Malgorzata (Margot) S. (r.) mit Mitstreiterin bei einem CSD im letzten Jahr (Bild: Stop Bzdurom)
Zu Update springen: Gericht lässt Aktivistin frei, Staatsanwaltschaft ermittelt weiter (15:30h / 19:40h)
In Polen herrschte am Dienstag in sozialen Netzwerken große Sorge um eine LGBTI-Aktivistin: Malgorzata S. sei demnach in der Wohnung einer Bekannten in Warschau von Zivilpolizisten festgenommen und regelrecht verschleppt worden. Beamte hätten sich nicht ausgewiesen, keine Gründe für die Inhaftierung angegeben und auch nicht erläutert, wohin die Aktivistin der Gruppe "Stop Bzdurom" (Stoppt den Unsinn) in einem Auto ohne Kennzeichen gebracht werden sollte.
S. sei in Handschellen ohne Schuhe und angemessener Bekleidung in das Auto gezerrt worden, berichtete eine Mitbewohnerin. Für Stunden herrschte über ihren Verbleib Unklarheit; von der Wiederwahl des Präsidenten Andrzej Duda nach einem extrem LGBTI-feindlichen Wahlkampf verunsicherte queere Organisationen schlugen Alarm. Auch in Deutschland wurden entsprechende besorgte Einträge am Dienstag über eine quasi grundlose "Entführung" viel geteilt – und dabei von polnischen LGBTI-Nutzern durchaus debattierte mögliche Hintergründe der Festnahme überlesen.
Schließlich konnten zwei linke Parlamentsabgeordnete aufklären, dass die Aktivistin zu einer Befragung bei der Bezirksstaatsanwaltschaft gebracht worden war und dabei rechtsanwaltlichen Beistand hatte. Für Mittwoch sei demnach ein Gerichtstermin zu einer möglichen Untersuchungshaft angesetzt. Die Festnahme zuvor habe sie "an die Jahre stalinistischen Terrors" erinnert, sagte die Abgeordnete Hanna Gill-Piatek (Wiosna), "in denen Menschen ohne Grund und ohne Informationen aus ihren Häusern gezogen wurden".
Vandalismus gegen Hassbus
Von der Art der Festnahme abgesehen, wird das Ermittlungsverfahren an sich von polnischen Medien allerdings zunächst allgemein als legitim eingeschätzt: Sie berichten, die Festnahme stehe vermutlich mit einem Fall von Vandalismus zusammen, in dessen direkten Verlauf S. bereits kurzfristig festgenommen worden sei. Am 27. Juni hatten offenbar Aktivist*innen ihres queer-anarchistischen Kollektivs einen anti-queeren Hassbus auf einer Straße der Hauptstadt gestoppt. Dabei wurden Spiegel zerbrochen, Nummernschilder entwendet, Reifen durchstochen und die großformatigen Hassplakate zerstört und stattdessen "Stop Bzdurom" auf die Fläche angebracht. Bei dem Vorfall, zu dem die herbeigerufene Polizei auch anhand von Videomaterial Ermittlungen begann, kam es zudem zu Handgreiflichkeiten zwischen dem Fahrer, den Aktivist*innen und Passant*innen.
Von "Stop Bzdurom" gepostetes Bild des Busses nach dem Vorfall
Bilder des angegriffenen Busses postete "Stop Bzdurom" auf der Facebook-Seite der Gruppe, S. posierte auf einem später veröffentlichten Foto mit einem der Nummernschilder. Die Seite bietet Bilder von friedlichen Aktionen, etwa von einer von der Gruppe organisierten Kundgebung vor wenigen Wochen vor dem Präsidentenpalast. Andere Bilder zeigen weitere Vandalismus-Angriffe auf den Hassbus oder den Bus zu einem späteren Termin offenbar unter Polizeischutz mit Anmerkungen wie "A.C.A.B" und #DefundThePolice.
In sozialen Netzwerken wurde die Polizeiaktion kontrovers diskutiert: Viele queere Nutzer*innen kritisierten die Art der Festnahme, zeigten sich aber nicht überrascht über die Ermittlungen und betonten, Sachbeschädigungen oder mögliche körperliche Angriffe abzulehnen. Einige debattierten die Aktion als zumindest teilweise verständliche Gegenwehr gegen einen Bus mit extremen Hassbotschaften, einige begrüßten sie. Dass der Bus seit Monaten trotz Strafanzeigen ungestört durch die Straßen fahren könne, stößt allgemein auf Unverständnis und Wut.
Der geduldete Hass
In den Vorwochen hatten Bürger den Bus mehrfach durch eine Autoblockade friedlich gestoppt (queer.de berichtete), er fuhr schon seit Wochen im Wahlkampf durch polnische Städte und warnte in volksverhetzenden Transparenten und Lautsprecher-Durchsagen vor der "LGBT-Lobby", die etwa "kleinen Kindern Masturbation beibringen" wolle. Der Bus im Rahmen einer irreführend "Stop Pedofilii" genannten Kampagne gehört wie ähnlich krass-plakative Aktionen gegen Abtreibung zur Organisation "Fundacja Pro" unter Mitwirkung des ultrakatholischen Instituts "Ordo Iuris". Im letzten Jahr tauchten anti-queere LKWs der Organisation in vielen Städten auf, wenn dort der CSD stattfand – auch in Bialystok, als es zu schweren Ausschreitungen gegen den ersten Pride kam (queer.de berichtete).
