Zu Updates springen: Fast 50 Festnahmen, Volker Beck fordert Handeln der Bundesregierung, Verband: "Wir sind bereit für das polnische Stonewall", Soli-Protest in Berlin am So.
(mehrfach aktualisiert) Ein Warschauer Gericht hat am Freitag eine zweimonatige Untersuchungshaft für die queerfeministische Aktivistin Malgorzata S. (Spitzname Margot) angeordnet. Damit reagierte es auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft, nachdem die Vorinstanz Mitte Juli die Prozedur zunächst abgelehnt hatte.
Die Aktivistin der Gruppe "Stop Bzdurom" (Stoppt den Unsinn) sollte am Nachmittag nach Absprachen zwischen allen Seiten an ihrem Aufenthaltsort in den Büros der "Kampagne gegen Homophobie" verhaftet werden. Vor den Büros versammelten sich hunderte Menschen und skandierten: "Wir geben Margot nicht her". Letztlich entschied sich die Polizei gegen eine Verhaftung im Beisein der protestierenden, aber friedlichen Masse, obwohl sich die Aktivistin kooperativ zeigte und die Hände für Handschellen rausstreckte (s. hier nicht einbettbares Video bei Facebook). Ein Polizeisprecher sagte gegenüber Medien, dass die in Verantwortung der Staatsanwaltschaft durchzuführende Verhaftung nachgeholt werde. Dazu kam es dann auch wenig später.
Die Menge samt S. machte sich von dem Büro zu einem Protestmarsch in die Innenstadt auf. An der Heilig-Kreuz-Kirche-Basilika, Ort eines früheren "Stop Bzdurom"-Protests (s.u.), wurde die Aktivistin dann in einen schwarzen Wagen hinein verhaftet, es folgten einzelne Rangeleien von Aktivisten mit der Polizei und ein Sitzstreik. Nach vielleicht einer halben Stunde löste die Polizei die Sitzblockade dann offenbar ohne Vorankündigung teils mit Gewalt auf, um den Weg für den Wagen freizuräumen, mit der die Aktivistin letztlich weggebracht wurde. Beim Freiräumen des Weges kam es offenbar auch zu Festnahmen.
Nachdem einige LGBTI und Unterstützende weiter protestierten, räumte die Polizei in den folgenden Stunden nach und nach die Straße, eine der populärsten in Warschau, und sperrte sie teilweise ab. Dabei wurden offenbar mehrfach einzelne Personen weggeführt, einige festgenommen. Laut einer Schätzung von onet.pl am späten Abend könnte es ingesamt rund 20 Festnahmen gegeben haben. Gegen zwei Männer, die auf den Polizeiwagen geklettert waren, wird offenbar näher ermittelt.
Die Vorgeschichte
S. wird im Zusammenhang mit einem Angriff vom 27. Juni auf einen Bus mit homo- und transfeindlichen Botschaften aktive Beteiligung an einer Ausschreitung mit wissentlicher gemeinschaftlicher Gewaltausübung sowie Sachbeschädigung, Körperverletzung und Einschüchterung vorgeworfen. Für die einzelnen Taten sind maximale Freiheitsstrafen zwischen zwei und fünf Jahren vorgesehen. Die Staatsanwaltschaft bewertet die Tat zudem als Hooliganismus, was zu einer Erhöhung des vom Gericht zu berücksichtigen Strafrahmens führen würde.
Malgorzata S. (r.) mit Mitstreiterin bei einem CSD im letzten Jahr. Foto: "Stop Bzdurom"
Die Aktivistin war Mitte Juni aus einer Wohnung heraus von Zivilbeamten ohne Schuhe und ordentliche Bekleidung festgenommen, in einen unmarkierten Wagen gezerrt und zu einem Verhör gebracht worden (queer.de berichtete). Erst am nächsten Tag kam sie durch das Gericht frei. Den Antrag auf Untersuchungshaft begründete die Staatsanwaltschaft mit Flucht- und Verdunkelungsgefahr, die Aktivistin habe zudem keine Angaben zu den Vorwürfen gemacht. Die Art der Festnahme und die Untersuchungshaft werden von queeren Aktivist*innen, aber auch vielen Medien als unverhältnismäßig angesehen.
S. war in dieser Woche zu einem anderen Ermittlungsverfahren erneut unter ähnlichen Umständen auf der Straße festgenommen und mit zwei weiteren Aktivist*innen über Nacht festgehalten worden. Im Zusammenhang mit einer Regenbogenflaggen-Aktion an Denkmälern, darunter der Jesus-Statue an der Heilig-Kreuz-Kirche-Basilika, eine Woche zuvor wird ihnen die Verletzung religiöser Gefühle und die "Entehrung" von Denkmälern vorgeworfen – darauf können bis zu zwei Jahre Haft verhängt werden (queer.de berichtete). Für diesen Samstag waren in den letzten Tagen mehrere Soli-Kundgebungen zu "Stop Bzdurom" in Warschau und anderen Städten angekündigt worden.
