätten sie einen Ball mit 20 Männern besucht, von denen zehn als Frauen gekleidet gewesen seien. Der Artikel endet mit dem Satz: "Ein reizenderes Damengesicht als das Boultons kann man sich kaum denken" (26. Mai 1870).
Vor Gericht ging es, so die Zeitungen, nun um ein "unnennbares Verbrechen" und um mehr als 2.000 Briefe, von denen die meisten von Boulton an Clinton gerichtet und mit "Stella Clinton" unterschrieben seien. Zwei Ärzte hätten (im Gegensatz zum oben erwähnten Dr. Paul) bei der körperlichen (Rektal-)Untersuchung "keinen abnormen Zustand" vorgefunden. Der Veranstalter eines Balles habe jede "schmutzige Zumutung" zurückgewiesen (2. Juni 1870). Nach der Voruntersuchung seien die Männer wegen "gesetzwidriger Vereinigung und Verlockung zu einem unnatürlichen Verbrechen" angeklagt worden. Eine Kaution habe das Gericht abgelehnt (3. Juni 1870).
In einem großen Artikel wurde sogar betont, dass angesichts dieses Skandals "alle Fragen der inneren und der äußeren Politik zurückstehen" würden. Boulton und Park werde vorgeworfen, dass sie zu "verbrecherischen Zwecken" Frauenkleider getragen und schon seit geraumer Zeit das "böse Spiel gespielt" hätten (5. Juni 1870). Der Prozess werde auf sechs weitere Männer in Frauenkleidern ausgeweitet (13. Juni 1860). Der Mitangeklagte Lord Arthur Clinton sei mit 30 Jahren an Scharlach gestorben, wobei die Zeitungen darauf verwiesen, dass er vorher seine Unschuld betont habe (24. Juni 1870).
Im Juli 1870 wurde berichtet, die "ernstlichere Anschuldigung" sei zurückgezogen, das Verfahren einem kleineren Gericht zugewiesen und die beiden Männer gegen Kaution freigelassen worden (9. Juli 1870), was laut anderen Quellen erst nach dem ersten Prozess im Mai 1871 passierte. Danach fanden die Zeitungen offenbar ein halbes Jahr lang nichts zu diesem Prozess zu berichten.
Die österreichischen Zeitungen über die beiden Prozesse (1871)
Nach dieser Pause wurde der für Februar 1871 anberaumte Prozessbeginn gemeldet (22. Januar 1871) und später, dass das Verfahren gegen die "Pseudo-Frauenzimmer" – das am 9. Mai begonnen hatte – mit deutlicher Verzögerung fortgesetzt werde. Das öffentliche Interesse habe stark abgenommen, auch wenn die Behandlung von 16 seidenen Kleider der Angeklagten noch zu allgemeiner "Heiterkeit" geführt habe (15. Mai 1871).
In einem großen Artikel wurden auch die Zeugenvernehmungen geschildert. Ein Verehrer habe beiden Männern Rosen geschenkt, aber auch betont, dass er beide nicht für "anständige Damen" gehalten habe. Boulton und Clinton hätten in ihrem Umfeld als Ehepaar gegolten und Boulton besitze sogar Visitenkarten als "Mrs. Clinton". Auf einen Kuss mit einem anderen Mann habe Clinton mit "zorniger Eifersucht" reagiert. Ihre Briefe seien zweideutig formuliert und in einigen von ihnen hätten sie sich mit zärtlichsten Formulierungen wie "süßes Herz" und "angebeteter Liebling" angeredet. Clintons Briefe seien später aus amtlicher Verwahrung verschwunden. Selbst der Staatsanwalt habe betont, dass es eine Erleichterung sei, wenn der "furchtbarste Verdacht unbegründet wäre". Weil es nur wenige Indizien dafür gebe, dass der "verbrecherische Zweck thatsächlich in Ausführung gebracht wurde", habe das Urteil (wohl vom 12. Mai) auf Freispruch gelautet. Das Tragen von Frauenkleidern solle Gegenstand in einem späteren Prozess sein (19. Mai 1871).
