Es hätte alles ganz einfach sein können. Zum Beispiel so:
Vor langer, langer Zeit in einem Land, dessen Einwohnern es gut ging, sie mussten nicht hungern, hatten große Freiheiten und die Idee im Kopf, dass alle von ihnen die gleichen Rechte hätten, waren es die Menschen gewohnt, ihrer Wege zu gehen und zu tun und zu sagen, was immer sie wollten. Während die Menschen in dem Land dachten, dies würde ewig so weitergehen, kam eines dunklen Tages aus dem fernen, großen Osten ein Dämon in das Land spaziert, der zwar fast unsichtbar, aber dafür umso gefährlicher war und den die Menschen mit Erschauern in den Stimmen den Sarscov nannten. Als der Sarscov das Land wie aus dem Nichts heraus überfiel und nicht wenige Menschen durch ihn zu Tode kamen, flüchteten die Menschen in ihre Häuser, um dem Dämon nicht zu begegnen, auch wenn sie ihn gar nicht gesehen hätten, wenn sie ihm begegnet wären. So kam es, dass die Menschen in dem Land kaum noch mitbekamen, was draußen vor ihrer Haustür geschah.
Zu der Zeit aber ereignete es sich, dass ein Wesen auf die Welt kam, zwar schon bei Geburt viel, viel größer als der grausame Dämon, aber doch auch sehr klein und unscheinbar. Dieses Wesen sah seltsam aus. Es bestand aus vielen weißen, übereinanderliegenden hauchdünnen Schichten, auf denen sich schwarze Linien, Punkte und Striche befanden. Um diese Schichten herum hatte es eine knallrote Außenhaut, auf der der Name des Wesens stand: "So gerade / nicht", was ein sehr seltsamer Name für ein Neugeborenes ist. Das Wesen hatte aber noch einen zweiten Namen, sogar einen doppelten, seinen Nachnamen, der ebenfalls auf seiner knallroten Außenhaut stand: "Queere Lyrik" hieß es und damit war in seinem Namen ein Wort enthalten, mit dem auch einige der Menschen in dem Land wie auch in allen anderen Ländern, die es auf der Welt gab, sich selbst bezeichneten und von anderen bezeichnet wurden.
So wussten denn die Menschen in dem Land, das neugeborene Wesen einzuordnen und wenn sie ihm, was wegen ihrer Flucht in ihre Häuser bei der Heimsuchung des grausamen Dämons Sarscov nicht geschah, begegnet wären, hätten sie gewusst, was zu tun ist: Die meisten wären einfach weitergegangen, ohne das Neugeborene irgendwie zu beachten, einige wären an seiner Wiege stehen geblieben und hätten gesagt "So etwas braucht man hier nicht", und einige sehr wenige hätten sich über die Geburt des Wesens gefreut.
Heftige Diskussionen wie aus dem Nichts
So einfach hätte alles laufen können – lief es aber nur beinah. Denn schon in der pränatalen Phase, aber auch mitten im Geburtsvorgang und postnatal löste das kleine, seltsame Wesen wie aus dem Nichts immer wieder kleine, aber heftige Diskussionen aus, die um Fragen kreisten wie etwa: Braucht man heutzutage überhaupt noch queere Lyrik, wenn doch Schwule und Lesben hierzulande sogar heiraten und Kinder kriegen dürfen? Ist nicht eigentlich jede (echte) Lyrik queer? Ist diese queere Lyrik eigentlich "richtig queer"; verfolgt sie einen queeren Feminismus, der sich durch alles, Denken, Sprechen, Handeln, den gesamten gesellschaftlich-politischen Bezug hindurchzieht? Steht hinter der zur Schau gestellten Existenz von queerer Lyrik nicht eigentlich nur eine Show, wie überhaupt bei dem meisten, was heute als queer bezeichnet wird, und steckt nicht hinter dieser vermeintlich bunten Show im Grunde die ganz große, lahme Biederkeit? Geht es hier vielleicht knapp kaschiert nur um ziemlich seltsamen Sex?
