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Literatur
Homoerotik auf hoher See
In "Mein Bruder Yves", einem der frühen homoerotischen Romane aus Frankreich, erzählt Pierre Loti autobiografisch von der innigen Freundschaft zwischen einem beherrschten Offizier und einem dem Alkohol sehr zugeneigten Matrosen.

Pierre Loti, als Louis Marie Julien Viaud 1850 in Rochefort geboren und 1923 in Hendaye (Pyrenäen) gestorben, gilt mit seinen mehr als zwei Dutzend Romanen und Reiseberichten vor allem als Vertreter eines literarischen Exotismus
19. September 2020, 04:24h 3 Min. Von
Was muss es romantisch gewesen sein, das Leben der Seefahrer und Matrosen. Bevor es riesige Containerschiffe gab, die in wenigen Stunden ent- und wieder beladen werden, und weiter zum nächsten Umschlagplatz rauschen. Als es noch eine echte Lebenseinstellung war, zur See zu gehen, als man Monate unterwegs war, die Heimat und Familie nicht gesehen hat. Und die Mannschaft zur Ersatzfamilie wurde.
In dieser aus heutiger Sicht zumindest teilweise verklärten Welt, in der "unsere Fahrt wie das Schweben eines Vogels" war, spielt Pierre Lotis Roman "Mein Bruder Yves" (Amazon-Affiliate-Link ). Pierre, ein Offizier und Ich-Erzähler, der den nur wenige Monate jüngeren Yves unter seine Fittiche nimmt. Das kann der junge Mann nur allzu gut gebrauchen. Eigentlich ein ordentlicher Matrose, der seine Aufgaben sorgfältig erledigt, wird er an Land – und nach ausreichend Alkohol, zu dem er nie Nein sagen kann – zum Rüpel. Immer wieder kommt es zu Tumulten, da klirren Scherben, es wird sich wegen Kleinigkeiten geprügelt. Yves wird dann in Ketten gelegt oder muss einen Dienstgrad abgeben.
Eine klassische Lehrer-Schüler-Beziehung

"Mein Bruder Yves" ist in der Bibliothek rosa Winkel bei Männerschwarm erschienen
Es entwickelt sich eine brüderliche Vertrautheit, die hier und da, durchaus subtil, homoerotisch durchscheint. Besonders dann, wenn Pierre ihn fast wie einen Schüler behandelt, und alleine schon durch die unterschiedlichen Reifegrade der zwei Männer eine klassische Schüler-Lehrer-Beziehung anklingt, noch dazu voller Verantwortung, die der Ältere übernimmt, wie er Yves' Mutter versprochen hat. "Der arme Yves, der wie so oft wie ein verzogenes, eigensinniges Kind behandelt werden muss", notiert Pierre.
"Mein Bruder Yves" ist einerseits Reiseroman, Pierre Loti erzählt von Schiffsreisen um die ganze Welt, vom Leben an Bord, einer ganz eigenen Welt, mit Traditionen und Bräuchen. Und doch nimmt die Zeit in der Bretagne, wo Yves bald eine Frau heiratet, ebenso viel Raum ein. Über Pierres Familie und Heimat erfahren wir erstaunlicherweise nichts, vielmehr verbringt er viel Zeit auf dem Land mit Yves, wo er Dorffesten und anderen Alltäglichkeiten beiwohnt.
Eine Geschichte, die es heute nicht mehr geben kann
So vergeht kaum ein Tag, den die zwei Freunde nicht miteinander verbringen, der Offizier wird wichtigste Bezugsperson für den Matrosen. Und wenn sie auf unterschiedlichen Schiffen unterwegs sind, schreiben sie sich Briefe, in der sie einander ihre Liebe versichern. "Wie schön und vergnügt sie ist, die Bretagne, und wie grün in der Junisonne", lautet Pierres Urteil über die Heimat seines Freundes und Bruders Yves.
Pierre Loti erzählt scheinbar ohne Ziel, ohne Dramaturgie oder Spannungsaufbau, eher in einzelnen, kurzen, manchmal belanglosen Episoden. Ausführlich beschreibt er das Meer, die "glühwürmchenartige Helligkeit", die es erfüllt, die vorbeifliegenden Fische. Viel mehr anderes gibt es aber ja auch nicht auf hoher See. Wie er diese ewigen Weiten darstellt, ist pure Entschleunigung. Manchen wird aber auch zu wenig passieren in den meist kurzen Kapiteln.
"Mein Bruder Yves", zur Zeit der Veröffentlichung ein Bestseller, ist eine Geschichte über eine innige Freundschaft, über den Zusammenhalt fernab der Heimat und Familie, über Verantwortung und Schicksale in einer Zeit, die weit weg und lange untergegangen ist. Eine Geschichte, die es heute nicht mehr geben kann.
Pierre Loti: Mein Bruder Yves. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Robert Prölß. Vor-/ Nachwort: Wolfram Setz. Bibliothek rosa Winkel Bd. 77. Taschenbuch. 312 Seiten. Männerschwarm (Salzgeber Buchverlage). Berlin 2020. 20 €. ISBN 978-3-86300-077-6

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