In dem großen Artikel "Die Mannweiber" wird betont, dass sich die beiden Männer zwar nicht eines Verbrechens (im Sinne von Analverkehr), aber eines "schmachvollen Excesses gegen den öffentlichen Anstand" (durch das Tragen von Frauenkleidern) schuldig gemacht hätten. Wegen des erstgenannten Verbrechens sei es daher nach sechstägiger Verhandlung zu einem Freispruch gekommen (28. Mai 1871). Weil Boulton und Park sich im ersten Prozess zu dem "leichteren Vergehen" des Tragens von Frauenkleidern bekannt hätten, seien sie am 6. Juni 1871 erneut vor Gericht gestellt und – offenbar am selben Tag – ebenfalls freigesprochen worden. Damit habe ein Skandalprozess geendet, "der viele Monate lang London und ganz England in die größte Aufregung versetzte" (11. Juni 1871). Nach einer Meldung vom 7. Juni wurde der zweite Freispruch deshalb erreicht, weil die Angeklagten eine "Bürgschaft für ihr ordentliches Benehmen für die Dauer von zwei Jahren" zahlten (13. Juni 1871).
Ein Jahr später meldete eine Zeitung, das Leben von Boulton und Park habe in Berlin "Beifall und Nachahmung" gefunden: Ein blonder femininer Mann habe sich in Frauenkleidern "ungenirt" in der Öffentlichkeit bewegt. Der Zeitungsautor meinte, vielleicht sei es auch hier nur um Spaß an Verkleidung gegangen, vielleicht aber auch um "verbrecherische Pläne oder Neigungen". Er sei von mehreren Männern gejagt worden, habe sich jedoch in Sicherheit bringen können. Die Zeitung bezeichnete dies als eine "derbe Lektion", die ihm aber "gar nichts schaden" könne (19. August 1872).
Boulton und Park in "Die Sünde von Sodom" (1881)
Das anonym erschienene Buch "The Sins of the Cities of the Plain" (1881) ist eines der ersten Werke homosexueller pornografischer Literatur. Eine verdienstvolle deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel "Die Sünde von Sodom. Erinnerungen eines viktorianischen Strichers" 1995 in der Reihe "Bibliothek rosa Winkel". Aus dieser Ausgabe zitiere ich nachfolgend.
In diesem Roman treten die realen Personen Boulton, Park und Clinton als fiktive Figuren auf. Der Ich-Erzähler Jack Saul, der sich selbst "Miss Eveline" nennt, erzählt, wie er Boulton ("Miss Laura") und Park als Frauen gekleidet auf einem Ball im Haxell's Hotel kennenlernt und später mit ihnen Orgien erlebt. Boulton ist bei diesem Ball als "Lady" gekleidet, und Jack Saul "konnte beobachten, daß Lord Arthur ganz vernarrt in sie war". Während des Balles ziehen sich Boulton und Lord Arthur in Privatgemächer zurück und der Erzähler berichtet, wie er durch ein Schlüsselloch zu einem Verbindungszimmer alles sieht und hört. Clinton zieht Boulton aus und fragt ihn, ob er ein Hermaphrodit sei. Dann werden Oralverkehr und Rimming beschrieben. Clinton "begann einen richtigen Arschfick, bei dem beide zu erkennen gaben, daß sie ihn sehr genossen".
Erst später, als alle Personen wieder zurück im Ballsaal sind, wird dem Ich-Erzähler Boulton auch persönlich vorgestellt. Sie verabreden sich für den nächsten Tag und es kommt mit Boulton und Park zu SM-Spielen und Sex (S. 50-68). Bei einer späteren Orgie mit neu eingestellten Pagen lässt sich Clinton wegen einer anderen Verabredung entschuldigen. Das Vorspiel besteht aus einem Bockspringen von drei nackten und sexuell erregten jungen Pagen, die als "Adonisse" beschrieben werden. Am Ende betont der Erzähler, dass er "niemals zuvor und niemals danach" so erregt gewesen sei (S. 73-80).
Im Nachwort verweist der Übersetzer und Herausgeber Wolfram Setz zu Recht darauf, dass das Buch nicht nur pornografische Literatur, sondern auch eine "erzählende Quelle [ist], aus der wir erfahren, wie homosexuelles Verlangen im viktorianischen England der 1870er Jahre gelebt wurde" (S. 119). Wolfram Setz geht auch auf die Passagen zu Boulton ein (S. 121-130), in denen der pornografische Roman die Handlungen detailliert beschreibt, die das Gericht den beiden Männern in der Realität nicht nachweisen konnte.
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Zum Weiterlesen: "Fanny and Stella" (2013)

Neil McKennas Buch "Fanny and Stella" (2013)
Das nur in englischer Sprache verfügbare Buch von Neil McKenna "Fanny and Stella. The Young Men Who Shocked Victorian England" (2013) geht wesentlich ausführlicher als mein Artikel auf die Hintergründe zum Skandalprozess ein. Auf dem Backcover ist die Polizei-Abbildung (siehe oben) der Verhaftung am 28. April 1870 zu sehen, während der Klappentext den darauf aufbauenden Skandal skizziert. Im Werbetext (Amazon-Affiliate-Link ) heißt es, das Buch mit seinen Politikern, Prostituierten, Dragqueens, Ärzten und Detektiven sei "eine viktorianische Peepshow, die den verblüffenden Unterleib des Londons des 19. Jahrhunderts enthüllt. [Das Buch ist] tragisch und komisch, akribisch recherchiert und schillernd geschrieben".
