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Stuttgart
"Liebe Menschen!" – Der Kampf um geschlechtergerechte Sprache
Weiblich? Männlich? Weder noch? Auch im Stuttgarter Rathaus soll die Sprache sensibler werden. Das Gender-Sternchen ist nicht die einzige Neuerung. Stirbt die Anrede "Sehr geehrte Damen und Herren" bald aus?
- Von Nico Pointner, dpa
4. August 2020, 14:29h 3 Min.
Eigentlich wollte Ursula Matschke ihren ersten Urlaubstag am Comer See genießen. Doch jetzt klingelt ständig das Telefon in der Lombardei. Immer wieder rufen Journalist*innen an. Es geht um das Gender-Sternchen, um die richtige Anrede, um "Sprachpolizist*innen". Es geht um Männer und Frauen und alles, was es eben noch so gibt. Und um die Frage, was Wörter mit einer Gesellschaft machen. Ursula Matschke hebt tapfer immer wieder ab – auch, um sich zur Wehr zur setzen. "Ich bin keine Sprachpolizistin", sagt die 64-Jährige.
Nein, eigentlich ist Matschke Leiterin der Abteilung Chancengleichheit und Diversity bei der Stadt Stuttgart. Sie wird angerufen, weil sie vor ihrem Urlaub gemeinsam mit dem städtischen Arbeitskreis LSBTTIQ die Gemeindedrucksacke 277/2020 erarbeitet hat. Hinweise auf zehn Seiten zur "Umsetzung der geschlechtersensiblen Sprache" für die Stadtverwaltung. Damit soll die Sprache im Stuttgarter Rathaus gerechter mit Blick auf die Geschlechter werden. Betroffen ist der gesamte Schriftverkehr – von E-Mails über Broschüren bis zu Drucksachen und Formularen. Beispiele:
- Das Gender-Sternchen (Politiker*innen) soll nun alle Geschlechter und Identitäten sichtbar machen.
- Rollen-Klischees sollen künftig vermieden werden – so soll statt "Mutter-Kind-Parkplatz" lieber der Begriff "Familienparkplatz" verwendet werden, statt "Mädchenname" lieber "Geburtsname".
- Der Leitfaden empfiehlt als Alternative zur Anrede "Sehr geehrte Damen und Herren" geschlechterneutrale Formulierungen wie "Sehr geehrte Teilnehmende" oder "Liebe Menschen".
Die Handreiche hat nur Empfehlungscharakter. Trotzdem regt sich Protest. "Da muss man sich schon fragen, ob wir keine anderen Sorgen haben", sagt etwa die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). "Ich hätte mir gewünscht, dass Fritz Kuhn sich mit der gleichen Verve um die Sicherheit und die Beleuchtung am Eckensee gekümmert hätte wie um die Frage, ob man die Anrede verändern soll", sagte sie mit Blick auf den grünen Oberbürgermeister und die Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt.

Ministerin Susanne Eisenmann soll nächstes Jahr als CDU-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl Ministerpräsident Kretschmann herausfordern (Bild: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg)
Selbst Kuhns Parteikollege Winfried Kretschmann zog vor wenigen Tagen über "Sprachpolizisten" her – allerdings unabhängig von den Gender-Regeln der Stadt (queer.de berichtete). "Jeder soll noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist", sagte der Ministerpräsident. Ihm falle es nicht leicht, stets die weibliche Form zu nennen, wenn er etwa von Polizisten und Polizistinnen spreche.
Mehr als nur Mann und Frau
Für die Stadt Stuttgart gibt es aber mehr als Mann und Frau. In städtischen Formularen, in denen das Geschlecht abgefragt wird, sollen künftig neben den Feldern "weiblich", "männlich" auch die Optionen "divers" und "ohne Angabe" angeboten werden. Bei Abfrage der Anrede stehen künftig "Frau", "Herr", "Guten Tag + Vorname und Nachname" oder nur "Guten Tag" zur Auswahl.
Stimmt ab! Nach dem Aus für ?Sehr geehrte Damen und Herren? geht es nun auch dem Mutter-Kind-Parkplatz an den Kragen!…
Gepostet von FDP Baden-Württemberg am Dienstag, 4. August 2020
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Immer mehr Kommunen veröffentlichen solche Leitfäden. In Hannover, München oder Kiel gibt es bereits Regeln für geschlechtersensible Sprache. Eine Landeshauptstadt müsse da Vorbild sein, sagt Ursula Matschke. Seit 2001 setzt sie sich in der Schwabenmetropole für Gleichstellung ein. Sie wundert sich nicht mehr über Beschwerden und wütende Kommentare. "Es ist schon ein bisschen ein Reizthema, so wie sexistische Werbung", sagt sie. Gesellschaftliche Veränderungen gefielen eben nicht allen. Man mache aber weder die Sprache kaputt noch wolle man den Leuten irgendetwas verbieten. "Aber ich muss schon aufpassen, was ich sage und wen ich damit verletze." Sprache sei eben ein "wichtiger Seismograph für die Einstellung".
Inwieweit ein Sternchen mitten im Wort für ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen in der Sprache sorgen kann, mag umstritten sein. Aber es gebe eben eine kleine Gruppe, die einfach gehört werden wolle, sagt Matschke. Denen will man nun mehr Sichtbarkeit verschaffen – und sei es durch ein kleines Sternchen.

Auch die AfD, für die sogar das Autobahn-"Fahrbahnende" ein "Gender-Wahnsinn" ist, macht wie gewohnt Stimmung gegen Geschlechtergerechtigkeit















