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Kommentar

Warum Covid-19 nicht HIV ist und Boris Palmer nicht Rita Süssmuth

Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen schockiert mit seinen Aussagen zu Corona-Opfern. Für LGBTI ist der erneute menschenverachtende Tabubruch keine wirkliche Überraschung.


Deutschlands peinlichster Grüner: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer meint, dass die Corona-Beschränkungen vor allem Menschen helfen, die ohnehin bald sterben (Bild: Reinhard Kraasch / wikipedia)
  • Von Paul Schulz
    1. Mai 2020, 10:28h 134 5 Min.

Die Aussagen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer im Sat.1-Frühstücksfernsehen am Dienstag hätten deutlicher nicht ausfallen können: "Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen." Der Grünen-Politiker verband dieses Statement mit einer Forderung nach Lockerung der Corona-Maßnahmen.

Palmer bezog sich dabei auf eine Aussage von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Der hatte angesichts der Einschränkungen von Grundrechten gesagt: "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." Darüber kann man diskutieren. Doch Palmer geht noch einen deutlichen Schritt weiter und scheint das Überleben von alten Menschen oder Personen mit schweren Vorerkrankungen wirtschaftlichen Erwägungen unterzuordnen. Natürlich regnete es Proteste von allen Seiten, auch und besonders aus Palmers eigener Partei, von "brutaler Sprache" und einer "Entgleisung" war zu Recht die Rede. Auch die Frage, warum Palmer überhaupt noch bei den Grünen sei, wurde in sozialen Medien sehr, sehr oft gestellt.

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Sozialdarwinismus mit Sonnenblume

Um die gleich mal zu beantworten: Weil sie ihn bisher nicht rausgeschmissen haben, noch immer nicht. Denn es reicht offenbar nicht, das Leben von Menschen scheinbar in wirtschaftlich sinnvolles und weniger sinnvolles Leben einzuteilen – zusätzlich zu allem anderen, was Boris Palmer in den letzten Jahren so gesagt hat -, um kein Grüner mehr sein zu dürfen. So kann man Palmers Aussage lesen: Ökonomische Leistung und Leistungsfähigkeit als Lebens- und Teilnahmeberechtigung für die bzw. an der Gesamtgesellschaft. Heißt das dann in der aktuellen Situation: Wer eh schon auf dem letzten Loch pfeift, den kann man auch einfach sterben lassen, statt ihn mit wirtschaftlich riskanten Maßnahmen zu retten? Das wäre blanker Sozialdarwinismus, mit Sonnenblume.

Eine Überraschung ist das alles für LGBTI irgendwie nicht. Denn schon 2016 hatte Palmer geschrieben, dass Homosexuelle Heterosexuellen wegen deren höheren Anzahl an Nachkommenschaft mehr Respekt zeigen sollten (queer.de berichtete). Sein Gedanke scheint, damals wie jetzt, sein: Menschen müssen eine wirtschaftliche Leistung erbringen und/oder Kinder zeugen, um gesellschaftliche Teilhabe zu rechtfertigen. Und die, die das tun, haben im Nachgang wohl verdammt nochmal den Respekt der Kinderlosen verdient, zum Beispiel den von Schwulen und Lesben. Dass Zehntausende von Kindern in deutschen Regenbogenfamilien großwerden und es ihnen dort an nichts fehlt, übersah Palmer dabei.

Die Ausgrenzung der "Mehrheitsgesellschaft"

Die bayrischen Grünen verabschiedeten damals eine Resolution, die sich klar positionierte, ohne Palmer namentlich zu erwähnen. "Wir stellen uns jeglichen Tendenzen entgegen, die Lebensformen als weniger vollwertig darstellen, die nicht der sogenannten 'Mehrheitsgesellschaft' (oder einer von den 'meisten Menschen bevorzugten Lebensform') entsprechen", hieß es in dem Beschluss. "Ganz im Gegenteil: Begrifflichkeiten wie die 'der Mehrheitsgesellschaft' und damit de facto Abgrenzungen gegenüber Menschen, die nicht zur Mehrheit gehören, entsprechen nicht unseren grünen Werten" (queer.de berichtete).