Leider ist das Buch manchmal wirklich nur eine "Peepshow". Das merkt man zum Beispiel am Titel des Kapitels "Monstrous erections" (S. 88-101), wo es eigentlich nur um die Hochsteckfrisuren von Fanny und Stella geht – also den monströsen Aufbau von gefärbtem und falschem Haar ("monstrous erections of dyed and false hair", S. 96). Wesentlich überzeugender finde ich das Kapitel "Lord Arthur's Wife" (S. 138-147), in dem der Autor beschreibt, wie sich Stella in Lord Arthur Clinton verliebte und zu ihm zog. Leider sind anhand dieses Buches die Handlungsabläufe nur selten klar datierbar.
Eine Ausnahme davon bietet ein Auszug aus der Eröffnungsrede der Staatsanwaltschaft vom 9. Mai 1871, durch die die Angeklagten mit dem Hinweis diskreditiert werden sollten, dass sie sich ihre Hälse puderten und ihre Gesichter schminkten ("powdering their necks, painting their faces", S. 295). Für seine Recherchen hat Neil McKenna zeitgenössische britische Zeitungsberichte ausgewertet und auch die Prozessakten und Briefe eingesehen (S. 361). Auf Youtube schildert Neil McKenna in zwei Interviews, was ihn an dieser Story besonders reizte (8:49 Min.; 3:53 Min.).
Die Theateradaptionen von Lewton (2008) und Chandler (2015)
Die Geschichte von Boulton und Park wurde bisher zwar nicht filmisch umgesetzt, aber zumindest dreimal für das Theater inszeniert. Das erste Theaterstück mit dem Titel "Lord Arthur's Bed" stammt von dem englischen Dramatiker Martin Lewton (Uraufführung: 14. Mai 2008), der die Geschichte einer Lebenspartnerschaft im Jahre 2008 mit Stellas "Ehe" mit Lord Arthur Clinton im Jahre 1868 verwebt. Die Überschrift einer Zeitung aus Brighton "Sexually Explicit Play to be Staged in Church" führte wohl dazu, dass das Stück während seiner gesamten Laufzeit ausverkauft war.
Das zweite Theaterstück mit dem Titel "Fanny and Stella" stammt von dem schottischen Schriftsteller Glenn Chandler (Uraufführung: 15. Mai 2015). Chandler hat die Geschichte von Boulton und Park anhand von Gerichtsakten und zeitgenössischen Berichten aufbereitet und als Musikkomödie inszeniert, womit er die Heuchelei der viktorianischen Gesellschaft spielerisch verspottet. Drei verschiedene kurze Ausschnitte (Youtube: 3:04; 3:10 und 2:43) geben einen guten Eindruck von dieser Musikkomödie.

Eindruck vom Theaterstück von Glenn Chandler (2015)
Die Theateradaption von Bartlett (2016)
Das dritte Theaterstück mit dem Namen "Stella" stammt von Neil Bartlett (Uraufführung: 28. Mai 2016), der vorher in einem Buch über Oscar Wilde auch schon mehrere Seiten zu Boulton und Park publiziert hatte (Neil Bartlett: Who was that man?, 1988/1993, S. XV, 128-143). Bei Youtube gibt es mehrere Interviews, die einen Eindruck von den Theaterproben und davon vermitteln können, für wie aktuell Bartlett das Theaterstück ansieht (Youtube: 2:32 Min., 2:33 Min. und 1:01 Min.). In einem anderen Interview versucht er die Linie radikaler Drag-Performer von der viktorianischen Ära bis heute nachzuzeichnen (Youtube: 4:34 Min.). Dem "Guardian" (18. Mai 2016) gab Bartlett ein Interview, das unter der Überschrift "Gender is a journey, not a destination" (= "Geschlecht ist eine Reise, kein Ziel") erschien. Nach Bartlett betrachten wir geschlechtsspezifische Fluidität als ein modernes Thema, wobei aber gerade die Dokumente zu Boulton ihn daran erinnern, dass Menschen schon immer den Mut hatten, das Geschlecht als ein Experiment anzusehen. Boulton fordere daher – so Bartlett – nicht nur die viktorianischen Werte, sondern auch unsere eigenen zeitgenössischen Vorstellungen über eine geschlechtliche Festlegung heraus.