Zu Diskussionen, besser gesagt kleinen Schlagabtauschen, über derlei Fragen kam es wie gesagt vor, während und nach der Geburt des kleinen Wesens immer wieder, und so löste das kleine Wesen mit dem merkwürdigen Vornamen "So gerade / nicht" und dem Nachnamen "Queere Lyrik" bei mir als einem seiner Väter (es gab mehrere davon, wie auch mehrere Mütter) die große Frage aus: Was ist eigentlich queer? Und weiß ich eigentlich, ob ich queer bin? Bisher dachte ich nämlich immer, ich wäre das auch. Aber wenn ich das dachte, habe ich mich dann überhaupt richtig verstanden oder habe ich mich vielleicht fundamental geirrt? Wer bin ich?
Was ehemals ganz einfach schien, wurde nun plötzlich zu einer schwierigen Kiste.
Fünf Versuche einer Definition
Der von Stefan Hölscher herausgegebene Lyrikband "So gerade / nicht" ist im Geest-Verlag erschienen
Nachdem ich ein paar Mal tief Luft geholt hatte, versuchte ich mich zu sortieren. Eigentlich versuchte ich zu sortieren, welche verschiedenen, mit dem kleinen Wörtchen "queer" verbundenen Vorstellungen mir hier immer wieder begegneten bzw. mehr oder weniger charmant um die Ohren gehauen wurden. Ich kam auf mindestens fünf:
Queer 1: abartig. Ein Schimpfwort für Lesben, Schwule und andere, die nicht in das Bild traditioneller Geschlechterrollen und -identitäten passen. Findet sich auch heutzutage gar nicht so selten. Motto: "Ich habe ja nichts gegen Lesben, Schwule und diese anderen, aber sie tauchen jetzt einfach viel zu oft auf."
Queer 2: fundamental gegen den Strich gebürstet. Es geht um das, was den Anspruch erhebt, Konventionen in Denken, Sprechen und Tun grundsätzlich zu durchbrechen und die Dinge gänzlich anders wahrzunehmen, zu denken und zu fassen. Motto: "Das Normale ist das Eingeengte und Falsche."
Queer 3: radikal feministisch. In der Tradition des Kampfes gegen Ungleichbehandlung der Geschlechter stehend ist damit heute meist ein Queerfeminismus verbunden: die Forderung einer grundlegenden Veränderung einer nicht nur in ihren Geschlechtsrollen, sondern in ihren grundsätzlichen Wertausrichtungen als durch männlich-patriarchalische Prinzipien geprägten Welt hin zu einer solchen, in der weiblich-feministische Werte zählen. Queer 3 lässt sich als eine Art Spezialität von queer 2, mit dem es sich auch ganz gerne verbündet, betrachten. Motto: "An feministischen Wesen soll die Welt genesen."
Queer 4: nicht hetero oder cis. Bezieht sich auf Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bi- oder asexuell, aber auch als inter- oder transgeschlechtlich verstehen, also nicht heterosexuell oder nicht cisgeschlechtlich. Der häufig als vereinfachendes Synonym für LSBTTIQ+ gebrauchte Begriff wird dabei meistens nicht bloß so deskriptiv verwendet wie er zunächst klingen mag. Motto: "Es ist schon ziemlich geil, nicht einfach hetero zu sein."
Queer 5: vermeintlich schräg. Die Vorstellung, dass es Queerness vielleicht früher bei einzelnen Menschen, die "wirklich queer" waren, mal gegeben hat, dass sich unter dem kecken Deckmantel dieses Worts heute aber vor allem oberflächliche und im Kern lahme Inszenierungen verbergen. Queer 5 paart sich bisweilen auch mit Queer 2, denn weil es das wirklich richtig Schräge nur in der guten alten Zeit ab und an mal gegeben hat, ist eben heute leider alles fad, was schräg zu sein vorgibt. Motto: "Das ist nur eine aufgesetzte Attitude hinter modernem Spießertum."
