Motiv der Kampagne "Operation Libero"
Die Schweiz steht kurz vor der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, lässt aber noch etwas länger auf sich warten. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge entschied der Nationalrat am Mittwochnachmittag, die vor der Mittagspause begonnene Debatte zur Ehe-Öffnung nach dieser nicht mehr aufzunehmen, sondern auf einen noch unbestimmten Zeitpunkt zu vertagen. Grund sei eine dringliche Beratung über Corona-Nachtragskredite, die bereits am Donnerstag im Ständerat, also der Versammlung der Kantone, aufgegriffen werden soll.
Die lange erwartete Abstimmung zur Ehe für alle hätte ursprünglich bereits am 17. März stattfinden sollen, war aber wegen der Corona-Krise verschoben worden. Derzeit tagt das Plenum vorübergehend in der Bernexpo. Nationalratspräsidentin Moret sagte Mittwochnachmittag gegenüber Medien, man versuche, die Vorlage noch in dieser Parlamentssaison weiter zu beraten. Sie geht bis zum 19. Juni.
Das Parlament in seiner Notunterkunft
Den ursprünglichen Gesetzentwurf hatte die Grünliberale Fraktion bereits im Dezember 2013 in das Parlament eingebracht. Danach wurde viel beraten und gezögert. Der Rechtsausschuss riet später mehrheitlich dazu, den Schritt nicht wie ursprünglich vorgesehen per Verfassungsänderung zu gehen, sondern per einfachem Gesetz. Zugleich empfahl er, die Ehe-Öffnung in Etappen durch Weglassung besonders umstrittener Punkte, etwa zur Hinterbliebenenrente umzusetzen, und im letzten Herbst schließlich in seiner letzten Version des Gesetzentwurfs, bei Frauenpaaren auf eine gemeinsame Elternschaft ab Geburt und auf einen Zugang zu künstlicher Befruchtung zu verzichten (queer.de berichtete). Der Bundesrat, also die Regierung, schloss sich dem Kompromiss Ende Januar 2020 an.
Mehrheit in Politik und Gesellschaft vorhanden
Nach den letzten Wahlen im Oktober 2019 haben Befürworter einer kompletten Ehe-Öffnung samt Samenspende für lesbische Paare – SP, Grüne, FDP und Grünliberale – allerdings im Nationalrat eine Mehrheit. Die CVP plädiert mehrheitlich für den Kompromiss aus den Ausschüssen samt dem allgemeinen Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, während die SVP die Ehe-Öffnung ablehnt.
"Die Paare in der Schweiz warten auf uns", sagte der grüne Nationalrat Beat Flach zum Einstieg der Debatte am Mittwochmorgen. Er verwies darauf, wieviele Länder alleine während der Beratung in der Schweiz bereits die Ehe geöffnet hatten. Yves Nidegger von der Schweizerischen Volkspartei sprach hingegen von einem "Staatsstreich", da mit mehreren Schritten zur Ehe-Öffnung mögliche Volksentscheide verhindert werden sollten, es mit der Lebenspartnerschaft bereits quasi die Ehe für alle gebe und homosexuelle Elternschaft nicht der Biologie entspreche. Sein Kollege Pirmin Schwander forderte eine ausführliche Debatte über eine Verfassungsänderung, während weitere Parlamentarierinnen der Fraktion in Zwischenfragen eine Diskriminierung von Kindern ausmachten, sollte die Ehe geöffnet werden.
Das Gesetz habe durchaus das Kindeswohl im Blick, betonte SP-Nationalrätin Tamara Funicello, indem es Regenbogenfamilien rechtlich absichere. Auch CVP-Nationalrat Vincent Maitre meinte, dass Studien zeigten, dass Kinder in Regenbogenfamilien keine Nachteile hätten: "Auf solche gesellschaftlichen Veränderungen muss man reagieren". Christoph Eymann von der FDP forderte, auch lesbische Paare sollten Zugang zur Samenspende haben und dafür nicht ins Ausland müssen.
Nach rund einer Stunde Debatte ging es dann in die Mittagspause und danach halt um Corona-Hilfen. Die Organisation Pink Corss nannte die erneute Verzögerung "enttäuschend": "Wir fordern, dass die #Ehefüralle noch in der aktuellen Session behandelt wird! Die Bevölkerung wartet – und wir als Community sowieso."
Paare könnten noch bis 2021 warten müssen
Nach dem Nationalrat muss sich noch der Ständerat, die Kammer der Kantone, in seiner Herbst- oder Wintersession mit der Vorlage beschäftigen. Wird dort eine unterschiedliche Version des Gesetzes bevorzugt, kommt es zu einer Art Vermittlungsausschuss. Zu dem endgültigen Ergebnis könnten Gegner der Ehe-Öffnung noch ein Referendum erzwingen, wenn sie innerhalb von drei Monaten mindestens 50.000 Unterschriften sammeln. Laut SRF hat die kleine evangelikale Partei EDU bereits einen entsprechenden Schritt beschlossen. Aktuellen Umfragen zufolge lehnen allerdings nur knapp unter 20 Prozent der Bevölkerung die Ehe für alle ab, bei Hinzunahme der Samenspende rund 30 Prozent.
Bislang dürfen sich Schwule und Lesben in der Schweiz nur verpartnern – nach dem 2007 in Kraft getretenen Partnerschaftsgesetz, das nur eingeschränkte Rechte vorsieht. So ist ihnen bisher etwa nur die Adoption leiblicher Kinder des gleichgeschlechtlichen Partners oder der gleichgeschlechtlichen Partnerin erlaubt. Durch die Ehe für alle würde die Eingetragene Partnerschaft für die Zukunft abgeschafft; wie in Deutschland könnten bestehende Lebenspartnerschaften in eine Ehe umgewandelt werden oder existierten mit bisherigen Rechten und Pflichten weiter.