Was bleibt
Bei den Recherchen zum Prozess gegen Boulton und Park bin ich auf einige Widersprüche unter anderem bei den Datierungen gestoßen. Diese Ungereimtheiten in Detailfragen ändern nichts daran, wie spannend sich die Quellen zum Gerichtsverfahren darstellen. Mir war nicht bewusst, dass auch schon aus der Zeit vor Oscar Wildes Verurteilung wegen Homosexualität in den Zeitungen zwar indirekt, aber ausführlich auf Homosexualität eingegangen wurde. Aus diesem Skandal lässt sich viel darüber lernen, wie die Gesellschaft und die Zeitungen mit einem Gerichtsverfahren umgingen, wenn ihnen im viktorianischen Zeitalter ein perfekter Skandal geliefert wurde.
Spontan würde man den Freispruch wohl als ein Happy End interpretieren, was allerdings zu kurz gegriffen wäre. Im Gegensatz zu Oscar Wilde wurden die Männer zwar nicht verurteilt, ihr bisheriges soziales Leben in London war jedoch trotzdem mit einem Schlag vernichtet. Park zog mit seinem Bruder Harry in die USA und starb dort 1881. Boulton nannte sich fortan "Ernest Byne" und konnte als Damenimitator in New York zum Teil an alte Erfolge anknüpfen. Auch die anderen Angeklagten mussten ihr bisheriges soziales Leben aufgeben. Einige von ihnen sind noch vor dem Prozess ins Ausland geflohen, Lord Arthur Clinton hat sich vermutlich sogar das Leben genommen. Mit einer leicht veränderten Beweislage hätte man auch Boulton und Park für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis gesteckt. Auch mit dem Freispruch vor Gericht ist der Prozess von 1871 keine Erfolgsgeschichte, sondern nur ein kleines Mosaiksteinchen einer schlimmen Verfolgungsgeschichte.
Aus den überlieferten Quellen spricht allerdings auch Selbstbewusstsein und Mut, was diesen Strafrechtsfall in angenehmer Weise von anderen Strafrechtsfällen abhebt. Ich finde es vollkommen richtig, die beiden Männer heute als "Drag-Pioniere" zu feiern; sie jedoch als "frühe Verfechter der Rechte von Homosexuellen" zu bezeichnen, finde ich etwas unpassend und zu vereinnahmend (zu beiden Aspekten s. den Online-Artikel "Celebrating Ernest 'Stella' Boulton: Victorian Drag Pioneer", 2016).
Die Geschichte von Boulton und Park bietet unterschiedliche Formen des Zugangs: Wer sich historisch für ihre Biografien interessiert, muss sie in Bezug zu Londons männlich-homosexueller Subkultur setzen. Dabei spielt das feminine Element eine besondere Rolle und steht in der Tradition der "Molly Houses", ein Begriff, der im England des 18. und 19. Jahrhunderts Treffpunkte für homosexuelle Männer beschrieb und ein besonderes Phänomen von Londons homosexueller Subkultur war.
Einige erkennen hier eine direkte Linie zu den beiden Kunstfiguren Emily und Florence aus der britischen Sketch-Show "Little Britain", die als britische Transvestiten in historisch wirkenden Kostümen ständig "Ich bin eine Lady" rufen.

Emily Howard und Florence in "Little Britain"
Da die Suche nach Selbstverwirklichung zeitlos ist, kann man leicht auch einen persönlichen Zugang finden und sich fragen, was einem selbst die Biografie von Boulton und Park nach 150 Jahren bedeutet. Einen gut nachvollziehbaren privaten Zugang hat Neil Bartlett gefunden, der in dem schon oben zitierten Interview mit dem "Guardian" (18. Mai 2016) betont, dass er zwischen dem Leben von Stella und seinem eigenen Parallelen sieht, weil auch er lernen musste, wie gefährlich es sein kann, Regeln zu missachten. Vor 30 Jahren zog er ein Kleid an, ging auf die Straße und bekam eine Morddrohung. In dieser Nacht schuf er sein Theaterstück "Stella".

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Aber wenigstens hat England aus seiner Geschichte gelernt und ist heute bezüglich LGBTI-Gleichstellung und gesellschaftlicher Akzeptanz eines der fortschrittlichsten Länder.
Deutschland als Land des rosa Winkels weigert sich ja teilweise bis heute aus seiner Geschichte zu lernen und hinkt in vielen Bereichen hinterher.