Es wird momentan darum gebeten, dass wir uns nur mit wenigen Menschen umgeben und hauptsächlich zu Hause aufhalten. Das Leben sollte nur zwischen Sofa, Kühlschrank, Balkon und Badewanne stattfinden.
Für die eher introvertierten Queerlinge unter uns ist das ohnehin der wünschenswerte, sehr unterhaltsame Normalzustand, auch wenn gerade nicht Corona ist. Es können gerade alle viel von ihnen darüber lernen, wie man ein schönes Leben in den eigenen vier Wänden führt und was man da alles so machen kann. Lesen zum Beispiel. Diese Bücher hier, allesamt queere Klassiker, sind besonders gut.
Thomas Mann: Der Tod in Venedig
Einer der großen schwulen Liebesromane der Weltliteratur: "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann
Kann man literarisch wertvoller an der Liebe und Cholera sterben als Gustav von Aschenbach? Wohl kaum. Thomas Manns Klassiker über den Ausbruch einer Seuche in einem seltsam melancholischen Venedig ist einer der großen Liebesromane der Weltliteratur und hat ganze Horden von anderen Künstlern zu Interpretationen und Bearbeitungen angeregt. Tadzio, das Objekt von Aschenbachs Begehren, ist seit vielen Jahrzehnten eine Chiffre für einen bestimmten Typ Mann, an dessen purer Existenz ein anderer Typ Mann leidet und vergeht. Lesen sollte man Manns Meisterwerk aber nicht, weil es so traurig ist, sondern weil hier jemand sprachlich auf der Höhe seiner beachtlichen Kunstfertigkeit erzählt.
Monique Truong: Das Buch vom Salz
Ein Satz aus dem "Alice B. Toklas Cook Book" inspirierte Monique Truong zu ihrem Roman über den vietnamesischen Koch von Gertrude Stein und Alice B. Toklas in Paris. Fünf Jahre hat er als Koch in der berühmten Wohnung in der Rue de Fleurus 27 gelebt, wo Alice B. Toklas und Gertrude Stein die Helden der Lost Generation zum Tee empfangen, hat ihre Rituale und Gewohnheiten beobachtet, ihre Verrücktheiten und ihre Liebe. Monique Truong erzählt in sinnlicher Sprache, intelligent und spannungsreich verwoben, die Geschichte von Binh und den "Steins", sie führt uns zurück zu Binhs Jugend im kolonialen Vietnam, seiner Zeit auf See, seinen Versuchen, in Paris Fuß zu fassen.
Leslie Feinberg: Träume in den erwachenden Morgen – Stone Butch Blues
Buffalo, eine Industriestadt in den Sechzigerjahren. Hier verbringt Jess Goldberg ihre Kindheit und Jugend. Jess ist ein Mädchen, doch sie sieht nicht so aus wie ihre Umwelt sich "Mädchen" vorstellt. Mit 15 hält sie es in ihrem feindlichen Zuhause nicht mehr aus. Sie haut ab. Sie sucht sich einen Job. Die Bar "Abba's" bietet Jess eine Heimat – eine bunte Gemeinschaft von Butches und Femmes, von Huren und Dragqueens, von Schwarzen und Weißen. Eine Gemeinschaft, die recht gefährlich lebt. In den brutalen Razzien der Polizei erreicht der gesellschaftliche Hass auf alle, die anders sind, seinen Höhepunkt. Überleben erfordert stete Wachsamkeit, Stärke und Mut. Rückhalt findet Jess in ihrer Community. Und bei ihrer großen Liebe: Theresa. Feinbergs autobiografisch gefärbter Roman wurde bei seinem Erscheinen vor fast 30 Jahren mit jedem LGBTI-Literaturpreis ausgezeichnet, der zu haben war, wunderbar poetisch erzählt er von einem Leben einer Figur, die man in der Rückschau und aus heutiger Perspektive anders sieht als bei der ersten Lektüre. Wiederlesen lohnt sich!
Larry Kramer: Schwuchteln
Kramers Debüt war bei seinem Erscheinen ein absoluter, nicht nur literarischer Skandal. Denn hier packte jemand aus, darüber, wie schwule Männer in Großstädten rund um die Welt damals, Ende der späten Siebziger, wirklich lebten: Sex, Drugs and Disco! Rasant und radikal, zynisch und zärtlich, wütend und unglaublich witzig führt uns Kramer durch diese fantastische und doch so unverkennbar vom Leben inspirierte Geschichte. Die von Fred Lemish erzählt, der inmitten dieses urbanen Bacchanals auf der Suche nach der großen Liebe ist. Edmund White, ein anderer schwuler Literatur-Star der damaligen Zeit, sprach nach Erscheinen von "Schwuchteln" nie wieder mit Kramer, weil der "alle unsere Geheimnisse" verraten hatte. Stimmt. Es wurde Zeit! "Schwuchteln" liest sich heute, neben all dem offensichtlichen Amüsement auch wie ein großer, saftig melancholischer Abgesang auf die Zeit, bevor HIV das Leben schwuler Männer radikal veränderte.
