Während vor dem Reichstagsgebäude hunderte LGBTI-Aktivist*innen für ein Selbstbestimmungsrecht für Trans- und Intersexuelle demonstrierten, debattierte der Deutsche Bundestag am Freitagnachmittag erneut eine halbe Stunde über die stockende Reform des Transsexuellenrechts. Konkret ging es um drei Anträge der demokratischen Oppositionsfraktionen: FDP (PDF) und Grüne (PDF) haben eigene Gesetzentwürfe eingebracht, die beide gleichermaßen von Trans-Aktivst*innen gelobt worden sind.
Beide Fraktionen fordern die Abschaffung des Transsexuellengesetzes und die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes (Grüne) bzw. eines Gesetzes zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung (FDP) für Inter- und Transmenschen. Die Entwürfe sehen unter anderem vor, die Namens- und Personenstandsänderung einfacher zu machen und von Trans-Organisation als schikanierend kritisierte Zwangsgutachten ersatzlos abzuschaffen.
Außerdem brachte die Linksfraktion den Antrag "Aufarbeiten, Entschuldigen und Entschädigen" (PDF) ein. Dieser sieht vor, "begangenes Unrecht" aufzuarbeiten – und zwar durch Entschädigungen an trans- und intergeschlechtliche Menschen, an denen fremdbestimmte normangleichende Genitaloperationen durchgeführt wurden.
Twitter / ChangeGER | Vor dem Reichstag unterstützten Demonstrant*innen die Anträge der Opposition
Bereits letztes Jahr war die Bundesregierung mit einer Reform des inzwischen fast 40 Jahre alten Transsexuellengesetzes gescheitert. Die damalige sozialdemokratische Justizministerin Katharina Barley hatte im Mai 2019 zwar einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Er wurde aber von LGBTI-Organisationen einhellig verrissen, weil darin keine Selbstbestimmung vorgesehen war (queer.de berichtete). Selbst SPDqueer bezeichnete den Entwurf der eigenen Parteifreundin als "missraten" (queer.de berichtete). Daraufhin verlor die Große Koalition vorerst das Interesse am Thema (queer.de berichtete).
"Würde und Freiheit" eingefordert
Der Grünenpolitiker Sven Lehmann versuchte als erster Redner, dieses Interesse bei den Regierungsfraktionen wieder zu wecken. Der Kölner Abgeordnete erklärte, das völlig veraltete Transsexuellengesetz "verletzt Würde und Freiheit". Denn wegen der geforderten zwei Sachverständigengutachten würden Transmenschen mit extrem intimen Fragen traktiert, obwohl sie doch das Recht hätten, selbst über ihren Körper und ihre Identität bestimmen zu können. "Trans und Inter sind nicht krank, krank ist ein Gesetz, das Menschen für krank erklärt, die nur in Freiheit und Würde leben wollen", so Lehmann.

Der Christdemokrat Marc Henrichmann stoppte den Enthusiasmus: Zwar sei das Transsexuellengesetz "überarbeitungsbedürfig", der Begriff der Selbstbestimmung sei aber in den Anträgen "überdehnt" worden. Denn Geschlecht sei für den Gesetzgeber "nicht irgendwas", sondern bestimme Rechte, Pflichten und familiäre Zuordnung. Dafür brauche es "objektive Kriterien". Die Entwürfe seien daher "fahrlässig, vielleicht sogar in Teilen gefährlich", weil möglicherweise Menschen, die ihr Geschlecht ändern wollten, diese Entscheidung später bereuten.

Henrichmann sprach von einer "hohen Fallquote von sogenannten Reueentscheidungen". Gerichtliche Gutachten seien daher wichtig. Der Staat habe in dieser Frage auch eine Schutzfunktion.
Entsetzen über "Menschenverachtung" bei AfD-Rede
Als nächste Rednerin setzte die AfD-Politikerin Beatrix von Storch auf brutale Konfrontation: Sie sprach bei dem Grünenentwurf von "spätrömischer Dekadenz", machte sich über die Anliegen von Transmenschen mehrfach lustig, hetzte gegen "Gender-Ideologie" und warnte – wie in AfD-Reden üblich – vor einem möglichen Missbrauch durch Ausländer: Wenn dieses Gesetz auch für Asylbewerber gelte, könnten diese einfach zu "Asylbewerberinnen" werden und damit "auch beim Frauenschwimmen teilnehmen". Ein Vergewaltiger könne sich zudem zur Frau erklären, um ins Frauengefängnis zu kommen.
Außerdem gebe es Wichtigeres, als über Transsexuellenrechte zu sprechen: "Deutschland hat echte Probleme. Um die werden wir uns kümmern." Bereits im Vorfeld hatte von Storch die Forderungen der demokratischen Opposition als "Gender-Gaga" verhöhnt (queer.de berichtete).
Sichtlich schockiert warf im Anschluss der SPD-Politiker Karl-Heinz Brunner der AfD-Politikerin angesichts ihrer Rede "Menschenverachtung" vor. Der queerpolitische Sprecher seiner Fraktion appellierte an seine Kolleg*innen, eine Reform zu beschließen, bevor das Bundesverfassungsgericht das gesamte Transsexuellengesetz für verfassungswidrig erklärt. Daher müsse man über die Gesetzentwürfe von FDP und Grünen ernsthaft diskutieren. Zum Linkenantrag erklärte der Neu-Ulmer: "Chapeau – der Antrag ist gut." Er hoffe auf gute Beratungen.