Die Grünen stünden "dafür, dass alle so leben können, wie sie wollen, und lieben können, wen sie wollen", heißt es weiter in der Resolution. "Es ist niemals die sexuelle Identität, die darüber entscheidet, wie viel jemand zu den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland beiträgt."

Einst galten HIV-Positive als weniger lebenswert

Es ist auch nicht das Alter oder die Lebenserwartung, die darüber entscheiden sollten, wie wertvoll ein Menschenleben ist, muss man heute ergänzen. Auch wenn es LGBTI gibt, die Palmers Positionen zustimmen. "Wir geben eine Billion EUR aus, um ein paar Tausend Halbtote zu retten. Lächerlich!", schreibt ein bekannter schwuler Publizist aus Berlin am Dienstag auf seinem Facebook-Profil und verlinkt einen Artikel über Palmers Äußerungen. Spätestens jetzt sei eine Parallele zur Aidskrise gezogen: Gerade schwule Männer, die sich heute durch PrEP schützen können oder anderweitig mit gesamtgesellschaftlichen Milliarden finanzierte medizinische Maßnahmen wegen HIV in Anspruch nehmen, sollten Solidarität mit den Corona-Opfern zeigen. Sie stehen aus meiner Sicht sogar in der Pflicht, vergangene Fehler der Mehrheitsgesellschaft nicht zu wiederholen.

Vor nicht ganz 40 Jahren waren es schwule Männer, Drogengebraucher*innen und andere "Randgruppen", die zuerst an Aids erkrankten. Und die man dann massenweise sterben und infiziert sein ließ, während man vielerorts lange nicht auf Wissenschaftler*innen hörte. Das ging überhaupt, weil das Leben der Infizierten und Sterbenden als weniger wertvoll wahrgenommen wurde als das vieler Angehöriger der sogenannten "Mehrheitsgesellschaft". Bayerische Politiker waren damals dafür, HIV-Positive in Heimen "abzusondern" und sahen die Schuld für die Verbreitung von HIV klar bei "den 175ern" und deren Lebensweise. Eine Politik, die sich in Deutschland dank Politiker*innen wie der ehemaligen CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth ("Wir bekämpfen die Erkrankung, nicht die Erkrankten") nicht durchsetzen konnte. Aber wir sind nur knapp daran vorbeigeschlittert.

Der Schutz von Menschenleben steht an erster Stelle

Das Gute: Covid-19 ist nicht HIV, auch wenn die Anfänge der zwei Pandemien der letzten 50 Jahre immer mal wieder miteinander verglichen werden. Auf die Bedrohung durch Corona ist in vielen Ländern der Welt schnell und gründlich reagiert worden, um Menschenleben zu schützen. Auch die von Alten und Menschen mit Vorerkrankungen, zum Beispiel HIV.

Deswegen sind wir in Deutschland jetzt in einer Lage, die wirtschaftlich bedrohlich sein mag, die aber, legt man noch andere Maßstäbe an gesellschaftliches Zusammenleben an als rein wirtschaftliche, uns alle sehr stolz machen sollte. Die Schutzmaßnahmen müssen fortgesetzt und gegebenenfalls ausgebaut werden, auch wenn das viel Geld kostet. Egal was Palmer und Co. so sagen.

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#1 Carsten ACAnonym
  • 01.05.2020, 12:37h
  • Noch zynischer und noch menschenverachtender geht es ja wohl kaum noch.

    Der 30-jährige Asthamtiker, der an Covid-19 gestorben ist, hätte auch mit Asthma noch Jahrzehnte glücklich leben können. Und selbst wenn es nur ein halbes Jahr wäre - auch dann ist dieser Herr Palmer nicht der Herr über Leben und Tod, der zu entscheiden hat, wann Menschen zu sterben haben oder welche Leben zu retten sind und welches Leben nicht der Rettung wert, also "lebensunwürdig" sind.

