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#FreeBekzat
Wie Corona ein schwules Paar auf der Flucht trennte
Bekzat Mukashev wollte aus Kasachstan vor seiner Familie fliehen, die seine Homosexualität mit einer Gehirn-Operation "heilen" wollte. Dann schlossen wegen Covid-19 die Grenzen.

Bekzat (l.) und Arman in glücklicheren Tagen
- 5. Juli 2020, 16:33h 6 Min.
Im Februar sah es fast so aus, als hätten Arman Hasanov und Bekzat Mukashev es geschafft: Das schwule Paar aus Kasachstan war mit Hilfe des russischen LGBT Network nach Moskau geflohen, von wo aus es in ein sicheres Drittland gebracht hätte werden sollen – so wie der Verband in den letzten Jahren schon über hundert Menschen vor allem aus Tschetschenien bei einer Flucht nach Kanada oder in die EU mittels humanitärem Visum helfen konnte.
Doch Mukashev benötigte noch ein Ausweisdokument, kehrte in die Heimat zurück – und saß dort plötzlich wegen der Schließung der Grenzen aufgrund der Corona-Krise fest. Inzwischen sind sich das LGBT Network in einer Pressemitteilung und die Zeitung "Nowaja Gaseta" in einem Bericht sicher: Mitte Juni spürte seine Familie Mukashev auf und entführte ihn. #FreeBekzat fordert sein verzweifelter Partner in sozialen Netzwerken. Dafür nahm er es sogar auf sich, sich in einem zur viralen Verbreitung gedachten Video zu outen.
Der Albtraum begann den Berichten zufolge im letzten Jahr, als sich der 29-jährige Bekzat, der seine Homosexualität lange geheim hielt, bei seiner Familie outete. Der einzige Sohn eines einflussreichen Unternehmers und regionalen Politikers aus Uralsk war eine Woche zuvor auf Druck der Familie eine Ehe eingegangen, aber hatte schon Arman kennengelernt und wollte nicht weiter eine Lüge leben.
Albtraum ohne Ende
Die Reaktionen auf das Coming-out, von dem Paar erstmals im Februar gegenüber dem queeren Portal Kok.team aus Kasachstan geschildert, waren noch erdrückender als befürchtet: Bekzats Mutter bot Arman Geld, damit dieser verschwinde. Seine jüngere Schwester betonte, dass der Islam Homosexualität als falsch und mit dem Tode bestrafbar ansehe, um zu meinen: "Wir können helfen, dass du davon abkommst". Als Bekzat einen Besuch beim Psychiater ablehnte, habe ihn sein Vater bewusstlos geschlagen. Im Krankenhaus habe die Familie sein Telefon und seine Papiere entwendet.
Bekzat floh den Berichten zufolge zu Freunden von Arman in eine andere Stadt, schrieb einen Brief an seine Eltern – und erhielt Drohungen zurück. Sie spürten ihn auf, offenbar unter Hilfe der Behörden, bei denen er neue Papiere beantragt hatte, und brachten ihn nach Hause. Dort wurde er mit seiner Frau praktisch eingesperrt, eingeschüchtert und gezwungen, seine Ersparnisse dem Vater zu übertragen. Bekzat konnte erneut fliehen und erhielt erneut Bedrohungen, etwa, dass die Familie Auftragsmörder auf das Paar ansetzen würde, sollte er nicht zurückkehren. Dann bekam Bekzat einen Brief, die Mutter habe Krebs und bitte ihn, einer Untersuchung in einem Moskauer Krankenhaus beizuwohnen.