Angriff auf Hassbus
Während der Denkmäler-Protest in der letzten Woche friedlich ablief und zu keinen Körperverletzungen oder Sachbeschädigungen führte, sieht die Aktion mit dem Hassbus anders aus. Dieser fährt mit unterschiedlichen queerfeindlichen Botschaften auf Transparenten und via Lautsprecher seit einiger Zeit durch polnische Städte und war im polnischen Präsidentschaftswahlkampf vor allem in Warschau aktiv (queer.de berichtete). Der Bus im Rahmen einer irreführend "Stop Pedofilii" genannten Kampagne gehört wie ähnlich krass-plakative Aktionen gegen Abtreibung zur Organisation "Fundacja Pro" unter Mitwirkung des ultrakatholischen Instituts "Ordo Iuris".
Die Ermittler werfen der Verdächtigen vor, während der Ausschreitung im Einvernehmen mit anderen Personen den Renault Master beschädigt zu haben, indem Reifen und Leinwand zerschnitten, der Spiegel zerbrochen, das Nummernschild abgelöst, die Rückfahrkamera beschädigt und das Fahrzeug mit Farbe beschmutzt wurde. Der Schaden werde auf rund 1.370 Euro beziffert.
S. habe zudem während des Vorfalls den Fahrer des Wagens auf dem Bürgersteig umgeworfen, wodurch dieser Verletzungen am Rücken und am linken Handgelenk erlitt. Auch habe sie Gewalt angewendet und ihn gestoßen, um ihn vom Filmen der Ereignisse abzuhalten. Von dem Vorfall existieren Videoaufnahmen. S. posierte später mit einem Nummernschild.
Der Hassbus fährt trotz diverser Strafanzeigen inzwischen weiter durch Warschau – teilweise unter Polizeischutz.
Update 8.8., 10.15h: Fast 50 Festnahmen
Berichten vom Samstagmorgen zufolge kam es zu 48 Festnahmen, die Menschen wurden auf diversen Wachen über Nacht festgehalten, während Anwälte, Politiker*innen und Angehörige nur spärliche Informationen über sie bekamen. Das Thema trendet aktuell unter diversen Stichworten bei Twitter in Polen.
Die Festnahmen erfolgten veröffentlichten Aufnahmen und Zeugenberichten zufolge teils brutal (bei der Auflösung der Sitzblockade etwa mit Würgegriff), teils beliebig (mindestens eine unbeteiligte Person wurde beim Einkauf, mindestens ein Journalist, vom queeren Magazin Replika, bei der Berichterstattung festgenommen), und teils hinterrücks – auch in einer Seitenstraße und auch vor einer Wache kam es zu Festnahmen. Die Polizei gibt an, den Personen werde etwa die Beleidigung von Beamten und Sachbeschädigung am Polizeiwagen vorgeworfen, dessen Sicherung das Hauptziel des Einsatzes gewesen sei. Einigen Festgenommenen wurde offenbar in Protokollen Fluchthilfe vorgeworfen, einige sollen vor einem Haftrichter landen.
Queere Organisationen rufen weiter zur Teilnahme an einer bereits vorab geplanten Kundgebung am frühen Samstagabend am Warschauer Kulturpalast auf. Auch in weiteren polnischen Städten sind Proteste geplant.
Update 8.8., 13.20h: Weitere Reaktionen und Entwicklungen
Der Grünenpolitiker Volker Beck hat die deutsche Bundesregierung zum Handeln aufgefordert und im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft gebeten, "diese homophoben Attacken auf die Menschenrechte der LGBT in Polen unverzüglich zu verurteilen, sich über die deutsche Botschaft in Warschau und durch Einbestellung des polnischen Botschafters in Berlin für die Freilassung von verhafteten LGBT einzusetzen und Polen aufzufordern, willkürliche und gewalttätige Maßnahmen gegen die Freiheiten von LGBT in Polen sofort einzustellen."