Sarah Waters: Die Muschelöffnerin
Waters' Roman "Die Muschelöffnerin" ist ein fesselnder, vielschichtig-erotischer Liebesroman, spielt in den wilden 1890er-Jahren und erzählt von Nancy Astleys schillernder, künstlerischer Karriere. Als Kind arbeitet sie als Muschelöffnerin im elterlichen Austernrestaurant an der Küste von Kent. Zu ihren wenigen Vergnügungen zählen die Besuche in der Music Hall im nahegelegenen Canterbury. Dort sieht sie eines Tages die "Herrendarstellerin" Kitty Butler auf der Bühne – und ist hingerissen! Die junge Künstlerin lässt sich auf Nancys verliebte Schwärmerei ein und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihr. Nancy folgt Kitty nach London. Bald schon stehen die beiden als Duo in Männerkleidern auf der Bühne und feiern Triumphe. Mit ihrem Debütroman etablierte sich Waters vor 25 Jahren gleich mal als vielleicht größtes, queeres literarisches Talent ihrer Generation: So sinnlich, saftig und mit so viel sprachlichem Können war noch nie von lesbischer Liebe erzählt worden. Das Buch wurde ein Welterfolg, und viele weitere großartige Romane folgten. "Gentleman Jack" wäre ohne Waters nicht denkbar.
Jeffrey Eugenides: Middlesex
Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis: "Middlesex" von Jeffrey Eugenides erzählt die Lebensgeschichte eines intergeschlechtlichen Menschen
Calliope/Cal Stephanides, die intergeschlechtliche Hauptfigur von "Middlesex", erzählt in dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman von Jeffrey Euginides ihre Lebens- und Familiengeschichte. "Middlesex" gilt, völlig berechtigt, als eines der besten Bücher der letzten 20 Jahre. Die Erzählung über "Die Reise eines Gens durch die Zeit" strotzt vor blutwarmen Figuren, Humor, weltumfassendem Verständnis für Besonderheiten und allgemeines Nichtverstehen. Und liest sich, trotz der beachtlichen Länge, in einem freudestrahlenden, genussreichen Rutsch weg. Man fiebert mit, lernt eine Menge, lacht ausführlich und kann, wenn man das will, auch ein bisschen Flennen vor Freude über so viel literarisches Können. Die Verfilmung als Serie ist angekündigt, und die einzige Frage, die wir dazu haben, ist: Warum hat das so lange gedauert?. Denn "Middlesex" ist ein absolut filmreifes Buch.
Chinelo Okparanta: Unter den Udala Bäumen
Die Coming-out-Geschichte des Mädchens Ijeoma beginnt 1968, ein Jahr nach Beginn des Biafra-Kriegs in Nigeria. In den Kriegswirren wird die Elfjährige von ihrer Mutter zu Freunden der Familie geschickt, wo sie Amina kennenlernt, die wie sie alleine ist. Zwischen Ijeoma, einer christlichen Igbo, und Amina, einer muslimischen Hausa, beginnt eine Freundschaft, die zur Leidenschaft wird. Als ihre Beziehung entdeckt wird, lernt Ijeoma einen Teil von sich zu verleugnen. Chinelo Okparantas großer Roman ist einer der ganz wenigen, die von lesbischem Leben auf dem afrikanischen Kontinent erzählen, eine hinreißende Liebesgeschichte und eine nötige literarische Entdeckung für das queere deutsche Publikum.
E.M. Forster: Maurice
Forsters Roman wurde 1913/14 geschrieben, aber erst nach seinem Tod 1971 veröffentlicht. Und es brauchte weitere 18 Jahre, bevor er auf Deutsch erschien. "Maurice" ist "einem glücklichen Jahr" gewidmet und erzählt die schwule Entwicklungsgeschichte des Titelhelden im spätviktorianischen England. Er verliebt sich in einen Mit-Studenten, unterzieht sich einer Therapie, die ihn von seiner "Widernatürlichkeit" heilen soll, und findet schließlich das Glück in den Armen eines jungen Wildhüters. Forster schrieb, dass das Happy End in der damaligen Zeit zwar nicht plausibel erscheine, er habe aber nicht gewollt, dass der Romanheld scheitere. Was einer der Gründe war, warum das Buch so lange nicht erscheinen konnte. Trotzdem geschieht das Ganze auf einem literarischen Niveau, das Forsters berühmtesten Romanen "Zimmer mit Aussicht" und "Auf der Suche nach Indien" in nichts nachsteht. "Maurice" macht glücklich, immer noch und immer wieder.