FDP an Regierung: "Schreiben Sie entweder ab oder stimmen Sie uns zu"
Der FDP-Politiker Jens Brandenburg erzählte als nächster Redner zunächst die Geschichte einer transgeschlechtlichen Lehrerin Mitte 50, die er kürzlich getroffen habe. Sie habe ihm berichtet, dass sie sich nach Jahrzehnten des Versteckspiels geoutet habe. Für sie sei die Transition ein "großer Befreiungsschlag" gewesen. Statt Suizidgedanken habe sie "ausgesprochene Fröhlichkeit" empfunden. Dann wurde er persönlich und erinnerte an sein eigenes Coming-out als schwuler Mann – bei Transmenschen koste ein Coming-out aber weit mehr Mut. Dennoch, so bedauerte Brandenburg, "gängelt" der Staat diese Menschen. "Das ist demütigend und überflüssig", so der Liberale. Er plädiere daher für die Befreiung von Fremdbestimmung und appellierte an die Regierungsfraktionen, sich den Entwurf seiner Fraktion zu Herzen zu nehmen. "Schreiben Sie entweder ab oder stimmen Sie uns zu", so seine Forderung.

Anschließend erinnerte Doris Achelwilm von der Linksfraktion daran, dass Transmenschen zu den "am stärksten diskriminierten Mitgliedern unserer Gesellschaft" gehörten. Egal ob in Familie oder im Job – ein Coming-out sei oft mit vielen Problemen verbunden. Hinzu komme das "schikanöse" Transsexuellengesetz. Ihrer Meinung nach spreche nichts gegen eine Vereinfachung und gegen Selbstbestimmung. Wichtig sei ihr außerdem die Aufarbeitung von Unrecht – sie erinnerte daran, dass Transsexuelle ihren Wunsch auf Anerkennung früher hoch bezahlen mussten – bis 2008 war eine erzwungene Scheidung möglich, bis 2011 sogar eine erzwungene Sterilisation. Beide Punkte wurden nicht vom Gesetzgeber abgeschafft, vielmehr hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass diese Regelungen verfassungswidrig seien. Sie nannte Schweden als Vorbild: Bereits 2016 hatte das skandinavische Land eine Entschädigung von Opfern der Zwangssterilisation beschlossen (queer.de berichtete). "Auf diese Idee hätte die Bundesregierung auch schon kommen können", so Achelwilm.

CSU-Politiker lobt Linkenantrag und tadelt AfD
Die Debatte wurde beendet von drei Redner*innen der Regierungskoalition: Der CSU-Politiker Paul Lehrieder aus Gaukönigshofen bei Würzburg erklärte, dass dies keine einfache Debatte sei. Er wünsche Transmenschen Kraft, ihren Weg zu gehen, und attestierte mit Blick auf die AfD-Vorrednerin: "Es ist nicht so, wie Frau Storch sagt." Im Antrag der Linken seien "viele gute Gedanken drin" und er hoffe, dass das Problem ohne "parteipolitisches Gezänk" angegangen werden könne.
SPD: Wir könnten uns mit FDP, Grünen und Linken "fix" einigen
Die Sozialdemokratin Susann Rüthrich erinnerte daran, wie lange bereits über das Thema diskutiert worden sei. "Aber der Fortschritt ist schon manchmal echt 'ne Schnecke", so die Sächsin. Dabei könnten sich FDP, Grüne und Linke mit ihrer SPD "fix einigen", andere müssten sich einen Ruck geben, so Rüthrich mit Blick auf den Koalitionspartner.
Twitter / bv_trans | Trans-Aktivisten fordern ein umfassendes Selbstbestimmungsrecht für geschlechtliche Minderheiten
Als letzte Rednerin erklärte auch Bettina Margarethe Wiesmann von der CDU, dass eine Reform "überfällig" sei. Es gehe schließlich um das "Zu-sich-selbst-Kommen eines Menschen". Die Frankfurterin beharrte aber auf der Position ihrer Partei, dass eine Selbsterklärung nicht ausreiche. Dafür stellte sie in Aussicht, dass eine "einfache Bestätigung" eines Arztes künftig genug sein könnte. Zudem versprach sie, dass die Bundesregierung "bald" einen überarbeiteten Gesetzentwurf vorlegen werde.
Die drei Anträge werden nun in Bundestagsausschüssen weiter diskutiert werden.