Bei den Pride-Gegenprotesten sammelte die Organisation Unterschriften für eine selbst formulierte Gesetzesinitiative, die in der Praxis jegliche Sexualaufklärung an Schulen, in Medien oder durch Vertrauenspersonen unter Strafe stellen würde. Verkauft wird das als Gesetz gegen "Pädophilie", zugleich betont die Webseite der Organisation, Zweck sei "Schutz der Kinder gegen sexuelle Gewalt durch LGBT-Aktivisten und Verhinderung der sexuellen Promiskuität junger Menschen". Es sei schließlich ein "Mittel der LGBT-Lobby für politische Zwecke", Kinder per Sexualerziehung an Homosexualität zu "gewöhnen". Im April hatte das Parlament mit Regierungsmehrheit dafür gestimmt, den Entwurf für diese polnische Version eines "Homo-Propaganda"-Gesetzes nicht abzulehnen, sondern nach der ersten Lesung erneut in die Ausschüsse zu schicken (queer.de berichtete).
Bus von "Stop Pedofilii" im letzten Sommer
"Ordo Iuris" ist zunehmend politisch und juristisch aktiv, vertritt etwa Kommunen, die teilweise von "Ordo Iuris" vorbereitete Resolutionen gegen "LGBT-Ideologie" verabschiedeten, gegen Aktivist*innen, die das als "LGBT-freie Zone" zusammenfassen. Zuletzt sorgte für Aufsehen, dass die Polizei in Kattowitz auf Druck von "Ordo Iuris" mehrere Studierende ohne Angabe von Gründen zu einem Verhör einbestellt und unter Druck gesetzt hatte. Ihr "Vergehen": Sie hatten sich über eine homophobe Professorin beschwert, was zu einem Disziplinarverfahren führte (queer.de berichtete). Die Ermittlungen gegen die Studierenden wurden inzwischen eingestellt.
Derweil arbeitet die deutsche homo- und transfeindliche Bewegung "Demo für alle", die selbst Hassbus-Touren durchführte, inzwischen offiziell mit "Ordo Iuris" zusammen. Die Organisation von Hedwig von Beverfoerde ist deutscher Partner einer vor wenigen Tagen gestarteten Online-Petition unter dem Titel "Stop Gender" gegen die Annahme der "Istanbul-Konvention" durch die EU: Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wird dabei als "Gender-Ideologie" beschrieben, die etwa dazu führe, dass Kindern im Unterricht "ohne Einwilligung ihrer Eltern die Forderungen und Ideen der LGBT-Aktivisten (…) aufgezwungen werden können". Offiziell unterstützt wird die Petition auch von der Publizistin Gabriele Kuby.
Der wirre Hass von "Ordo Iuris" wird in Deutschland von der "Demo für alle" weitergetragen
Update 15.25h: Staatsanwaltschaft wirft Aktivistin Hooliganismus vor
Die Staatsanwaltschaft hat gegenüber Journalisten bekannt gegeben, dass sie der Aktivistin S. im Zusammenhang mit dem Angriff auf den Bus vom 27. Juni aktive Beteiligung an einer Ausschreitung mit wissentlicher gemeinschaftlicher Gewaltausübung sowie Sachbeschädigung, Körperverletzung und Einschüchterung vorwirft. Für die einzelnen Taten sind maximale Freiheitsstrafen zwischen zwei und fünf Jahren vorgesehen. Die Behörde bewertet die Tat zudem als Hooliganismus, was zu einer Erhöhung des vom Gericht zu berücksichtigen Strafrahmens führen würde.
Aufgrund von Flucht- und Verdunkelungsgefahr werde ein Antrag auf Untersuchungshaft gestellt. S. habe gegenüber der Staatsanwaltschaft keine Fragen beantwortet und keine Angaben gemacht, ob sie sich schuldig bekenne. Die Verdächtige habe öffentlich und aus einem trivialen Grund gehandelt und dabei eine eklatante Missachtung der Rechtsordnung gezeigt.
Die Staatsanwaltschaft wirft der Verdächtigen, von den Behörden unter Bezug auf Ausweisdokumente mit männlichem Pronomen und Vornamen benannt, konkret vor, während der Ausschreitung im Einvernehmen mit anderen Personen den Renault Master beschädigt zu haben, indem Reifen und Leinwand zerschnitten, der Spiegel zerbrochen, das Nummernschild abgelöst, die Rückfahrkamera beschädigt und das Fahrzeug mit Farbe beschmutzt wurde. Der Schaden werde auf rund 1.370 Euro beziffert
S. habe zudem während des Vorfalls den Fahrer des Wagens auf dem Bürgersteig umgeworfen, wodurch dieser Verletzungen am Rücken und am linken Handgelenk erlitt. Auch habe sie Gewalt angewendet und ihn gestoßen, um ihn vom Filmen der Ereignisse abzuhalten.
Update 19.40h: Gericht lässt Aktivistin frei
Das zuständige Bezirksgericht lehnte am Nachmittag den Antrag auf eine dreimonatige Untersuchungshaft ab und entließ die S. gegen eine Kautionsauflage und Meldeplichten auf einer Polizeiwache. Die Staatsanwaltschaft ermittelt weiter und kündigte Berufung gegen die Gerichtsentscheidung an.
Polen wird hoffentlich schnell vor die EU-Gerichtsbarkeit gestellt.