    Jetzt müssen die Grünen sich wirklich langsam fragen, ob sie so jemanden noch in ihren Reihen dulden wollen. Wenn die Grünen den nicht ausschließen, muss ich davon ausgehen, dass sie diese Meinung in ihren Reihen mindestens tolerieren oder sogar teilen.
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#2 Pink FlamingoAnonym
  • 01.05.2020, 12:44h
  • Nicht bloß arrogant, unverschämt, anmaßend sind seine Äußerungen, sondern obendrein Menschenverachtend. Rausschmiss aus seiner Partei ist jetzt dringend vonnöten. Anders kapiert er es nicht, was er da so vom Zaun redet.
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#3 Taemin
  • 01.05.2020, 12:59h
  • Ja, auch ich bin entsetzt, was zwei Rechtsaußenpolitiker in den letzten Tagen von sich gegeben haben, um zu zeigen, dass sogar rechts von der AfD noch immer Raum ist, in dem man sich äußern kann.

    Wenn Schäuble sagt, nicht die Erhaltung menschlichen Lebens sei oberstes Gebot, dann verstößt er nicht nur gegen die Lehre der Kirchen, der er doch sonst so gerne nahe ist, sondern er verbreitet bösartigen Unsinn, was die von ihm dem Leben als Gegensatz vorangestellte Menschenwürde in ihrem Kern eigentlich ist. Wem das Recht auf Leben abgesprochen wird, dessen Menschenwürde wird in der krassestmöglichen Weise verletzt. Schäuble stellt das Recht, in Kneipen zu gehen, Gottesdienste abzuhalten, Schulen zu besuchen, Museen und Theater zu nutzen, Sport zu treiben, so dar, als summierte sich daraus die Menschenwürde. Das Recht auf Leben, das in Wahrheit jedes andere Recht übersteigt (für den Christen wie für den säkularen Anhänger des Grundgesetzes), ist es aber, ohne das eine Menschenwürde nicht möglich ist. Durch keine der gegenwärtigen Beschrämkunmgen (auch nicht durch deren wirtschaftliche Folgen) gerät irgendjemandes Wüde in Gefahr - jede Würde aber fällt mit dem Tod ihres Trägers. Schäuble verschließt die Augen vor den entsetzlichen Bildern aus anderen Ländern, in denen Menschen mangels medizinischer Ressourcen nicht gerettet werden konnten und können - sie starben und sterben elend. Das ist der Verlust der Würde. Indem Schäuble das Funktionieren der Wirtschaft, des Sports, der Religion usw. usf. für wichtiger erklärt als die rettung von Menschenleben, beweist er einmalmehr, wie wenig er charakterlich für ein öffentliches Amt taugt. Ich bin nie ein Freund von Angela Merkel gewesen, aber ich bin froh, dass jetzt sie im Kanzleramt sitzt, weil Schäuble damals über seine Geldkofferaffäre gestürzt ist.

    Zu Palmer ist eigentlich jedes Wort zu viel. Wer allen Ernstes öffentlich darüber sinniert, dass medizinische Kräfte verschwendet werden, um lebensunwertes Leben (nennen wir das Kind doch beim Namen) zu erhalten, der muss es sich gefallen lassen, dass seine politische Heimat in jenem braunen Sumpf verortet wird, der uns schon mal in den Massenmord geführt hat. Ob man den durch aktives Handeln oder durch Unterlassen ausführt, ist fürs Ergebnis bedeutungslos. Palmer nimmt Alte und Kranke als gesellschaftlichen Ballast wahr und erkennt im Virus die Gelegenheit, ihn günstig loszuwerden. Es gibt in der deutschen Politik keinen Menschen, den ich in gleichem Maße verachte wie ihn; nicht mal Höcke widert mich derart an, uns das heißt was.
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