Bekzat mit seinem Vater, der um seinen Ruf und seine Ehre fürchtet (Bild: privat)
Zur Neurochirurgie gezwungen
In Moskau stellte sich allerdings schnell heraus, dass der Krebs der Mutter erfunden war und die Familie in Wirklichkeit Bekzat zu einer Operation zwingen wollte. 2015 war er mit einer Flüssigkeitsansammlung im Gehirn diagnostiziert worden. In der Überzeugung, das sei für die Homosexualität verantwortlich, boten die Eltern Moskauer Ärzten Geld für eine Operation – diese lehnten ab. Zum einen gebe es keinen Zusammenhang zu Homosexualität, zum anderen sei die Operation medizinisch nicht notwendig, sondern gefährde ihn eher.
Bekzat kehrte nach Kasachstan zurück und wurde in einer gemeinsamen Wohnung mit seinem Freund wieder ausfindig gemacht. Schließlich brachten ihn die Eltern in die kasachische Hauptstadt Nur-Sultan (Astana), wo Ärzte ohne seine Zustimmung überflüssige Flüssigkeit aus seinem Hirn entfernten. Auch einen Mullah und einen Psychologen setzen sie auf ihn an – der Gelehrte betete mit ihm, meldete aber zurück, keinerlei "Dämonen" gefunden zu haben. Der Psychologe sagte den Eltern, dass Homosexualität keine Krankheit sei und sie ihren Sohn akzeptieren sollten. Die Eltern stellten einen bewaffneten Aufpasser für ihn ein.
Flucht nach Moskau
Bekzat konnte dennoch fliehen, stellte Strafanzeige gegen seinen Vater und gab zusammen mit seinem Partner verzweifelt Interviews über ihre Lage. In ihrer internationalen Vernetzung organisierten LGBTI-Aktivist*innen schließlich die Flucht nach Moskau, wo das LGBT Network ihnen im Februar zunächst Unterschlupf bot.
Der russische Verband ist derzeit weltweit in den Schlagzeilen: Der Film "Welcome to Chechnya", der dokumentiert, wie mutige und selbstlose Aktivist*innen des Networks verfolgten LGBTI und ihren Familien bei der Flucht aus Tschetschenien behilflich sind, hatte in dieser Woche im amerikanischen HBO und bei der britischen BBC Premiere. Einer der Helfer, David Isteev, sagte der "Gaseta" zu Bekzat und Arman: "Wir planten, sie von Russland aus nach Europa zu bringen." Auch in Moskau hätten sie weiter Bedrohungen erhalten und seien nicht sicher gewesen.
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Doch während zur Einreise nach Russland ein Personalausweis ausreichte, benötigte Bekzat für Europa einen Pass. Die Botschaft Kasachstans sagte ihm, dass eine Ausstellung aus der Ferne bis zu sechs Monate benötige, er vor Ort die Dokumente aber binnen Tage erhalten könne. Anfang März reiste er nach Almaty. Seine Familie hatte ihn als vermisst zur Fahndung ausgeschrieben, was die Ausstellung der Papiere verzögerte. Als Ende März alles geklärt war, waren die Grenzen geschlossen.
Videos unter Druck
Bekzat kam zunächst verdeckt bei Freunden unter, die teilweise zu Verhören einbestellt wurden, und erhielt wie sie weiter Bedrohungen. Am 13. Juni kam er nicht von einem Einkauf zurück.
Er wurde aufgespürt und wieder entführt, sind LGBTI-Aktivisten und "Gaseta" überzeugt. Aus seiner Wohnung schickte er Videos an Journalisten und Aktivisten mit der Bitte, nicht mehr über ihn zu berichten und nicht mehr nach ihm zu suchen. Auf die Vermutung, die Filme seien unter Druck entstanden, wurde ein weiteres Video in einem Einkaufszentrum aufgenommen – als vermeintlicher Beweis für seine Bewegungsfreiheit und seinen freien Willen.