Michael Cunningham: Ein Zuhause am Ende der Welt
Ja, "Die Stunden" ist Michael Cunninghams großer Welterfolg, den man auch gelesen haben sollte. Aber "Ein Zuhause am Ende der Welt", den deutsche Leser*innen 1994 als "Fünf Meilen von Woodstock" entdeckten, ist in der Rückschau das interessantere Buch, weil es, von fluider Sexualität über Polyamorie bis zu HIV und alleinerziehenden Müttern soviel vorausahnt, unaufgeregt mit erzählt und einfach so sein lässt wie es ist. Jonathan und Bobby sind Freunde seit ihrer Kindheit. Einer liebt den anderen. In New York begegnen sie der exzentrischen Clare, die sich zu beiden Männern hingezogen fühlt. Als sie ein Kind von Bobby erwartet, ziehen die drei gemeinsam aufs Land, in ein altes Farmhaus ganz in der Nähe des legendären Woodstock. Das Buch ist so zart und mächtig, so widersprüchlich und schlüssig und erzählt die flirrenden Sommer von New York und die eiskalten Winter von Woodstock so poetisch, dass man sich vom Ende immer wieder liebevoll das Herz brechen lässt. Was auch passiert, wenn man weiß, was kommt. So gut ist nur Cunningham.
Alice Walker: Die Farbe Lila
"Die Farbe Lila", das ist Celies Geschichte. Die Geschichte einer jungen Schwarzen, die von ihrem Vater jahrelang vergewaltigt und zu einer Ehe mit einem Mann gezwungen wurde, den sie nicht liebt. Aufgeschrieben in ihren verzweifelten Briefen an Gott. "Die Farbe Lila" hat Millionen Menschen zu Tränen gerührt. Und, ganz nebenbei, die Geschichte einer Frau, die ihre Liebe zu Frauen entdeckt. Es ist Alice Walkers bekanntestes und beliebtestes Buch. Wer es liest, merkt schnell warum. Denn "Die Farbe Lila" erzählt, wie Celie es schafft, zu sich selbst zu finden, Stärke zu entwickeln und ihren eigenen Weg in ein neues Leben zu gehen. Das angefüllt ist von der Magie, die jemand erfährt, der weiß, wer er ist und was das für sie und andere bedeutet.
Noch ein Hinweis: Die queeren Buchläden sind ein unersetzbarer Teil der Community in Deutschland und bieten während der Corona-Krise versandkostenfreie Lieferung bis zur Wohnungstür an. Kauft eure Bücher bitte dort, auch online, um sie zu unterstützen. Es darf gehamstert werden – zum Beispiel bei Eisenherz.
Ich möchte als schwuler Buchhändler (1977-2017) nur davon warnen, Bücher als "queer" zu bezeichnen oder gar als "schwule Klassiker", die von Bedürfnissen und Begegnungen handeln, die von irgendwelchen Menschen in ganz bestimmten Situationen gemacht worden sind!
Dazu gehört auch der Tod in Venedig! (1911) Siehe dazu das interessante Buch von Bartholomae: Aschenbachs Vermächtnis... (Männerschwarm 2019)
Auch das Buch von Oscar Wilde: Bildnis des Dorian Gray (1891) ist ein kein "schwuler Roman", das war mir schon 1970 klar, als ich ihn - auf Empfehlung - mit 20 Jahren gelesen hatte.
Es gilt, diese Literaturen in ihrem historisch-kulturellen Zusammenhang sehen zu können. Die Geschichten können nicht einfach im Heute gelesen und rück-interpretiert werden.
Europäische/weisse Schwule konnten zwar in fremden Kulturen "etwas schwules/homosexuelles" für sich finden, hatten aber keinen Zugang zur "exotischen Männerliebe" am jeweiligen Ort! *
Ich habe in vielen Jahren auch festgestellt, dass Migranten ihre Herkunftskultur verdrängten und nur im Exil ihre Homosexualität leben konnten. (Das ist bis heute zum grossen Teil so)
Elisabeth Badinter (*1928) wies auf die Konstellation von Mutter und Knabe hin (Y Chromosom), der quasi aus der Fremde (meine Sicht) kommt und im gleichen Geschlecht endlich "zuhause" ankommen kann. Während Mädchen von "zuhause" kommen und dann "zuhause bleiben" beim eigenen Geschlecht. Solche Sichtweisen gehen im heutigen "Queersein" völlig unter.
* Es gibt Beispiele aus Italien und Afrika in alten Zeitschriften.
Zum Schluss weise ich auf Sarah Schulman hin, eine frauenliebende Autorin, bei der ich andere Zugänge als zu "klassischer Lesbenliteratur" gefunden habe. (dt. Argument, 90er)