Der polnische Beauftragte für Bürgerrechte, Adam Bodnar, kündigte eine Untersuchung der Vorfälle des Vorabends an; Vertreter der Anti-Folter-Stelle seien dazu in Wachen vor Ort. Die Polizei habe Fragen zu beantworten zu den Umständen und Gründen der Verhaftungen, zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen und zur Achtung der Rechte von Inhaftierten auf Wachen. "In einem demokratischen, vom Gesetz geprägten Staat sollten alle Bürger – unabhängig von ihren Merkmalen, einschließlich sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität – ihre vollen Rechte mit einem Gefühl von Sicherheit und Würde genießen", so Bodnar, der bereits 2015 ernannt worden war und kürzlich Erfolge mit Klagen gegen "LGBT-freie Zonen" vorzeigen konnte (queer.de berichtete). "Ich möchte betonen, dass der Schutz dieser Sicherheit eine der Grundaufgaben der Polizei ist."
Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, schrieb bei Twitter auf Englisch und Polnisch, sie fordere die sofortige Freilassung von Margot S. Ihre Haft für zwei Monate stelle einen Abschreckungseffekt für Meinungsfreiheit und LGBT-Rechte in Polen dar.
Im polnischen Staatsfernsehen und durch Regierungsanhänger in sozialen Netzwerken wird das Vorgehen der Polizei hingegen verteidigt. So wird Margot S. häufig mit einem Video-Ausschnitt der damaligen Bus-Attacke als quasi schwere Gewalttäterin dargestellt – oft wird die nicht-binäre Aktivistin, die weibliche Pronomen bevorzugt, auch als männlicher Gewalttäter dargestellt. Auch werden vor allem Bilder gezeigt, wie am Freitag zwei LGBTI-Aktivisten kurz nach ihrer Verhaftung auf den Polizeiwagen kletterten, in dem sie festgehalten wurde. Hashtags dazu lauten etwa "#LGBTerror".
Zu einem der beiden Männer, die auf den Polizeiwagen geklettert waren, hieß es am Samstag, er sei festgenommen worden und niemand wisse, wo er sich derzeit aufhalte. Das berichtet die Abgeordnete Joanna Scheuring Wielgus, die sich mit weiteren linken Politiker*innen auf den Wachen um die Festgenommenen kümmert.
Der Vortag dominiert weiter das polnische Twitter, zu Hashtags wie #PolishStonewall und #Margot. In den sozialen Netzwerken häufen sich Bilder der Polizeigewalt bei der Auflösung der Sitzblockade.
Warschaus Bürgermeister, der im Präsidentschaftswahlkampf unterlegene Rafal Trzaskowski von der Bürgerplattform, kritisierte am Freitagabend die Verhaftung von S., deren Vorgehen (gegen den Bus) ein "Ausdruck von Hilflosigkeit und ein Schrei des Nicht-Einverstanden-Seins mit dem Akt des Hasses" gewesen sei. "Das Gesetz muss befolgt werden, aber das Gesetz muss immer die Schwächeren schützen." Trzaskowski zeigte sich "überrascht, dass in einem solchen Fall eine Verhaftung angewendet wurde. Ich glaube nicht an die Zufälligkeit der jüngsten Maßnahmen der Behörden und Strafverfolgungsbehörden." Die Regierung versuche "zynisch, die Situation in Polen zu entflammen und uns zu spalten und aufzustacheln. Was heute in den Straßen meiner Stadt passiert, ähnelt den Methoden der Vorzeit. Ich kann nicht akzeptieren, dass der harte Widerstand gegen die Hassrede und die Beleidigung von Menschen auf eine solche Reaktion der Behörden stößt."
Update 8.8., 17.45h: Stellungnahme der "Kampagne gegen Homophobie"
Die Kampagne gegen Homophobie hat inzwischen den Hashtag "#PolishStonewall" aufgegriffen und auf Polnisch und Englisch eine kämpferische Stellungnahme abgegeben.
Die polnische LGBTQIA-Bewegung wird sich für immer an die Ereignisse von gestern in der polnischen Hauptstadt erinnern. Schockierende Bilder von Polizeigewalt werden uns immer in Erinnerung bleiben. Das Gefühl von Stolz, Macht und Solidarität, das wir während der gestrigen Unruhen erlebt haben, wird in unseren Herzen bleiben. Kanonen wurden gegen den Regenbogen abgefeuert und es gibt kein Zurück.
Gestern, Freitag, den 7. August, erließ das Gericht ein empörendes Urteil: Es stimmte der Berufung der Staatsanwaltschaft zu und ordnete die Untersuchungshaft an für Margot, eine Aktivistin des queeren Kollektivs Stop Bzdurom, für zwei Monate wegen Körperverletzung und Zerstörung an einem homophoben LKW – der gleiche Van, der uns seit Monaten ungestraft ins Gesicht schreit, dass wir Pädophile sind. Sie tat, was die meisten von uns wollten, aber Angst davor hatten – sie begann sich selbst zu verteidigen, weil der Staat und die Behörden aufhörten, uns zu schützen.