Twitter / novaya_gazeta | "Wir wissen, dass das Video unter Druck von Verwandten gedreht wurde", schreibt die "Gaseta", , . , . pic.twitter.com/FtSq7qZZc8
(@novaya_gazeta) June 25, 2020
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Nach Rücksprache mit seinem Partner und Aktivist*innen entschied sich die Zeitung zur Veröffentlichung des Videos. Man gehe weiter davon aus, dass Bekzat gegen seinen Willen festgehalten werde, so David Isteev vom LGBT Network. Ein Instagram-Kanal, in dem Bekzat bei Spaziergängen gezeigt wird und u.a. von einer Rehabilitierung nach einer Operation erzählt, wird ebenfalls als erzwungen eingeschätzt. In Almaty engagierte man einen Anwalt, schaltete Menschenrechtsorganisationen ein und stellte Strafanzeige. Die Polizei werde aber nicht tätig, wohl auch unter dem Einfluss des Vaters.
Ein Fall von vielen
Anatoly Chernousov von Kok.team sagte der "Gaseta", es gebe in Kasachstan dutzende Fälle wie diesen. Über ein spezielles Kontaktformular meldeten sich jeden Monat um die zehn Menschen und viele kreuzten an: "Ich werde von Verwandten unter Druck gesetzt", oder: "Sie halten mich unter Zwang fest und ich kann das Haus nicht verlassen." Normalerweise sei die Familie der Anlaufpunkt bei Krisen. "Hier ist die Familie die größte Bedrohung für LGBT-Menschen." Die Polizei lehne oft Hilfe ab, wenn das Opfer schwul oder lesbisch sei. Kürzlich sei ein Mann vergewaltigt und fast getötet worden, so Chernousov. Die Beamten hätten ihm von einer Anzeige mit den Worten "Warum willst du dich entehren?" abgeraten.
Twitter / MaximEristaviThis story is batshit crazy, but I guarantee this isn't an isolated example of how #Covid19 lockdown wrecks queer lives all over the world.
Maksym Eristavi (@MaximEristavi) July 3, 2020
Maximize amplifying this Bekzat is still in captivity and needs a rescue mission#FreeBekzat https://t.co/PJW69Q8Viq
Auf Instagram postet Arman derweil weiter Videos aus glücklichen Tagen des Paares. Sein erster viraler Hilferuf zu seinem Freund stammt vom 22. Juni, die "Gaseta" berichtete am 25., aus dem Netzwerk von "Radio Free Europe" folgte an diesem Dienstag eine englische Zusammenfassung und am Mittwoch veröffentlichte noch einmal das russische Portal meduza eine eigene Recherche. Geholfen hat das bislang wenig: Arman sitzt weiter in einer Notunterkunft des LGBT Network in Moskau und hofft weiter auf eine Rückkehr des Freundes.
Twitter / meduzaproject, « ». , , « ». . https://t.co/stEA5m11eQ
Meduza (@meduzaproject) July 1, 2020
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In Kasachstan gelten noch immer stark eingeschränkte Ein- und Ausreisemöglichkeiten; nach leichten Lockerungen in den letzten Wochen kehrt das Land an diesem Sonntag zudem zu einem strikteren Lockdown zurück. (nb)

Links zum Thema:
» Deutsches Spendenkonto für die Arbeit des russ. LGBT Network
Mehr zum Thema:
» Kasachstan: Gesetz gegen Homo-"Propaganda" gestoppt (28.05.2015)
Wie können Eltern gesellschaftliche Vorstellungen nur so über die Gefühle ihres eigenen Nachwuchses stellen? Und offenbar sogar über die Einschätzung von Medizinern, Psychologen und einem Imam. Sie sollten nie wieder behaupten, sie liebten ihren Sohn.
Um spinnerten Kommentaren vorzubeugen: Aus zahlreichen erschütternden Artikeln auf queer.de wissen wir, dass es solche kranken Eltern in vielen Ländern und Religionen gibt. Das entschuldigt und relativiert keine einzige Tat. Aber es enthüllt die Ursachen: mangelnde individuelle Empathie, falsche Ehrvorstellungen, eine homophobe Gesellschaft.