Die andere Meinung ist immer queerverkehrt
Puh, das ist nun wirklich insgesamt nicht zu unbunt und sicher noch nicht einmal vollständig, geschweige denn irgendwie korrekt wiedergegeben. Zwischendurch in den immer wieder hochkochenden Diskussionen über diese Dinge und Begriffe mit recht unterschiedlichen Zeitgenoss*innen habe ich öfter mal gedacht: Wie wäre es, liebe Leute, wenn es euch schon so unendlich schwerfällt, andere Auffassungen von queer leben zu lassen, wenn ihr einfach im Sinne guter Diskussionskultur zumindest mal sagt, von welchem Queer-Begriff ihr persönlich jetzt gerade ausgeht? Das aber war natürlich naiv gedacht, denn zwar lässt sich offenbar eine ganze Batterie von verschiedenen Bedeutungen dieses kleinen Wörtchens finden, aber jede*r, sagen wir mal, Diskursteilnehmer*in, hat für sich offenbar nur eine einzige Version. Und das ist die richtige, und zwar die wirklich einzig richtige. Alles andere ist queerverkehrt. Was es dann auch wieder einfacher macht, zumindest für jede*n einzelne*n. Nicht unbedingt aber, wenn man aufeinandertrifft.
Und an dieser Stelle zeigt sich ja vielleicht auch eine der segensreichen Seiten des Wütens des bösen Dämons Sarscov, der uns dazu bringt, dass wir, soweit irgend möglich (!), alle in unseren Wohnzimmern bleiben. Jede*r für sich mit den eigenen richtigen Vorstellungen. In ungestörter Ruhe und (Selbst-)Zufriedenheit.
Aber im Ernst: Ob ich mich nun durch das Auseinanderdröseln von Queer 1-5 wieder einigermaßen selbst sortiert bekommen habe, weiß ich gar nicht so genau. Ich würde immer noch sagen: Ich bin queer und meine damit gar nichts Böses. Ich meine, ich bin nicht hetero und möchte es auch nicht unbedingt sein. Ich mag es bunt: bei Menschen, Gedichten und Begriffen. Und finde, dass ganz vieles, so unterschiedlich, wie es/sie/er sein mag, seine*ihre Berechtigung haben kann.
Ein verdichteter Ausdruck von all dem, was ich fühle
Als queerer Mensch fühle ich mich in Deutschland, wo ich lebe, auch durchaus frei und zufrieden. Vieles kann sich noch verbessern, aber ich warte nicht auf die Revolution, verstecke mich aber auch nicht auf dem Sofa. Ich weiß, dass es Menschen wie mir hier wirklich nicht immer so gut ging (mir selbst auch nicht zu jeder Zeit), und dass sehr viele Menschen, die ich als queer bezeichnen würde, an vielen Orten dieser Welt unterdrückt und verfolgt werden. Die Verbundenheit, die ich zu diesen Menschen spüre, kann ich gar nicht abstreifen. Und will es auch nicht.
Deswegen mag ich persönlich auch Wesen, die sich "queere Lyrik" nennen. Denn sie sind für mich ein verdichteter Ausdruck von all dem, was auch ich fühle und worum es auch mir geht. Und bunt und unterschiedlich sind sie auch. Ich freue mich, wenn sie geboren werden und ein gutes Leben führen in einer Gesellschaft, in der sich auch andere freuen, dass es sie gibt.
Um die große Frage, was eigentlich wirklich richtig queer ist und ob ich das am Ende des Tages wohl auch bin oder nur ein bisschen oder ganz und gar nicht, drücke ich mich bei alledem ja vielleicht herum. Daher tut es dann sehr gut, immer mal wieder jemanden zu treffen, der einem das deutlich sagt.