Die Stellungnahme enthält eine nähere Schilderung der gestrigen Geschehnisse und folgert:
Was gestern passiert ist, ist nicht normal und es ist eine klare Verletzung der Menschenrechte.
Die gestrigen Unruhen sind das Ergebnis einer zweijährigen Kampagne gegen LGBT-Menschen in Polen. Es ist das Ergebnis einer dreisten Homophobie der Behörden, die nicht zögerten, Gewalt anzuwenden, um uns einzuschüchtern. Wir haben beispiellosen Missbrauch durch die Polizei und unverhältnismäßige Zwangsmittel erlebt. Wir sind ein Ziel anhaltender, eskalierender Gewalt.
Wir, die LGBTQIA-Gemeinschaft in Polen, haben genug von Unterdrückung, Einschüchterung und Aggression durch die polnischen Behörden und die Polizei.
Wir fordern den Staat und die internationalen Behörden auf:
1. Fordern Sie die Bezirksstaatsanwaltschaft in Warschau auf, Margots Haftbefehl aufzuheben.
- Bezirksstaatsanwaltschaft in Warschau, sekretariat@warszawa.po.gov.pl, Telefonnummer: +48 22 217 31 20
- Zbigniew Ziobro, Generalstaatsanwalt, zbigniew.ziobro@sejm.pl, Telefonnummer: +48 22 12 51 594
2. Fordern Sie die polnische Polizei auf, die während der gestrigen Demonstrationen inhaftierten Personen unverzüglich freizulassen.
- Oberbefehlshaber der Polizei. insp. Jarosław Szymczyk, kancelaria.gsp@policja.gov.pl, +48 22 25 00 112
- Minister für innere Angelegenheiten und Verwaltung Mariusz Kamiński, mariusz.kaminski@sejm.pl, +48 22 60 14 295
3. Fordern Sie die polnischen Strafverfolgungsbehörden auf, keine weitere Unterdrückung von Demonstranten vorzunehmen.
Die Regenbogenfahne und LGBT-Menschen werden jetzt zu einem neuen Symbol für den Kampf für Freiheit und Demokratie. Wir sind bereit für das polnische Stonewall: Sie werden uns nicht alle einsperren.
Die Warschauer Polizei arbeitet sich derweil in einer ungewöhnlichen Verteidigung seit einigen Stunden in ihren Kanälen in sozialen Netzwerken an Margot S. und Personen ab, die sie gestern festgenommen hat. Zu den Verdächtigen veröffentlichte sie dort etwa Videomaterial.
Update 8.8., 19h: Soli-Kundgebung in Warschau, weitere auch in Berlin geplant
Aktuell läuft am Warschauer Kulturpalast eine friedliche und von der Polizei ungestörte LGBTI-Kundgebung mit tausenden Teilnehmenden (FB-Streams 1, 2, 3); ähnliche Veranstaltungen gibt es bis Montag in mehreren polnischen Städten. Für Sonntag ist inzwischen eine Soli-Kundgebung in Berlin vor dem Polnischen Institut (Burgstraße 27) ab 20 Uhr geplant.

Auf der News-Webseite des polnischen Staatssenders TVP, unter der PiS-Regierung zu einer Art Mischung aus "Politically Incorrect" und gloria.tv verkommen, ist von den friedlichen Protesten derweil kaum etwas zu sehen. Mehrere Artikel arbeiten sich weiter an Margot S. ab, als wäre sie die gewalttätigste Person der letzten Monate. Mariusz Dzierzawski von Ordo Iuris und der Anti-Abtreibungsorganisation Pro, die für den Hass-Bus verantwortlich sind, wird dabei in einer Überschrift mit dem Begriff "Regenbogen-Banditen" zitiert – diese bekämen nun ihre gerechte Strafe.
Gegen Samstagabend wurden die ersten festgenommenen Aktivist*innen vom Vortag freigelassen. Das Portal oko.press hat einen umfassenden englischen Bericht über die Polizeigewalt, die sich später auf und vor den Wachen fortsetzte, veröffentlicht.
Update 9.8., 19h: Untersuchungshaft hat begonnen
Nach Angaben des polnischen Bürgerrechtsbeauftragten befindet sich Margot S. in einer auf Untersuchungshaft ausgelegte Einzelzelle in der Stadt Plock und werde ordnungsgemäß behandelt. Alle übrigen am Freitag festgenommenen Personen wurden offenbar bis Samstagabend freigelassen. Zum Teil erheben sie Vorwürfe von Beleidigungen, Gewalt und unrechtmäßigem Handeln gegen die Polizei.
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